Drei Jahre nach der Vorstellung des Umnutzungskonzepts beginnt auf der Brache Esch-Schifflingen ein Tauziehen um den Erhalt von industriekulturellen Bauwerken. Dabei hatten Staat und Arcelor-Mittal das nach den traumatischen Erfahrungen von Belval eigentlich mit einem partizipativen Ansatz vermeiden wollen

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d'Lëtzebuerger Land vom 18.02.2022

Stahlkathedralen Zur städtebaulichen Entwicklung der 1997 stillgelegten Industriestandorts Belval hatten der Staat und die von ihm und der Arbed neu gegründete Gesellschaft Agora einen internationalen Wettbewerb ausgeschrieben. Im Dezember 2001 sollte eigentlich der Gewinner bekannt gegeben werden, doch keiner der Stadtplaner konnte den hohen landesplanerischen Anforderungen von Innenminister Michel Wolter (CSV) und dem Grundstückseigentümer Arbed vollends gerecht werden. Deshalb wurden drei Büros zurückbehalten, die ihre Entwürfe noch einmal überarbeiten sollten. Am 8. Februar 2002 erhielt schließlich der vom Büro Jo Coenen & Co. aus Maastricht entworfene Masterplan den Zuschlag der Jury, weil er die Einzigartigkeit des Projekts, seine Umsetzung in mehreren Phasen, die Verkehrsplanung unter besonderer Beachtung des öffentlichen Transports und die Finanzierbarkeit am stärksten berücksichtigt habe.

Sechs Jahre später zeigte sich der Architekt Rolo Fütterer von Jo Coenen & Co. in einem Interview mit dem Tageblatt entsetzt darüber, wie Agora und der vom Staat zur Verwaltung seiner Liegenschaften gegründete Fonds Belval mit den „Stahlkathedralen“ umgingen. Gemeint hat er die Hochöfen A und B, die unter Denkmalschutz gestellt worden waren, und deren „Terrasse“ eigentlich in weiten Teilen erhalten bleiben sollte. So sah es auch Fütterers Masterplan vor. Trotzdem wurden tragende Elemente wie der sogenannte Highway im Laufe der Jahre willkürlich abgerissen, weil sie angeblich nicht mehr in das Konzept passten oder weil ihr Erhalt dem Staat und Arcelor-Mittal zu teuer wurde. Wie das überhaupt möglich war, konnte sich auch Fütterer nicht genau erklären. Rechtliche Konsequenzen hatte die Zerstörung nicht, doch sie hat dem Ansehen von Belval geschadet und seit einigen Jahren investieren Agora und Fonds Belval viel Geld in Marketing, um die Trabantenstadt zwischen Esch und Beles nachträglich zu einer Erfolgsgeschichte zu verklären.

Das öffentliche Bewusstsein für Industriekultur ist in den vergangenen 20 Jahren gewachsen. 2019 haben die Vertreter mehrerer Einzelinitiativen sich zusammengetan und einen gemeinnützigen Verein zur Schaffung eines nationalen Zentrums für Industriekultur (CNCI) gegründet. Seine prominentesten Vorstandsmitglieder sind wohl der frühere Grünen-Abgeordnete Robert Garcia, der Historiker Denis Scuto und die Präsidentin der Unesco-Kommission, Simone Beck. Nach einem langen Tauziehen mit dem Staat gelang es dem CNCI, die Gebläsehalle auf Belval vorläufig vor dem Abriss zu bewahren. Auch auf der Brache in Düdelingen und auf der Lentille Terre Rouge in Esch/Alzette wurden mehrere Industriegebäude unter Denkmalschutz gestellt. Den vollständigen Erhalt der monumentalen Keeseminnen konnte das CNCI zwar nicht durchsetzen, doch immerhin steht davon noch die futuristisch anmutende Karkasse, die der Bauunternehmer Eric Lux in sein neues Viertel zu integrieren gedenkt.

Um zu vermeiden, dass ähnliche Auseinandersetzungen wie bei Belval entstehen, haben Staat und Arcelor-Mittal bei der Umnutzung der 61 Hektar großen Industriebrache Esch-Schifflingen im März 2019 einen partizipativen Ansatz gewählt. Bürgerinnen aus den beiden benachbarten Südgemeinden wurden dazu ermutigt, sich am Gestaltungsprozess des neuen Quartier Alzette zu beteiligen. Dieser Ansatz wurde insgesamt begrüßt und selbst die Denkmalschützer waren zuversichtlich, dass die Fehler von Belval nicht wiederholt werden würden. Schon früh betonten die Verantwortlichen von Agora und der grüne Landesplanungsminister Claude Turmes, die historischen Anlagen und Gebäude müssten in das neue Stadtviertel integriert werden, um die Identität des ehemaligen Industriestandorts zu bewahren. Auch der Entwurf des dänischen Büros Cobe, das vor drei Jahren den Wettbewerb für die städtebauliche Umsetzung gewann, sah den Erhalt und die Neunutzung vieler Industrieanlagen vor.

Vorbeugung Um trotzdem rechtzeitig auf Nummer sich zu gehen, reichte das CNCI vor zwei Jahren bei der Denkmalschutzbehörde (SSMN) eine Liste mit Bauwerken ein, die es als schützenswert erachtet. Am 20. September 2021 richtete die grüne Kulturministerin Sam Tanson an den Escher CSV-Bürgermeister Georges Mischo ein Schreiben, dem ein ausführliches Gutachten der Denkmalschutzkommission (Cosimo) anhing. Die Ministerin schlägt darin vor, 26 Gebäude und Anlagen als nationale Monumente zu klassieren.

Daraufhin hat die Stadt Esch zusammen mit Agora und der Gemeinde Schifflingen ein Gegengutachten bei Zeyen+Baumann (Z+B) in Auftrag gegeben. Das Ingenieurberaterbüro hat vor allem untersucht, in welchem Ausmaß der Erhalt der industriekulturellen Gebäude die bebaubare Fläche beeinträchtigen könnte und um wieviel die Kosten dadurch ansteigen könnten. Das Gutachten von Z+B kommt zu dem Schluss, dass acht der 26 von der Cosimo als erhaltenswert ausgewiesenen Bauwerke nicht mit der praktischen Ausführung des Masterplans vereinbar seien, vier würden sogar seine Umsetzung gefährden. Zu den acht Objekten gehören die Gasleitung, der Klärbehälter, das Stellwerk, die spektakulären Überreste der Mischanlage, die Walzwerkhallen 7-10, das Bürogebäude und das Laboratorium des Walzwerks, das Zentralmagazin und das Eingangsportal von Esch-Neudorf. Am 10. Dezember haben die jeweiligen Gemeinderäte von Esch und Schifflingen die Empfehlungen von Z+B mit den Stimmen der Mehrheitsparteien angenommen. In Schifflingen regiert die CSV mit den Grünen, in Esch herrschen CSV und Grüne in einem Dreierbündnis mit der DP.

Das CNCI tut sich insbesondere mit den Entscheidungen des Escher Gemeinderats schwer, denn über 90 Prozent der Brache und sieben der acht von Z+B als nicht erhaltenswert eingestuften Anlagen liegen auf Escher Gebiet. So hatte die Cosimo das Eingangsportal am Escher Neudorf als „national schützenswert“ ausgewiesen, doch Z+B hatte geurteilt, dass sein Erhalt dem Streckenbau des Bus à haut niveau de service (BHNS) im Wege stehe, der das Gelände ab 2028 durchqueren soll. Im aktuellen Masterplan (siehe Foto), der im Herbst 2021 aktualisiert wurde, taucht das Portal Esch bereits nicht mehr auf.

Das Bürogebäude und das Laboratorium des Walzwerks, wo Cobe eine Kindertagesstätte oder eine Bibliothek einrichten wollte, und die die Cosimo als „wichtige Zeugen der Industriegeschichte“ zu schützen empfahl, sind an eine Halle angebaut, die abgerissen werden soll. Bei dem Abriss bestehe die Gefahr, dass das Bürogebäude und das Laboratorium zusammenfallen, schreiben Z+B, deshalb müssten sie vorher gesichert werden, was jedoch sehr teuer werden könnte. Ein ähnliches Problem sehen Z+B beim Zentralmagazin und der Stützmauer, in denen Cobe kleine Läden und Ateliers unterbringen wollte. Auf diesen historischen Anlagen soll laut Masterplan ein neues Gebäude gebaut werden. Es sei nicht sicher, dass die alten Mauern dem Druck dieses Gebäudes standhalten, deshalb müssten zuerst Stabilitäts- und Statik-Analysen durchgeführt werden, bevor man sie klassieren könne, urteilen Z+B. Anders als beim Zentralmagazin haben Z+B und der Gemeinderat sich zwar für die Klassierung der Stützmauer ausgesprochen, doch sollen große Teile davon entfernt werden.

Zeitzeugen Jacques Maas, Vorstandsmitglied des CNCI, kann im Gespräch mit dem Land den seiner Ansicht nach leichtfertigen Umgang mit der historischen Bausubstanz nicht nachvollziehen. Eigentlich hätten Z+B beim Laboratorium und beim Zentralmagazin nicht nur Hypothesen erstellen, sondern ingenieurtechnische Prüfungen durchführen müssen, bevor sie ein Gutachten zu Statik und Stabilität abgeben, sagt der Historiker, der mehrere Texte zur Geschichte der inzwischen 150 Jahre alten Metze-schmelz veröffentlichte, die zwar seit zehn Jahren stillsteht, offiziell aber noch immer in Betrieb ist (eine Einstellung der Geschäftstätigkeit will Arcelor-Mittal in diesem Jahr einreichen). Maas versteht auch nicht, wieso der Escher Gemeinderat dem rein auf Kosten-Nutzen-Analysen beruhenden Gutachten von Z+B gefolgt ist und sich damit gegen mehrere Empfehlungen der Denkmalschutzbehörde gestellt hat, die historische und kulturelle Kriterien rein wirtschaftlichen und finanziellen vorzieht.

Nicht zuletzt kritisiert Maas die zum Teil willkürlichen Einschätzungen des Ingenieurbüros. Z+B hatten in ihrem Gutachten beispielsweise geurteilt, das Stellwerk im Nordosten der Brache solle nicht erhalten werden, weil es aus den 1970-er Jahren stamme und keine zentrale Funktion im Stahlwerk eingenommen habe. Die Cosimo hatte jedoch empfohlen, es als nationales Denkmal zu schützen, weil es ein wichtiger Zeitzeuge der Industriekultur sei. Die Gemeinde Schifflingen war zwar dem Rat von Z+B gefolgt, hatte im Dezember aber entschieden, das Stellwerk, das auf ihrem Gebiet steht, auf kommunaler Ebene zu schützen.

Die Stadt Esch hat ihrerseits noch keine solche Initiative ergriffen. Der Schöffenrat wolle am kommenden Donnerstag darüber beraten, ob er bestimmte Gebäude im PAG schützen will oder nicht, erklärte die kommunale Stadtplanerin Daisy Wagner auf Land-Nachfrage. Der inoffizielle „Industriekultur-Schöffe“ der Stadt Esch, André Zwally (CSV), hatte im Gemeinderat vom 10. Dezember bereits dargelegt, dass alle Schmelzen irgendwie gleich funktioniert hätten und es deshalb aus pädagogischer Sicht ausreiche, wenn je ein Element in der Region zur Verfügung stehe, mit dem man jüngeren Generationen die Abläufe in einem Stahlwerk erklären könne. Um zu zeigen, wie beispielsweise ein Kühlturm funktioniert hat, müsse man keine sechs Kühltürme erhalten.

Direkter formuliert es die Agora. Der Erhalt eines Industriegebäudes sei vor allem dann sinnvoll, wenn es neu und funktional genutzt werde und nicht der Schaffung von Wohnraum und Schulen im Weg stehe, erklärt ihr Verwaltungsdirektor Yves Biwer im Gespräch mit dem Land. Als Beispiel nennt Biwer die Klärbehälter, die Cobe als Pausenhof für die Grundschule nutzen wollte und laut Z+B in eine Parkanlage integriert werden könnten. Das Büro sprach sich trotzdem gegen ihren Erhalt aus, weil erst geklärt werden müsse, wer für die Folgekosten aufkomme. Diese Frage stellt Agora auch bei anderen Anlagen. Schließlich seien es am Ende die Gemeinden, die für den Unterhalt bezahlen müssten, sagt Biwer. Neben einem Lyzeum sieht der aktuelle Masterplan drei Grundschulen vor, zwei für die Stadt Esch und eine für die Gemeinde Schifflingen.

Die Ansicht, dass Denkmäler nicht nur Kosten generieren, sondern auch kulturelle, gesellschaftliche und ästhetische Funktionen erfüllen, vertreten offenbar nur das CNCI und die Denkmalschutzbehörde. Zurzeit liefen noch Verhandlungen zwischen dem SSMN und Arcelor-Mittal, um zu prüfen, welche Bauwerke in das neue Viertel integriert werden könnten, bestätigt SSMN-Direktor Patrick Sanavia dem Land. Nach diesem „Austausch“ werde die Kulturministerin ihre Entscheidung treffen. Sollte bei manchen Bauwerken keine Einigung gefunden werden, müsste sie unter Umständen den eher pragmatischen und ökonomischen Vorstellungen der auf staatlicher Seite dem grünen Landesplanungsminister Claude Turmes unterstehenden Agora widersprechen.

Blackbox Dieser Antagonismus ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass die Société de développement Agora sàrl. et Cie nicht alleine dem Staat, sondern zur Hälfte Arcelor-Mittal gehört. Der Vertrag, die beide Partner 2001 abgeschlossen haben, wurde nie veröffentlicht (vgl. d’Land vom 12.04.2019). Und auch sonst ist Agora weitgehend eine Blackbox. Seit rund zehn Jahren erzielt die Gesellschaft mit dem Verkauf von Grundstücken an private Immobilieninvestoren hohe Gewinne, die beständig gestiegen sind. Lagen sie 2014 noch bei 2,9 Millionen, waren es 2018 schon 17 Millionen und 2020 rund 22,5 Millionen Euro. Das Geld, das Agora in Belval erwirtschaftet, fließe in den Bau von Infrastrukturen im neuen Quartier Alzette, die dann der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt würden, heißt es offiziell von Agora. Nur die Strecken für die Tram und den BHNS sowie den Radexpressweg baue noch die Straßenbauverwaltung. Auch die Sanierung der kontaminierten Böden werde Agora zum größten Teil bezahlen, die Kosten dafür schätzt Biwer auf einen „zweistelligen Millionenbetrag“. Agora-Präsidentin Marie-Josée Vidal, Erste Regierungsrätin im Ministerium für Landesplanung, sagte im November 2020 dem Tageblatt, die Gewinnmarge von Agora liege bei 5 Prozent.

Anders als in Belval soll in dem als ökologisches, kreislaufwirtschafliches und autoarmes Modellviertel entworfenen Quartier Alzette auch erschwinglicher Wohnraum entstehen. Fast ein Drittel der insgesamt 400 000 Quadratmeter für Wohnraum vorgesehenen Bruttogesamtfläche soll subventioniertem Wohnen vorbehalten sein. Um selbst als sozialer Bauträger aktiv zu werden und für staatliche Wohnungsbaubeihilfen berechtigt zu sein, könne Agora sich vorstellen, eine eigene (gemeinnützige) Gesellschaft zu gründen, sagt Biwer. Beschlossen sei das aber noch nicht.

Bis 2040 oder 2045 sollen im Quartier Alzette 8 000 bis 10 000 Menschen wohnen. 2025 sollen die Bauaktivitäten beginnen, noch in diesem Jahr wollen Esch und Schifflingen in ihrem PAG die Umklassierung der Grundstücke in Bauland vornehmen und will Arcelor-Mittal die Brache in den Besitz von Agora überführen. Im Sinne der Bürgerbeteiligung ist der Standort aber jetzt bereits belebt. Im Bâtiment IV hat die Stadt Esch mit Hilfe der Œuvre nationale de secours Grande-Duchesse Charlotte und der Erlaubnis von Arcelor-Mittal die Vereinigungen Hariko, CELL, ILL und Richtung22 untergebracht; in der Zentralwerkstatt richtet Ferro Forum ein Dokumentationszentrum für Industriegeschichte ein; in Teilen der Stützmauer arbeitet das Künstlerkollektiv Cueva an einer Ausstellung, die am 27. März eröffnen wird, und in den Walzwerkhallen laufen die Vorbereitungen für die fünf Nuits de la Culture, die die Stadt Esch in diesem Jahr ausrichten will. Im Rahmen von Esch 2022 will Agora eine gesicherte Passage anlegen, die es Besuc.herinnen erlaubt, das Gelände mit seinen Attraktionen zu durchqueren. Im Laufe dieses Jahres will Agora auch wieder öffentliche Versammlungen veranstalten, bei denen Bürgerinnen ihre Vorstellungen über die weitere Entwicklung des Quartier Alzette vorbringen können. Am Arbeitstitel Quartier Alzette hatte sich insbesondere der Escher Schöffenrat gestört. Deshalb haben die Gemeinden im Herbst einen öffentlichen Wettbewerb lanciert, bei dem die Einwohnerinnen aus Esch und Schifflingen Vorschläge für einen neuen Namen für das Viertel einsenden konnten. Annahmeschluss war der 30. November. Der Hauptgewinn ist ein Elektroroller.

Luc Laboulle
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