Die Handelskammer, die Berufskammer aller Privatunternehmer mit Ausnahme von Handwerkern und Landwirten, hat sich damit abgefunden, dass die große neoliberale Wende, die manche von der DP/LSAP/Grüne-Koalition erwartet hatten, abgesagt ist. So lange der Körperschaftssteuersatz sinkt, nimmt sie auch in Kauf, dass niemand auf sie hört, wenn sie routinemäßig am Sozialstaat herummäkelt.
Doch nun beunruhigt das hohe Armutsrisiko im Land die Handelskammer: 18,7 Prozent der Bevölkerung waren laut amtlichen Angaben im Jahr 2017 „dem Armutsrisiko ausgesetzt“, wie es euphemistisch heißt. Wenn fast jeder Fünfte arm oder von Armut bedroht ist, muss die Kammer sich auf Vorwürfe gefasst machen, dass die Löhne zu niedrig sind. Und sie befürchtet, dass die Regierungsmehrheit unter dem Druck der Öffentlichkeit zu viele Steuergelder für die Bekämpfung der Armut ausgibt oder, wie diese Woche, den gesetzlichen Mindestlohn erhöht.
Deshalb ließ die Handelskammer von ihrem Volkswirt Jean-Baptiste Nivet eine 188 Seiten lange Studie Pauvreté: de la juste mesure aux mesures appropriées anfertigen. Die Studie erklärt der Statistik über das Armurtsrisiko den Krieg: „Le ‚despote‘ taux de pauvreté règne sur les débats“ (S. 30). Er soll entthront und durch andere Statistiken ersetzt werden.
Diese Armutsrate entspricht aber streng der EU-Norm, laut der arm oder von Armut bedroht ist, wessen Einkommen unter 60 Prozent des Medianeinkommens lag. Laut Statec waren das im Jahr 2017 genau 1 804 Euro. Die Handelskammer findet das absurd. Denn „[l]e taux de risque de pauvreté est plus élevé au Luxembourg qu’en Hongrie“ (S. 20). Ihr Ziel ist es, die Armen mit anderen Armen statt mit den Reichen zu vergleichen.
Wenn das Armutsrisiko steigt, heißt das nach Ansicht der Handelskammer nicht, dass die Zahl der Armen zunimmt, sondern dass ihr Anteil sich dem europäischen Durchschnitt nähert: „Cette évolution illustre bien davantage une certaine croissance des inégalités, qu’un développement de la pauvreté” (S. 35), wobei „la financiarisation de l’économie du Grand-Duché a eu un impact sur les inégalités au Luxembourg“ (S. 40). Die Zunahme der Einkommensunterschiede soll man aber nicht unbedingt negativ sehen, denn „[l]e renforcement de la concurrence entre économies, notamment dans le but d’attirer les capitaux et les talents, et la volonté, nécessaire comme indispensable, du Luxembourg de poursuivre la diversification de son économie sur des niches de croissance hautement productives pourraient mener à une nouvelle hausse des inégalités dans le pays” (S. 9).
Deshalb fordert die Handelskammer in ihrer Studie einen Paradigmenwechsel im Kampf gegen die Armut. Das Armutsrisiko soll durch andere Statistiken ersetzen werden, die eine deutlich niedrigere Zahl von Armen ausweisen. Niedrigere Armenzahlen können dann eine „plus grande sélectivité sociale“ (S. 18), das heißt weniger Sozialausgaben für weniger Arme rechtfertigen.
Die Studie macht gleich ein halbes Dutzend Vorschläge, wie die Armen anders gemessen werden können. Etwa mittels eines weit engeren Index aus anhaltender Armut und schlimmer Entbehrung, der zudem das verhasste Armutsrisiko auf einen sportlichen „score de pauvreté“ (S. 150) senken soll. Oder mit einem mehrdimensionalen Index aus Einkommen, Beschäftigung, Bildung, Wohnen, Gesundheit und Lebensumständen sowie einer durchschnittlichen Metarate mehrerer anderer Indizes und einem Index der jährlichen Entwicklung eines Mindesteinkommens.
Wichtig ist der Handelskammer beim Paradigmenwechsel auch: „Le mélange entre les notions de ‚pauvreté‘ et ‚d’inégalité‘ est l’un des amalgames qui tendrait à noyer le poisson ‚pauvreté‘ dans des notions plus larges“ (S. 135). Denn Armut wird als Unglück, Ungleichheit als Ungerechtigkeit empfunden. Erstere scheint mit karitativen und disziplinarischen Maßnahmen bekämpfbar, letztere wirft politische Fragen auf.
Zum Paradigmenwechsel gehört schließlich, dass Arme keinesfalls mehr verdienen dürfen. Denn „[i]l faut surtout envisager les conséquences importantes d’une hausse généralisée des bas salaires sur la compétitivité des entreprises et sur le marché de l’emploi“ (S. 173). Nach Ansicht der Handelskammer sind nicht die von ihren Mitgliedern gezahlten Löhne zu niedrig, sondern die von den Immobilienbesitzern kassierten Mieten zu hoch. Das gehört statistisch gelöst durch „l’utilisation du taux de risque de pauvreté après coût du logement, et sa ventilation selon le statut d’occupation du logement“ (S. 107) und wirtschaftlich durch staatliche Intervention auf dem Wohnungsmarkt, um eine weitere Verteuerung der Arbeitskraft zu verhindern. Jene Arme, die noch keine Working poor sind, sollen diszipliniert und dazu gebracht werden, jede Lohnarbeit anzunehmen, und die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt vergrößern.
Am Ende will die Handelskammer die Armut mit den Mitteln des Managerismus und einer Quadripartite verwalten. Die vielen Indizes sollen in einem „Dashboard“, einem Armaturenbrett zur Steuerung der Armut, nach präzisen Vorgaben vereinigt werden, wie der Reduzierung des Armutsrisikos unter Ausschluss der Wohnkosten um ein Drittel oder der Beseitigung der Kinderarmut bis 2030.
Weil die Handelskammer in sozialpolitischen Fragen nicht den besten Ruf genießt, sucht sie nach Verbündeten, um ihren Paradigmenwechsel bei der Messung und Verwaltung der Armen durchzusetzen. Dazu hatte sie nach der Veröffentlichung ihrer Studie vor drei Monaten diese Woche Familienministerin Corine Cahen (DP) und zwei Dutzend Forscher und Sozialarbeiter, aber keine Arme, zu einer Konferenz „Quels remèdes contre la pauvreté?“ eingeladen.
Im Grundsätzlichen waren sich die Handelskammer und ihre Gäste durchaus einig. Angefangen beim Verzicht darauf, ihr Studienobjekt Armut näher zu definieren, denn so lässt es sich als sozialpolitische und nicht als wirtschaftliche Frage behandeln. Doch vielleicht ist Armut auch in dem angeblichen Mittelschichtenparadies Luxemburg eine Voraussetzung für Reichtum. Schon vor 300 Jahren hatte Bernard Mandeville in The Grumbling Hive das Luxemburger Modell erahnt: „Bare Virtue can’t make Nations live / In Splendour; they, that would revive / A Golden Age, must be as free, / For Acorns, as for Honesty.”
Einer Meinung waren auch die Forscher und Sozialarbeiter mit den Handelskammer-Ökonomen Jean-Baptiste Nivet und Christel Chatelain in der Vorstellung von der „sozialen Ausgrenzung“, dass Arme bedauernswerte oder moralisch verwerfliche Einzelschicksale am Rand einer horizontalen Gesellschaft sind. Nicht aber Fraktionen von Klassen und Schichten am Fuß der gesellschaftlichen Hierarchie, Arbeiter und kleine Angstellte, die den Risiken des Lohnarbeitsverhältnisses erliegen, wenn sie ohne Beschäftigung sind, geschieden oder chronisch krank werden, aber auch faktisch ruinierte Selbstständige und Landwirte.
Doch am Ende stießen die Vorstellungen der Handelskammer vor allem auf höfliche Ablehnung. Selbst Familienministerin und DP-Präsidentin Corine Cahen, die gerade die RMG-Bezieher mit dem Revis für den Arbeitsmarkt zu „aktivieren“ versucht, fand die Forderung illusorisch, alle Armen in ein Arbeitsverhältnis zwingen zu wollen. Eine alleinerziehende Mutter, die fern von einer Arbeit wohnt und nach Feierabend Büros putzen soll, habe gar nicht die logistischen Möglichkeiten, einer Arbeit nachzugehen.
Alexandra Oxacelay von der Stëmm vun der Strooss wehrte sich dagegen, dass die Armut minimisiert werden soll: Ihre Obdachlosenhilfe gebe täglich 400 Mahlzeiten aus, inzwischen gebe es extrem Arme, die sich nicht einmal mehr in die großen Unterkünfte wagten, wo das Recht des Stärkeren herrsche.
Anne-Catherine Guio, Forscherin am Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (Liser), und Robert Urbé von der Caritas verteidigten die Statistik des Armutsrisikos und hielten eine allzu selektive Sozialpolitik für gefährlich, weil sie den Konsens um den Sozialstaat zerstöre. Energisch widersprach Robert Urbé den Ökonomen der Handelskammer, laut denen es hierzulande so gut wie keine Working poor gebe.
Vielleicht hatte sich die Handelskammer ganz einfach verrechnet, als sie ihre Gäste einlud, die sozialen Probleme herunterzuspielen, denen sie täglich ausgesetzt sind, oder auch nur zu helfen, den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen.