Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel wurde in Abwesenheit von einem türkischen Gericht zu zwei Jahre neun Monate und 22 Tage Haft verurteilt. Angeblich habe er Terrorpropaganda betrieben. Das Urteil überraschte niemanden. Nicht weil er schuldig ist. Sondern weil der Gerichtsprozess von Anfang an ein politischer Schauprozess war. Die türkischen Richter bewerteten ein Interview Yücels mit den Führern der seit mehr als 35 Jahren gegen die türkischen Truppen kämpfenden kurdischen Guerillaorganisation Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), das in einer deutschen Zeitung veröffentlicht wurde, als Propaganda.
Die anfänglichen Vorwürfe gegen Yücel, er habe auch die Gülen-Bewegung unterstützt, wiesen die Richter hingegen ab. Sie waren auch höchst unglaubwürdig. Denn es braucht viel Phantasie um sich den eher als Linker bekannten Yücel, als Unterstützer einer islamischen Organisation vorzustellen. Der Vorwurf der Spionage wies das Gericht ebenfalls zurück. Warum wurde der damalige Istanbul-Korrespondent Yücel dann überhaupt verurteilt, könnte man sich fragen. Die Antwort liegt in den deutsch-türkischen Beziehungen, am Charakter des Regimes in Ankara und der Sackgasse, in die sich dieses Regime hineinmanövriert hat.
Nach dem erfolglosen Putschversuch im Sommer 2016 flüchteten dutzende Anhänger der Gülen-Bewegung nach Deutschland. Sie genießen dort politisches Asyl. Viele von ihnen waren in ihrem Land Offiziere, Richter, Staatsanwälte oder Unternehmer. Mehrmals forderten Vertreter des türkischen Regimes die Bundesregierung dazu auf, sie abzuschieben. Vergeblich.
Heute weiß man, dass Ankara Yücel gegen manche Gülenisten „eintauschen“ wollte. Vor allem deshalb hatten die Machthaber in Ankara den ohnehin unbeliebten Journalisten verhaften lassen. Doch Yücel lehnte solche Deals ab. Er bestand auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Regeln. Hinzukommt, dass Yücel nach seiner Freilassung und Rückkehr nach Deutschland dem Regime keine Ruhe gegeben hat. Er machte publik, dass er im Gefängnis misshandelt wurde und bezeichnet die ganze Affäre als politischer Schauprozess. Er schrieb ein Buch über seine Verhaftung und die Haftzeit und titelte es „Agentterrorist“. (So hatte ihn damals der türkische Staatpräsident Recep Tayyip Erdogan öffentlich bezeichnet.) Darin wirft er dem türkischen Regime vor, seinen Fall für eine innenpolitische Kampagne missbraucht zu haben.
Keine zwei Stunden nach Bekanntwerden des Urteils gab Yücel ein Interview im türkischen Online-Magazin T24. Er erinnerte daran, dass zuvor das türkische Verfassungsgericht alle seine Berichte geprüft hat und zum Ergebnis gekommen ist, sie seien von der Presse- und Meinungsfreiheit gedeckt. Yücel folgert daraus: „Das türkische Gericht hat das geltende Recht gebrochen.“ Über die Hintergründe seiner Entlassung sagte er, die Richter hätten zugegeben, dass auch sie nicht wussten wie es weitergehen solle, sie hätten auf Anweisungen gewartet.
Deniz Yücel beschuldigt aber nicht nur das Gericht. Im T24-Interview betonte er, dass der Prozess von Erdogan höchstpersönlich angeordnet und geführt worden wäre. In Verhandlungen mit dem damaligen deutschen Außenminister Sigmar Gabriel habe Erdogan zwei Bedingungen für seine Freilassung gestellt, erklärte Yücel. Er hätte sofort und ohne sich öffentlich zu äußern das Land verlassen müssen. „Nicht nur meine Verhaftung war unrechtmäßig“, sagte Yücel, „sondern auch meine Entlassung.“ Denn es sei keine Entscheidung des Gerichtes gewesen. Erdogan habe ihn, „den gebürtigen türkischen Staatsbürger“ dazu gezwungen das Land zu verlassen.
Die makabren Vorgänge, die Deniz Yücel beschreibt, sind in der Türkei weitgehend bekannt. In dem EU-Beitrittskandidaten Türkei gibt es seit einigen Jahren keine unabhängigen Gerichte mehr. Fast täglich werden neue Gerichtsprozesse gegen Journalisten, Menschenrechtler oder Oppositionelle eröffnet und bei all diesen Prozessen ist deutlich, wer im Hintergrund die Strippen zieht: der Autokrat Erdogan und seine Handlanger.
Andererseits ist Erdogan inzwischen selbst zu einem Gefangenen geworden. Denn seine Partei verlor längst die Massenunterstützung, die sie früher genoss. Deshalb kann er sich nur durch die Unterstzützung der faschistischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP) an der Macht halten, die im deutschsprachigen Raum als Graue Wölfe bekannt sind.
Die inoffiziellen Koalitionspartner befürworten eine immer härtere Haltung gegen jegliche abweichende Meinung im Land. Das wiederspiegelt sich an der Zahl der verhafteten Journalisten. Reporter ohne Grenzen (RoG) berichtet aktuell von 22 Fällen. Der bekannteste davon ist Ahmet Altan – ein langjähriger Journalist und ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung Taraf. Altan hatte als Chefredakteur Erdogan gnadenlos kritisiert. Inzwischen wurde Altan, der kurz nach dem Putschversuch verhaftet worden war, zu zwei mal lebenslängliche Gefängnisstrafe verurteilt. Nachdem das türkische Verfassungsgericht 2018 seine Freilassung anordnete, wurde er für einige Tage unter Auflagen freigelassen, jedoch gleich wieder inhaftiert. Auch hinter dieser Entscheidung steht der selbe Name: Erdogan.
Dass RoG „lediglich“ 22 verhaftete Journalisten erwähnen, ist tückisch. Um jeglichen Missverständnis zu vermeiden, fügen sie daher hinzu: „In Dutzenden weiteren Fällen ist ein direkter Zusammenhang der Haft mit der journalistischen Tätigkeit wahrscheinlich, lässt sich aber derzeit nicht nachweisen, denn die türkische Justiz lässt die Betroffenen und ihre Anwälte oft für längere Zeit über die genauen Anschuldigungen im Unklaren.“
Auch der Interviewpartner Deniz Yücels, Murat Sabuncu, gehört zu den Verfolgten. Er saß über ein Jahr im selben Gefängnis wie Yücel, wo sie sich kennengelernt haben. Sabuncu wurde vor zwei Jahren zu 7,5 Jahre Freiheitsstrafe verurteilt – wegen angebliche Unterstützung von Terrororganisationen. Sein Fall wird noch vor einem höheren Gericht verhandelt.