Nur einen guten Monat hat es gedauert, und Luxemburg stürzte vom Vorbild zum Paria ab. Am
9. Juni hatte Le Monde das Großherzogtum als „laboratoire d’une gestion efficace du coronavirus“ gelobt. Doch dann erklärte vergangene Woche Belgien das Nachbarland zur „Zone orange“, gegenüber der eine „vigilance accrue“ geboten sei, und Dänemark setzte Luxemburg auf die Liste der „banned countries“. Die baltischen Länder verlangen von hier Einreisenden zwei Wochen Quarantäne ab, Norwegen auch. Besonders wehtut,, dass seit Montag dieser Woche Luxemburg auf der Corona-Karte des deutschen Robert-Koch-Instituts als kleine rote Insel inmitten des großen Europas auftaucht: Kein anderes Land hat mehr als 50 Neuinfektionen auf 100 000 Einwohner im Sieben-Tage-Schnitt, was zur Einstufung als „Risikogebiet“ durch die oberste deutsche Seuchenschutzbehörde führte und zu einer Reisewarnung durch das Außenministerium in Berlin. Damit ist nicht nur erst einmal wieder Schluss mit Einkaufsausflügen nach Trier. Luxemburg hatte mit seiner Corona-Strategie auch mindestens genauso gut, wenn nicht besser sein wollen als Deutschland.
Entsprechend groß ist die Aufregung in der Regierung. Auch wenn der deutsche Innenminister, der im März die Grenzen schloss, erklärt hat, das nicht wiederholen zu wollen – was auch die Landesregierungen von Saarland und Rheinland-Pfalz aufatmen lässt. Schließlich will niemand, dass es erneut so kommt, wie damals; nicht zuletzt der Wirtschaft wegen. Die Handelskammer Trier sorgt sich über ausbleibende Luxemburger Einkaufstouristen, die nun auf Verlangen einen negativen Corona-Test vorweisen müssen, der nicht älter ist als 48 Stunden.
Die Luxemburger Regierung suchte schon vergangene Woche nach geeigneten Erklärungen gegenüber dem Ausland, aber auch gegenüber ihren Bürgern, die ihre Ferienpläne in Gefahr sehen. Ob die Regierung ihre „Partner“ über die „spezifische Situation“ des Landes informiert habe, erkundigten sich vergangenen Freitagvormittag die LSAP-Abgeordneten Yves Cruchten und Mars Di Bartolomeo mit einer dringenden parlamentarischen Anfrage bei LSAP-Außenminister Jean Asselborn. Weil doch, meinten sie, das „Large-scale testing“, das seit Anfang Juni auf Initiative des Luxembourg Institute of Health läuft, die hohen Zahlen „erklärt“. Am Freitagabend sagte Asselborn im „Owesjournal“ von RTL, „wir wehren uns dagegen“, und „unsere Zahlen sind einfach deshalb so hoch, weil wir so viel testen“.
Doch „einfach deshalb“ sind die Zahlen nicht so hoch. Jedenfalls nicht, wenn man LSAP-Gesundheitsministerin Paulette Lenert glaubt, die es immerhin wissen muss. Vergangenen Freitagnachmittag, Stunden vor Asselborns RTL-Interview, bilanzierte sie, von den 289 Covid-positiven Laborresultaten, die es innerhalb einer Woche gab, gingen zwölf Prozent auf die Massentests zurück, die große Mehrzahl auf ärztlich verschriebene Routinetests. Als sie am Mittwoch dieser Woche mit Premier Xavier Bettel (DP) vor die Presse trat, konnte sie den Gesamtstand seit Einführung der landesweiten Großtests an den 17 Stationen mitteilen. Mit 15 Prozent Anteil „erklärt“ das Large-scale testing die hohen Zahlen aber nicht besser.
Und so rudert die Regierung zwischen Argumenten, die an Donald Trump erinnern, und dem Eingeständnis, dass die Infektionslage nicht gut ist. Der Sieben-Tage-Schnitt der Neuinfektionen betrug am Dienstag 64. Anfang Juni lag er im einstelligen Bereich. Die Zahl der aktiven Infektionen war am Dienstag mit 764 mehr als 30 Mal so hoch wie im Juni vor Aufhebung des Notstands, als sie um die 25 oszillierte.
Die Auffassungen, wie schlimm das ist, sind nicht ganz einheitlich. Jean-Claude Schmit, Chef des Gesundheitsamts und Virologe, sagte dem Land am Mittwoch, nachdem am Vortag 100 neue Infektionen gezählt worden waren: „Ich bleibe optimistisch, dass wir das Geschehen im Griff behalten“. Verglichen mit dem Ausbruch im März sei „die Kinetik der Kurve eine andere“. Damals habe es einen „exponenzielleren“ Zuwachs gegeben. Das zeige sich im Mittel über jeweils sieben Tage. So ähnlich drückte sich später auch der Premier aus: „Bisher ist der Anstieg linear. Die Zahlen sind hoch, aber der Anstieg ist linear.“ Den „Luxemburger Kontext“ werde er beim bevorstehenden EU-Gipfel erklären. Sämtliche Regierungsmitglieder täten das gegenüber ihren Amtskolleg/innen ebenfalls.
Doch zur Regierungsratssitzung am Mittwoch hatten die Modellierer der Taskforce Research Luxembourg der Regierung eine aktualisierte Simulation vorgelegt. Ihr zufolge klang die „erste Welle“ bis zum 25. Juni ab. Aber betrachte man, so die Modellierer, die Entwicklung seither und bis Mitte dieser Woche, dann weiche schon seit vergangener Woche die Entwicklung von einem „linearen“ Trend ab. Der Anstieg sei „zwar langsamer als Anfang März“, jedoch „eine recht klare Indikation einer zweiten Welle“.
Zweite Welle – das ist ein Begriff, den niemand mag. Die Regierung nicht, die einen erneuten Lockdown unbedingt vermeiden will. Die DP vielleicht insbesondere nicht, denn sie hält sich gern im Alles-wird-gut-Modus auf. Die Bürgerinnen und Bürger natürlich auch nicht, denn die Schulferien sind da, doch Xavier Bettel kündigte an, je nach Zahlenlage rufe er am Sonntag womöglich den Regierungsrat zusammen, damit der „weitere Schritte berät“. Ausgeschlossen ist es ja nicht, dass sich ein zweiter Ausbruch aufbaut. Der Direktor des Gesundheitsamts sagt, die neuen Infektionen würden sowohl in „Clustern“ gefunden – wobei sie bei mindestens drei Personen miteinander zusammenhängen –, als auch „sporadisch“ übers Land verteilt. Dass die Infektionen sich „schon in der Gesamtbevölkerung bemerkbar machen und nicht nur von Clustern getrieben werden“, ist für die Modellierer der Forscher-Taskforce ein weiteres wichtiges Indiz dafür, dass schon „von einer allgemeinen zweiten Welle“ auszugehen sei.
Die Frage ist natürlich, was daraus folgt. Dass sich, wenn ein Virus umgeht, Menschen anstecken, liegt auf der Hand, sofern man ihnen nicht Bleift doheem! befiehlt. Potenziell ist Luxemburg ähnlich gefährdet wie im März, denn ausschlaggebend ist weniger die Zahl neuer Fälle als die Beanspruchung von Krankenhausbetten und Intensivplätzen, weil die personalintensiv sind. Und ob die Sanitätsinspektion im Gesundheitsamt mit dem Contact tracing Infizierter nicht überfordert wird, denn das ist ebenfalls personalintensiv. Je 2 000 Kontakte seien in den beiden letzten Wochen nachzuverfolgen gewesen, sagte Paulette Lenert am Mittwoch. Das sei gerade zu schaffen gewesen, da sei bis in die Nacht telefoniert worden.
In den Krankenhäusern ist die Lage noch eine andere als im März. Im CHL, das mit dem nationalen Dienst für Infektionskrankheiten Covid-Patienten als erstes Spital empfängt, wurden seit Anfang Juli 25 stationär eingewiesen, erklärt Generaldirektor Romain Nati. Zwölf konnten wieder entlassen werden. Nati möchte über eine zweite Welle nicht spekulieren. „Die Patienten sind bisher jünger. Aber das war in der ersten Welle zunächst auch so, da brachten viele Skitouristen das Virus mit. Das waren keine Achtzigjährigen. Die kamen später.“ Covid-Intensivpatienten betreut das CHL zurzeit zwei. „Erfahrungsgemäß müssen immer mal Patienten auf die Intensivstation“, sagt der Direktor, der das offenbar nicht überbewerten will. Jedenfalls momentan nicht. Mit der Gesundheitsministerin haben Krankenhausverband und Ärzteverband einen Vier-Stufen-Plan abgemacht. Nur in der allergrößten Not sollen die Klinikaktivitäten auf das Allernötigste zurückgeschraubt werden wie Mitte März.
Mit Blick auf die Schwere der Erkrankungen sieht auch der Gesundheitsamtschef im Moment keinen Grund zu großer Sorge. „Zurzeit infizieren sich vor allem Jüngere. Der Altersschnitt liegt bei 34 Jahren, in der ersten Welle lag er bei 45 bis 46.“ Man könne zwar sagen, dass über kurz oder lang auch Ältere angesteckt würden. „Aber von denen, die wir in letzter Zeit in Hausquarantäne geschickt haben, sind nur fünf Prozent älter als 60. Das sind relativ wenige.“ Und wenngleich Jüngere Risikofaktoren haben könnten, sei das „selten“. Verstorben sei in Luxemburg seit Beginn der Epidemie nur ein Patient in den Fünfzigern.
Solche Feststellungen haben Gewicht, wenn es darum geht, eine Politik für die „zweite Welle“ zu entwerfen. Das geschieht auch schon, die Krisenzelle im Gesundheitsministerium wurde reaktiviert. Doch die parlamentarische Opposition warf der Regierung am Mittwoch in einer von CSV, ADR, déi Lénk und Piratenpartei gemeinsam abgehaltenen Pressekonferenz vor, noch immer „wie im Notstand“ zu agieren. Die Abgeordneten beschwerten sich, Modellierungen der Wissenschaftler-Taskforce spät zu erhalten, wichtige Informationen der Presse entnehmen zu müssen. Der Lénk-Abgeordnete Marc Baum bemerkte, es gebe Gerüchte, nach denen es Infektions-Cluster in Schwarzarbeiter-Unterkünften gab, wo viele auf engem Raum zusammenwohnen, sowie bei „Partys von Baulöwen“. Sollte das stimmen, sei eine Infektion mit dem Coronavirus eine „Klassenfrage“. Der ADR-Abgeordnete Gast Gybérien prophezeite: „Wenn die Regierung uns weiter Informationen vorenthält, macht sie sich verantwortlich für alles, was die Gerüchteküche künftig hergibt.“
Das ist nicht nur politisches Spiel. Denn nicht nur die Abgeordneten brauchen Informationen, um Entscheidungen zu fällen. Um die Entscheidungen verstehen zu können, brauchen auch die Bürgerinnen und Bürger Informationen. Damit tut die Regierung sich schwer, seit am 29. Februar der erste Covid-Fall registriert wurde. Nur nach einigem Überlegen rang die Gesundheitsministerin sich damals zur Auskunft durch, es handle sich „um eine Person in den Vierzigern“. Mehr könne sie wegen des Datenschutzes nicht sagen. Aber seitdem wurden immer wieder Informationen wegen des Datenschutzes oder der ärztlichen Schweigepflicht nicht publik gemacht. Dabei geht es gar nicht darum, Namen zu nennen oder im kleinen Land ihr Erraten möglich zu machen. Sondern um Transparenz zum Infektionsgeschehen, und um Erklärungen von offizieller Seite, auf welche Weise es wo zu Ansteckungen gekommen ist.
Das kann sogar wichtig sein für das für die Regierung so „strategische“ Large-scale testing: Der Virologe und Seuchenforscher Claude P. Muller zum Beispiel würde es für sehr wichtig halten zu erläutern, „wie viele Covid-Positive durch das Contact tracing von Personen gefunden wurden, die beim Large-scale testing Covid-positiv waren“. Denn die Massentests stehen auf zwei Beinen: Einerseits werden Infizierte direkt entdeckt, andererseits werden durch Nachverfolgung ihrer Kontakte zusätzliche Covid-Positive gefunden und in Quarantäne geschickt. „Diese Information könnte eine zusätzliche Motivation sein, um am Large-scale testing teilzunehmen“, findet Muller. Wichtig wäre auch zu wissen, wieviele Personen, die an den Großtests teilnahmen, tatsächlich keine Symptome hatten oder nur leichte und in diesem Fall welche. „Das würde die Bereitschaft von Personen mit geringen Symptomen erhöhen, sich testen zu lassen.“
Noch aber sind diese Informationen im Gesundheitsministerium nicht aufgeschlüsselt. Ähnlich wie andere „noch nicht aufgearbeitet sind“, wie Paulette Lenert vergangenen Freitag einräumte und es am Mittwoch wiederholte und um Verständnis bat. Doch die Erfahrung lehrt, dass der Ministerin Informationen auch immer wieder abgerungen werden müssen. Ob für sie nicht doch noch immer gilt wie zu Beginn der Krise: „Wir geben nur heraus, was nötig ist, und wenn etwas geleakt wird, ist es eben so“, bleibt noch zu zeigen. Dabei hat die Regierung kaum eine Alternative zu mehr Transparenz: Bleibt Sars-CoV-2 in Umlauf, lässt es sich nicht allein mit Vorschriften bekämpfen. Dann sind intelligente Ansätze nötig, um mit dem Virus zu leben, und die müssen verstanden werden. Alles andere infantilisiert die Menschen.
Und wie die Statistik des Large-scale testing bisher zeigt, wächst die Teilnahme daran zwar und lag vor einer Woche bei über 50 Prozent, wie die Taskforce mitteilte. Dem Entwurf für ein Gesetz, durch das eine „zweite Phase“ ab 1. September und bis ins nächste Jahr hinein mit 60 Millionen Euro aus der Staatskasse finanziert werden soll, ist aber zu entnehmen, dass sie seit Beginn der Tests und bis zum 6. Juli nur 17,5 Prozent betrug. Der Motivenbericht zum Gesetzentwurf nennt die Tests nicht nur wichtig, sondern „kritisch“ für die nächsten Monate. Garantiert werden soll ein „kontinuierliches Monitoring“ der Bevölkerung.
Ganz einfach ist es natürlich nicht, in einem kleinen Land wie Luxemburg für mehr Corona-Transparenz zu sorgen. Das zeigte sich bei den Diskussionen von Gesundheitsministerium und Innenministerium mit den Gemeinden und ihrem Verband Syvicol. Die Gemeinden sollen stärker in den Seuchenschutz eingebunden werden. Der frühere Hochkommissar für nationale Sicherheit Frank Reimen wurde dazu Verbindungsmann zum kommunalen Sektor. Aber während die Gemeinden mehr Informationen von den Gesundheitsbehörden wollen, um gezielt intervenieren zu können, und Syvicol-Präsident Emile Eicher sagt, „bei der Kommunikation ist noch Luft nach oben“, kam die Idee, die Infektionszahlen nach Gemeinden öffentlich zu machen, bei den Bürgermeistern nicht gut an. „Was brächte es, nur zu sagen, wo es Ansteckungen gab? Man müsste sagen, wo und wie“, findet Eicher, und trifft damit durchaus einen Punkt. Doch er lässt auch durchblicken, dass schon die Karte mit den Fällen nach Kanton, die seit Mitte dieser Woche publik ist, manche Gemeinden problematisch finden. „Das kann man verstehen wie Hinweise, wo es sicher ist.“ Ganz unrecht hat Eicher mit seinen Bedenken vermutlich nicht: Je länger Luxemburg auf Schwarzen Listen bleibt oder gar auf weitere gesetzt wird, umso lauter dürften die Leute zu wissen verlangen, wer ihnen den Sommerurlaub verdorben hat. Die Schaffung von mehr Transparenz müsste dann unter erschwerten Bedingungen erfolgen.