„Ich hatte noch gesagt, schade, dass wir nicht im Festsaal Abschied nehmen können“, sagte ein sichtlich gerührter Claude Boever am Dienstag. Der Direktor des Atert-Lyzeums in Redingen geht Ende September in den Ruhestand. Seine Kolleg/innen ließen es sich nicht nehmen, ihm trotz Corona-Pandemie zu zu applaudieren. Also verlegten sie den Abschied kurzerhand nach draußen: Durch ein Spalier von 1 300 Schüler/innen und rund 130 Lehrer/innen schritt Boever am Vormittag und winkte nach rechts und links, fast wie ein kleiner König. Immerhin entstand das Regional-Lyzeum unter Boevers Führung und wuchs zur festen Größe im Osten heran.
Im Lycée Aline Mayrisch wird am selben Tag mittags keine Schulleitung verabschiedet, sondern ein Jahrgang, der an die Berufsschule wechselt. Damit die Schüler sich ein letztes Mal zusammen sehen, hat sie die Leitung gerufen. Unter freiem Himmel – mit der Ermahnung, jetzt nicht mehr zu reden – nehmen sie die Maske ab. Ein Klick, das Klassenfoto hält den Abschluss fest. „Damit haben die Jugendlichen trotz der Covid-Aufregung etwas in der Hand“, freut sich die Lehrerin. Denn aufgeregt bis besorgt sind sie. Wie es im September weitergeht, unter welchen Bedingungen der Unterricht wieder starten wird, weiß niemand. Die Infektionszahlen sind zuletzt gestiegen; das Gesundheitsministerium hat sie bisher nicht für das Bildungswesen aufgeschlüsselt. Jedoch waren 19,5 Prozent der zwischen 6. und 12. Juli positiv auf Covid-19 Getesteten zwischen fünf und 19 Jahre alt.
Diszipliniert Zwar hatte Bildungsminister Claude Meisch (DP) betont, die Ansteckungen seien bis auf zwei nicht abschließend analysierte Fälle nicht in der Schule erfolgt. D᾽Land weiß von zwei Lyzeen, wo Covid-19 positiv getestete Schüler aus einer Bezugsgruppe stammen. Haben sie sich in der Klasse, nach der Schule oder im erweiterten Schulkontext angesteckt? Zählt der Schulweg dazu oder nicht? Das zum Schutz und zum besseren Tracing gedachte Gruppenkonzept stößt nicht nur wegen der für die letzten zwei Wochen vor den Ferien zusammengelegten A- und B-Gruppen an Grenzen: Spätestens im Bus vermischen sich die Schüler/innen wieder. Sie gehen zusammen nachhause, machen Hausaufgaben oder verbringen ihre Freizeit zusammen.
„Unsere Schüler waren in der Schule sehr diszipliniert“, freut sich Claude Boever. Wie an vielen anderen Lyzeen durften sie zuletzt die Masken abzunehmen – sofern genügend Raum war, um den gebotenen Sicherheitsabstand von zwei Metern einzuhalten. Bestand ein Schüler auf den Mund-Nasen-Schutz im Klassensaal, behielten alle anderen ihre Masken auf. „Sie waren da sehr rücksichtsvoll.“
Ähnlich positiv fällt das Fazit des Erziehungsministeriums aus: „Die Schulen haben die Schutzmaßnahmen vorbildlich umgesetzt, manche sogar strenger als vom Gesundheitsministerium vorgegeben“, lobt Francine Vanolst, Leiterin der Grundschulabteilung, den Kraftakt des Lehr- und des technischen Personals, die sanitären Auflagen in der Schule umzusetzen. Geteilte Klassen, getrennte Pausen, Masken und Schals, Desinfektionsmittel und Lenksysteme durch das Gebäude – das ressourcenintensive Sicherheitssystem scheint in den Schulen aufgegangen zu sein. Zumindest für eine gute Weile. Denn jetzt, zu Beginn der Sommerferien, ist das Virus dabei, verstärkt zu zirkulieren, und davon ist auch die Jugend nicht ausgenommen. Oder wie es Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) am Mittwoch auf der Pressekonferenz beschrieb: „Wenn die jungen Leute vor allem Kontakte mit anderen jungen Leuten hatten, die dann isoliert werden, ist das Risiko niedriger.“
Minister Meisch hält trotzdem an einer „normalen Rentrée“ fest. Auf seiner letzten Pressekonferenz vor den Ferien, am 10. Juli, schilderte er, wie sein Ministerium „immer wieder neu“ abgewogen habe. Man sei schrittweise vorgegangen, habe sich zweieinhalb Monate Zeit gelassen, um die zunächst getrennten Klassen zusammenzuführen, um „zu lernen, mit dem Virus zu leben und Schule zu halten“. Meischs Fazit fällt positiv aus. Die Schulen könnten stolz sein, sie hätten ein „vollwertiges Abitur“ organisiert.
Lockdown nach den Ferien? Die steigende Zahl der Infektionen ficht den Minister nicht an: 60 Prozent der Covid-19-positiv Getesteten besäßen einen Führerschein. „Trotzdem denkt niemand, sie stecken sich im Auto an“, vergleicht er. „Ja, ein guter Teil davon sind Schüler. Aber das heißt noch lange nicht, dass deshalb die Schule daran schuld ist.“ Auch die Gesundheitsinspektion geht davon aus, dass außer bei zwei unklaren Fällen sich die Jugendlichen außerhalb der Klasse und der Schule ansteckten.
Für die Verantwortlichen in den Schulen ist das kaum ein Trost. Einige haben in den vergangenen Tagen plötzlich damit umgehen müssen, dass bei ihnen Kinder und Jugendliche positiv auf das Virus getestet wurden: erst einer, dann zwei, dann drei. Mehrere Klassen wurden in Quarantäne gesetzt, in der Stadt, im Süden und im Norden.
Auch wer sich nicht unmittelbar in Schadensbegrenzung üben musste, macht sich Sorgen um die Entwicklung – jetzt, wo Luxemburg (wieder) als Corona-Krisenregion gilt. Wie geht es nach den Ferien weiter, wenn die Kinder aus dem Urlaub, vielleicht sogar dem Ausland, zurückkommen? „Wir haben dazu bisher keine Informationen“, beklagt sich Alain Massen, Sprecher der nationalen Elternvereinigung. Die Eltern fordern Stundenpläne, je nachdem, wie sehr sich das Virus ausbreitet, ähnlich wie sie derzeit Schulen in angrenzenden Bundesländern aufsetzen.
„Uns ist kein solcher Plan B bekannt, weder für die Sekundarstufe noch für die Grundschulen“, schreibt Patrick Arendt von der Lehrergewerkschaft SEW. Man habe wohl einen Plan angefragt, damit sich die Schulen besser auf die Rentrée vorbereiten können und „nicht kurz vor dem Schulbeginn ein Riesenchaos“ entstehe. „Aber der Minister ist nicht darauf eingegangen.“ Auch dem SNE ist kein spezieller Plan für das nächste Schuljahr bekannt. „Wir bereiten uns normal vor“, heißt es am Atert-Lycée. Man werde aber die Zeit nutzen, um die Internetvernetzung besser zu organisieren. Schulen planen verstärkte Aktivitäten im Freien, etwa für den Sportunterricht oder den Accueil. Auf eigene Faust.
Noch kein Plan Die Antworten von Schulleitungen, die das Land kontaktierte, klingen alle ähnlich: Bisher sei „kein Notfall-Stundenplan vorgesehen, weil bislang keine Vorgaben aus dem Erziehungsministerium vorliegen“, schreibt ein Lehrer. Zu den neuen Testbedingungen, die die Gesundheitsministerin Paulette Lenert für die Rentrée angekündigt und für die ein Gesetzentwurf dem Parlament vorliegt (siehe Seiten 2-3), wisse er nichts. „Kein Plan fürs Tracing“, schreibt ein Direktor kurz und bündig. Seine Erklärung für die Informationslücke: „Im Augenblick macht das keinen Sinn. Unsere Schüler sind fort und dann kommt da noch das Chaos aus dem Ferienverhalten von den einen und anderen, sprich viele Neuinfektionen in allen Bereichen hinzu“. Dass die Teststrategie geändert wird, um vor und um den Schulbeginn gezielt Schüler und das Schulpersonal testen zu lassen, weiß der Direktor aus der Zeitung; Informationen aus dem Erziehungs- oder dem Gesundheitsministerium habe er dazu nicht erhalten.
Manche Schulen hatten vor den Ferien interveniert, um beim Large Scale Testing mitmachen zu können. Ohne Reaktion. Privatschulen, welche vom Luxemburger Bildungsministeriums erfasst werden, werden im Rahmen der schulspezifischen Teststrategie einbezogen. Alle Schüler/innen und Lehrer/innen seien über die sechs letzten Schulwochen angeschrieben worden; die Europa- und sonstige Privatschulen wurden im Rahmen des Kontingents der in Luxemburg lebenden oder arbeitenden Personen erfasst, heißt es. „Die ersten Resultate des Large Scale Testing werden zur Zeit ausgewertet, es liegen noch keine Ergebnisse zu den Schulen vor“, so Jasmin Schulz, Projektmanagerin am Luxembourg Health Institute, das das Testing verantwortet, die für weitere Details an die Gesundheitsbehörden verweist.
Info-Ping-Pong Was deutlich wird: Die Kommunikation zwischen Schulen, Gesundheitsinspektion und Ministerien läuft nicht immer rund. Als die Land-Redakteurin am 10. Juli in einem Tweet andeutete, der Erziehungsminister habe Daten zum Sars-CoV2 von den Gesundheitsbehörden, publiziere sie womöglich aber nicht, weil sonst seine Covid-Politik überprüft werden könne, erhält sie prompt einen empörten Anruf von Alex Folscheid, Regierungsberater im Schulministerium und Meischs rechte Hand. Er insistiert: Das Ministerium erhalte keine systematisch aktualisierten Schülerzahlen von der Santé.
Auf der Pressekonferenz am selben Tag indes präzisieren Jean-Claude Schmit, Direktor des Gesundheitsamts, und Ministerin Paulette Lenert: In einer Arbeitsgruppe, in der ebenfalls zwei Beamte des Erziehungsministeriums säßen, würden aktuelle Fälle und Daten täglich besprochen. Mit der Antwort wiederum konfrontiert, beharrt Folscheid: Seine Beamten lieferten der Arbeitsgruppe wohl alle gefragten Informationen, aber sie selbst bekämen keine über diesen Weg. „Je persiste et je signe !“
Die von ihm zur Unterstützung gerufenen Ministerialbeamten, Romain Nehs, zuständig für die Sekundarschulen, ebenso wie die Leiterin der Grundschulabteilung, Francine Vanolst, bestätigen im Interview die Existenz einer solchen Arbeitsgruppe, die ihnen zufolge auf ihre Initiative hin seit „letzter Woche“ bestehe und in der Beamten der Gesundheitsinspektion sich mit Beamten des Erziehungsministeriums über Corona-Lageberichte täglich austauschten. Laut Pressestelle des Gesundheitsministeriums existiert diese Schnittstelle seit 3. Juli. Dort würden aktuelle (auch schulbezogene) Fallzahlen übermittelt und Ergebnisse des analogen Tracing besprochen, sollte etwa ein/e Schüler/in oder Lehrer/in positiv auf Covid-19 getestet worden sein. Zuvor war das anders: Um Informationen und Daten zu positiven Fällen zu bekommen, rief das Erziehungsministerium in den Schulen an, aber auch die Direktionen seien nicht immer sogleich im Bild gewesen.
Am Ende klärt der Erziehungsminister selbst über den komplizierten Informationsaustausch auf: Verwirrung und Unruhe entstehe vor allem in der Zwischenzeit. „Eltern wissen als erste, ob ihr Kind positiv getestet wurde. Oft zirkulieren Geschichten schon auf den sozialen Netzwerken, bevor die Schulleitung einen Überblick hat“, sagte Claude Meisch dem Land. Zusätzliche zeitliche Verzögerungen entstünden beim Rückfluss von Informationen zu Quarantänemaßnahmen: „Wir können nicht sofort sagen, wie lange Schüler isoliert werden“, so Francine Vanolst. „Das ist eine Entscheidung der Santé.“ Da die Schulferien begonnen haben, „sind jetzt keine Klassen mehr in Quarantäne, sondern nur noch einzelne Kinder und Jugendliche“.
Schulleitungen erzählen dem Land indes im Off, sie würden coronabedingte Informationen lieber direkt von der Santé beziehen, weil sie im Erziehungsministerium keinen reaktionsfähigen Ansprechpartner hätten. Andere zeigen mit dem Finger auf die Santé: „Die Gesundheitsinspektion ist mit dem Tracing überfordert“, hatte Alex Folscheid gegenüber dem Land vergangene Woche gesagt. Dass die Rückverfolgung positiv getesteter Personen die Gesundheitsbehörden an Grenzen bringe, bestätigte Jean-Claude Schmit im Gespräch mit Radio 100,7 diese Woche indirekt: „Es fängt an, sportlich zu werden.“
Behörden überfordert? „Die politisch Verantwortlichen antizipieren nicht genug“, sagt ein Mitglied einer Schulleitung, das anonym bleiben will, zunehmend genervt über das Hin und Her. „Wie kann es sein, dass Schulen den Behörden Verdachtsfälle direkt melden, sie dann aber nicht zurückgerufen werden, um sie darüber zu informieren, wie sich die Fälle weiter entwickeln?“, fragt es. „Und warum wird erst jetzt das Inspektionspersonal aufgestockt?“
Was geschehen kann, wenn Schulen verfrüht öffnen, zeigt sich derzeit in Israel. Dort mussten angesichts steigender Infektionszahlen mehrere Schulen wieder schließen, nachdem die Regierung die Schulen während des ersten Corona-Ausbruchs rasch geschlossen hatte. Zu Beginn der Pandemie war Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu deshalb für sein rasches und entschiedenes Handeln gelobt worden, inzwischen steht er wegen seines Krisenmanagements zunehmend in der Kritik. Ihm werden zu schnelle Lockerungen und eine mangelnde Vorbereitung auf eine zweite Welle vorgeworfen.
Dasselbe droht jetzt Premier Xavier Bettel (DP) und seinem Parteikollegen. Es war Meischs Idee, nach einer Schulöffnung unter strengen Sicherheitsauflagen zunächst getrennte Klassen wieder zusammenzuführen. Dass es mindestens einen Plan B für die Rentrée brauchen wird, sollten die Infektionszahlen weiter steigen, sieht der Minister ein: „Vielleicht gibt es mehrere Szenarien.“ Man sei dabei, Pläne vorzubereiten. Zudem warte man die Analyse der Gesundheitsdaten ab, bekräftigt Sekundarstufen-Ableitungsleiter Romain Nehs. Eine genaue Evaluation stehe noch aus. Sie sei für August geplant. „Vorher machte sie keinen Sinn, solange die Schüler noch zur Schule gingen“, erklärt Vanolst. Man werde mit Stufenmodellen operieren und diese entsprechend den dann zum Zeitpunkt der Rentrée gemeldeten Infektionszahlen finalisieren. An erholsame Ferien ist also für die Beamten im Erziehungsministerium noch nicht zu denken. Und, wie es aussieht, an eine normale Schul-Rentrée sehr wahrscheinlich auch nicht.