Jedes Jahr, wenn die neuste Armutsstatistik erscheint, sind sie so sicher wie das Amen in der Kirche: Kommentare, meist aus der Politik oder Wirtschaft, dass die Armutsmessung keine exakte Wissenschaft sei und dass das Armutsrisiko in Luxemburg aufgrund der insgesamt hohen Löhne und Transferleistungen tendenziell übertrieben werde. Wohlfahrtsverbände wiederum beharren sich darauf, dass die Armut hierzulande wegen der hohen Lebenshaltungskosten eher unter- als überschätzt werde.
Eine neue Studie des Statistischen Amts Statec ist jetzt der Frage nachgegangen, was es für ein sogenanntes anständiges Leben braucht und hat errechnet: Ein Paar mit zwei Kindern braucht 4 079 Euro, um in Luxemburg angemessen leben zu können. Das Gros, nämlich, 38 Prozent dieses Einkommens und also 1 562 Euro geht für Miete (im städtischen Raum) drauf, für Lebensmittel braucht die Familie 922 Euro, 559 Euro sind für Erholung- und Freizeitaktivitäten veranschlagt.
Die Schlüsselfrage lautet freilich: Was bedeutet „anständig zu leben“ überhaupt? Ab wann ist das Geld so knapp, dass lebensnotwendige Ausgaben nicht mehr getätigt werden können, dass das Leben nicht mehr würdig ist und Armut droht? Woran wird sie gemessen? Das Armutsrisiko wird allgemein in Europäischen Einkommensstatistiken – und ergo auch in den offiziellen Statistiken der Regierung – mit 60 Prozent des mittleren Einkommens der gesamten Bevölkerung berechnet. Das waren 2016 hierzulande bei einer Familie mit zwei Kindern 1 690 Euro pro Erwachsenen.
Wissenschaftler des Statec hatten vor zwei Jahren, mit Hilfe von Experten, genauer zu bestimmen versucht, welche Produkte eine Person oder eine Familie braucht, um anständig zu leben. Sie stellten dafür einen Warenkorb zusammen, in dem sie Produkte und Leistungen legten, die sie als notwendig und unabdingbar einschätzten. Die Entscheidung, was notwendig ist und was nicht, ist nicht frei von Wertvorstellungen unserer (Konsum-)Gesellschaft. So gilt ein Telefon oder ein Computeranschluss inzwischen in den meisten Ländern der westlichen Welt zur Grundausstattung eines Haushalts.
In die Berechnung des Referenzeinkommens flossen Vorannahmen ein, die für den Blick auf Armut entscheidend sind. So setzten die Statistiker voraus, dass beide Eltern gesund und erwerbsfähig, und nicht etwa an chronischen Krankheiten leiden oder ein behindertes Kind im Haushalt lebt, was zusätzlichen Ausgaben bedeuten würde. Ebenso wurde davon ausgegangen, dass niemand in der Familie besondere Diäten folgen muss und dass mehrmals zu Mittag in der Kantine und abends zuhause gekocht und gegessen wird.
Selbst Entscheidungen über Grundbedürfnisse sind nicht frei von Rollenvorstellungen: So wird generell Männern ein geringerer Ausgabenposten für Hygieneartikel zugeschrieben als Frauen: Die Autoren zählten neben Seife, Zahnpasta, Shampoo, Binden und Makeup als unverzichtbares Utensil für Frauen. Hygieneartikel für die Menstruation werden in Luxemburg übrigens mit dem höchsten Mehrwertsteuersatz, den für Luxusartikel, belegt, ein Widerspruch, wenn das Statec sie für lebensnotwendig hält. Organisationen, wie das Planning familial, fordern, für diese Gebrauchsartikel den niedrigen Steuersatz von drei Prozent vorzusehen. So würden die Kosten für diesen Posten deutlich schrumpfen und das Geld wäre anderweitig verfügbar.
Manche Elemente des Warenkorbs wurden in der Arbeitsgruppe kontrovers diskutiert: Braucht eine Familie, um in Luxemburg ohne Armut leben zu können, ein Auto? Fanden die einen es zumutbar, einkommensschwache Familien auf den öffentlichen Transport zu verweisen, wollten andere die Mobilitätsfrage vom Wohnort abhängig machen: Lebt die Familie auf dem Land, wo lange Wege an der Tagesordnung sind? Zählt man zum anständigen Leben hinzu, ab und zu ins Kino oder ins Theater gehen zu können, dann geht das auf dem Land nur unter erschwerten Bedingungen. Am Ende einigte man sich darauf, die Kosten für die Anschaffung eines Gebrauchtwagens vorzusehen – ungeachtet des Wohnorts. Deutlich wird, wie schwierig die Einschätzung dessen ist, was zu den Grundbedürfnissen zählt.
In ihrer neuen Studie überprüften die Statistiker, wie Familien stehen, wenn ein Haushalt den unqualifizierten gesetzlichen Mindestlohn bezieht. Rechnet man staatliche Hilfen ein, Miethilfe, Teuerungszulage, Kindergeld und Steuerabschläge für Familien, deckt das Einkommen bei einer Familie mit zwei Kindern alle Grundbedürfnisse ab, das gilt aber nicht für Alleinerziehende und Alleinstehende. Das heißt, mit Referenzeinkommen als Bezugsgröße reichen Mindestlohn und staatliche Zuschüsse nicht aus, um ein anständiges Leben zu führen. as Phänomen bezeichnet die Soziologie deshalb als working poor. Verfügt ein Haushalt lediglich über Mindestlohn, Familienzulagen und Schulgeld, dann haben nur die Kinderlosen ein Einkommen oberhalb des Referenzeinkommens, Familien mit zwei Kindern, bei denen beide Partner erwerbstätig sind, haben ein Einkommen etwa in Höhe des Referenzeinkommens. Der Teil ihres Einkommens, der aus Erwerbsarbeit stammt, beträgt 83 Prozent des Referenzeinkommens.
Beim Referenzeinkommen ist auch Sparen vorgesehen, allerdings sind die neun bis elf Prozent es Gesamteinkommens, die ein Haushalt monatlich beiseite legen soll, nur realistisch, wenn nicht plötzlich größere Ausgaben anfallen. Was aber, wenn jemand chronisch krank wird, die Familie einen größeren Schaden zu bezahlen hat und dazu ein Kind neue Kleidung braucht? Das mathematische Modell sieht diese Ausgaben vor, aber verteilt die Belastung gleichmäßig auf die einzelnen Monate. Das Leben ist aber selten so schematisch und exakt berechenbar.
Eines wird klar: Die Armutsschwelle von 60 Prozent des Medianeinkommens liegt unterhalb es Referenzeinkommens. Und auch der gesetzliche Mindestlohn, ergänzt durch staatliche Hilfen, garantiert nicht automatisch ein Leben frei von Armut. Somit haben Kritiker, die sagen, Armut werde in Luxemburg unterschätzt, plausible Argumente – wenn man das Referenzeinkommen als Grundlage akzeptiert.
Denn diese Methode ließe sich ebenfalls hinterfragen: Die Statec-Experten haben sich wohl bemüht, die Grundbedürfnisse detailliert zu bestimmen und Aspekte wie die kulturelle Teilhabe oder Bildung sind in ihren Warenkorb eingeflossen. Trotzdem bleibt ihr Blick vorrangig ein ökonomischer: Im Mittelpunkt stehen Waren und monetäre Werte, nicht aber Chancen oder, –warum eigentlich nicht? – auch die Zufriedenheit und Selbsteinschätzung der Betroffenen.