Anfang Juni, Bonneweg. Dum, dum, dum dum dum. Was sich zunächst als dumpfes, wenn auch rhythmisches Rumoren in nicht zu identifizierender Ferne erahnen lässt, wird von Minute zu Minute klarer. Spätestens dann, wenn die Blasinstrumente zu identifizieren sind, wird deutlich: Den Hämmelsmarsch ass ënnerwee! Aber nach der Kirmes ist bekanntlich vor der Kirmes. Wenn die Buden der Bouneweger Kiermes abgereist sind, steht kurz vor Herbstbeginn – und zum Leidwesen der Bewohner/innen des Limpertsberg – die Stater Kiermes, die Schueberfouer vor der Tür. Auch dann zieht die Bouneweger Musek durch die Straßen. Die Fanfare Municipale Luxembourg-Bonnevoie hat es sogar in ihrem Lastenheft stehen, bei offiziellen Feierlichkeiten zu spielen. Ob sie aber in ihrer Geschichte 250 Mal durch Bonneweg zog, ist zu bezweifeln. Nichtsdestotrotz feiert sie dieses Jahr ihr 125. Jubiläum.
Nebst dem jubiläumsüblichen Programm aus Konzerten und Veranstaltungen luden die Verantwortlichen am vergangenen 5. Oktober zu einer akademischen Sitzung im Quatsch, dem städtischen Konservatorium ein. Im Rahmen dieser Veranstaltung und dem ganz musischen Titel Blasmusik vermittelt Lebensfreude und Wohlbefinden wurden unter anderem die Resultate einer wissenschaftlichen Studie vorgestellt, die der Verein in Zusammenarbeit mit der Universität Luxemburg (Dr. Annette Schumacher) und der Internationalen Gesellschaft zur Erforschung und Förderung der Blasmusik (Prof. Dr. Damien Sagrillo) durchgeführt hat. Die erste Arbeit dieser Art, wie immer wieder unterstrichen wurde. Die Psychologin Schumacher merkt dazu einführend an, dass Musikvereine bisweilen nicht weiter unter die akademische Lupe genommen wurden. Im Gegensatz zum sportlichen Vereinsleben, zu dem schon viel geforscht wurde. Unabhängig davon, ob man nun dem Sport oder der Musik einen höheren Stellenwert zurechnen will, bleibt es eine Tatsache, dass sich im Großherzogtum Männer, Frauen, Kinder und Jugendliche aktuell in über 250 musikalischen Vereinigungen zusammenfinden. Ob diese Menschen die Gesellschaft zusammenhalten, wie das die amtierende DP-Bürgermeisterin der Stadt Luxemburg, Lydie Polfer, im Conservatoire zu verstehen gab, tut wenig zur Sache. Die Zahl der Amateurmusiker/innen in Luxemburg ist nicht von der Hand zu weisen.
Die Bouneweger Musek, so der Mitinitiator der Forschungsarbeit, Guy Wagener, ist seit 125 Jahren kulturelle Praxis. Aber was bedeutet es, einen Musikverein, eine Blasmusik nach über 100 Jahren Bestehen weiterzuführen? Es kann nicht nur wegen des Hämmelsmarsch und anderen, zu bespielenden offiziellen Gelegenheiten sein. Gerade in Bonneweg, dem in vielerlei Hinsichten dynamischsten und dicht bevölkertsten Viertel der Haupststadt. Ist dieser Musikverein eigentlich noch zeitgemäß? Hat diese Quartiersmusek noch die (gleiche) Daseinsberechtigung, wenn sich der sozioökonomische Kontext, in dem sie agiert, im Laufe der 125 Jahre so dermaßen verändert hat? Bonneweg am Ende des 19. Jahrhunderts war ein völlig anderes Bonneweg als Anno 2023. Damals gehörte das Viertel noch zur Gemeinde Hollerich und es existierte die Blasmusik der Champagnerfabrik Mercier, ein Industriemusikverein im Bahnhofsviertel. Später gesellte sich dann noch die Eisebunnsmusek dazu. Nur um zu versinnbildlichen, inwieweit das Arbeitsleben mit dem sozialen Leben eng verknüpft und nicht voneinander zu trennen war. Heute findet man in der Bonneweger Fanfare Beamten, Rentner, wie auch Schüler/innen und Student/innen und Champagne Mercier-Epernay ist – wenigstens in Luxemburg – längst Geschichte.
Mithilfe der kapitaltheoretischen Konzepte Pierre Bourdieus, der Rational-Choice-Theory, die zur Untersuchung getroffener Entscheidungen dient, sowie der Bestimmung der Begriffe Motiviation und Affiliation wurde, so Dr. Annette Schumacher, versucht, einen empirischen Blick auf die Mitglieder des Musikvereins zu werfen. Was motiviert sie, welchen Nutzen ziehen sie aus dieser Mitgliedschaft und wie stellen sie sich ihren Musikverein in Zukunft vor? Die Antworten auf diese Fragestellung schälten sich aus einem Fragebogen heraus, der den Mitgliedern in Bonneweg, sowie auch jenen der Musikgesellschaft in Cents – die sich auf dieses Projekt bereitwillig eingelassen haben – ausgehändigt wurde. Von 60 Orchestermitgliedern haben in Bonneweg 44 einen ausgefüllten Fragebogen abgegeben (73,3%), bei den Centsern waren es 56 von 68 (82,4%). Trotz aller Motivation am Erlernen musikalischer Kompetenzen und allgemeiner Freude an der Musik – die Bouneweger Musek tritt seit jeher auch bei internationalen Wettbewerben an –, offenbarte die Umfrage, dass der soziale Faktor bei einer großen Mehrheit der Musiker/innen überwiegt. Der Nutzen der Mitgliedschaft im Musikverein wird hoch eingeschätzt. Wobei sich das sehr geladene Wort Nutzen in diesem Kontext auf den Wert oder den positiven Effekt beziehen will. Die Softskills werden spielend (sic!) weiterentwickelt, persönliche und soziale Kompetenzen werden von Mitgliedern immer wieder hervorgehoben – intergenerationelle Interaktion steht an der Tagesordnung – und eine große Mehrheit spricht sogar von einem gesteigerten Selbstbewusstsein. Wie der Arbeitstitel schon andeutet, geht laut Umfrage das Wohlbefinden mit der Vereinsmitgliedschaft Hand in Hand. Beim partizipatorischen Faktor dieser Mitgliedschaft wird die Umfrage dann plötzlich nicht mehr so klar in ihrer Aussage. Etwa die Hälfte der Befragten fühlt sich nicht genug in die Entscheidungsprozesse miteinbezogen, während die andere Hälfte zufrieden mit den Mitbestimmungsmöglichkeiten ist. Des Weiteren wünscht sich eine große Mehrheit, dass der soziale Faktor jenseits der Proben noch wichtiger wird.
Ob die Bonneweger Blasmusik und seine Mitglieder als repräsentativer Mikrokosmos für das Stadtviertel und im größeren Maße für das Großherzogtum stehen kann, ist fraglich. Das Musikvereinsleben bleibt eine lëtzebuergesch Affär. Eine große Mehrheit (75%) hat die luxemburgische Nationalität. In Sachen Altersverteilung sieht es – wenigstens, wenn es um die Altersgruppe der 18- bis 64-Jährigen geht – durchaus repräsentativ und ausgeglichen aus. Nur bei den Jüngsten und den Ältesten ist eine Diskrepanz zu beobachten. Aber die Gründe dafür liegen oft woanders – Alter, Gesundheit, mangelnde oder schwindende technische Kompetenzen.
Wie anfangs schon angemerkt – und am Abend der séance académique mehrmals wiederholt – ist diese Arbeit der Anfang einer Forschungsarbeit. Eine Stichprobe quasi, wenn man die Bonneweger und Centser Fanfaren im großen Pool von über 250 Musikvereinen hervorhebt. Die Bonneweger haben im Rahmen ihrer Festlichkeiten einen ersten Stein ins Wasser geworfen, dessen Wellen hoffentlich bis an die Türschwellen der UGDA schwappt. Der Wille nach Entwicklung, Daseinsberechtigung und Erhalt ist bei den Vereinen klar vorhanden, nur muss der Dachverband mitziehen. Sonst wird das eventuell nichts mehr mit den nächsten 125 Jahren. Unabhängig davon werden sich aber am heutigen Freitag und dann wieder am kommenden Dienstag die Musiker/innender der Fanfare Municipale Luxembourg-Bonnevoie in den Gemäuern des Musikzentrums in der Rue Pierre Krier – es wird in naher Zukunft nach dem langjährigen Vereinspräsidenten Raymond Bausch benannt - zur Probe zusammenfinden. Es gilt das Jubiläumsjahr abzuschließen: Unter anderem steht am 16. Dezember das traditionelle Winterkonzert an.