Österreich ist ein großes Haus. Eine Mietwohnung in Graz zum Beispiel: im Erdgeschoss wohnt die bigotte Frau Wurm mit ihrem verkrüppelten Sohn Herrmann wie brave Durchschnittsbürger, die vorgeben, ein besonnenes Leben zu führen, strebsam und bescheiden, in Wirklichkeit jedoch einander das Leben zur Hölle machen. Darüber wohnt die Familie Kovacic, Mann, Frau und zwei Töchter, deren Familienname sie immer noch als Einwanderer stigmatisiert, obwohl der Vater sich damit brüstet, seit zwei Generationen redlicher "Deutschösterreicher" zu sein. Er nennt sich einen "nüchternen Sozialist", doch ist er vor allem ein lüsterner Alkoholiker, seine Töchter sind sexbesessen. Und über allen thront Frau Grollfeuer, Lehrerin im Ruhestand und Witwe. Sie symbolisiert den alten österreichischen Adel, die Oberschicht, die das Volk hasst, seinen Lärm und seinen Geruch, und sonst nichts im Sinn hat, als seine Vernichtung. Am Ende liegen sechs Leichen auf ihrem Esstisch.Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos von Werner Schwab, das 1991 - drei Jahre vor seinem Tod durch Alkoholvergiftung - an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wurde, ist, neben den Präsidentinnen, deren Inszenierung am Centaure unvergessen bleibt, eines von Schwabs bekanntesten Stücke. Mit diesem Text gelang ihm der Durchbruch als Dramatiker, mit ihm prägte er definitiv Definitionen wie "Radikalkomödie" und "Fäkaliendram"“, mit ihm wurde seine Extremsprache, das "Schwabische“ bekannt, auch heute noch messen sich jedes Jahr Dutzende Regisseure des deutschsprachigen Raumes an dieser schwierigen Vorlage. Das Escher Theater hatte den Schwab-Kenner Franz Burkhard eingeladen, die Volksvernichtung auf seine Bühne zu bringen. Seine Lesart ist fast schon naturalistisch, klassisch, wodurch er dazu beiträgt, die extreme Sprache mit ihren Umwegen und Verkrüppelungen offen zu legen. Und die Grausamkeiten, die sich die überspitzten Figuren einander antun. In Werner Schwabs Graz gibt es keine Liebe, keine Zärtlichkeit, keinen Frieden. Seine Gesellschaft heuchelt nach außen Einigkeit und Toleranz, doch nach innen begrabscht der Vater die Töchter und pinkelt der Sohn der Mutter in die Blumen. Besonders bezeichnend für die österreichische Kleinfamilie ist die Familie Wurm - sicher auch autobiografisch für Werner Schwabs Verhältnis zu seiner Mutter: für die bigotte Mutter ist der Krüppel, den sie gebar, die ewige Strafe des Herrn für ihre Sünde einer unehelichen Affäre. Doch der Sohn, der unentwegt gestraft und verprügelt wird, möchte Künstler werden, träumt von einer Karriere als Maler, ein Wunsch, für den die Mutter bloß Spott übrig hat. Sie sind aneinander gekettet und kommen nicht von ihrem Schicksal los. Nur die furchterregende Frau Grollfeuer hat Herrmann Wurm ("mein Würmchen") ins Herz geschlossen, hat Mitleid mit ihm - wie alle Damen der besseren Gesellschaft sich in Gutmenschentum üben. Doch das hilft ihm kaum, auch er wird schamlos umgebracht. Werner Schwab muss seine Heimat abgrundtief gehasst haben - wie vor ihm schon Thomas Bernhard. Und Österreich, leicht masochistisch, jubelte. Dass Frau Grollfeuer alle Proleten, wie davor schon ihren Ehemann, mit etwas Gift umbringt, ist nur allzu bezeichnend für den tiefempfundenen Greuel Schwabs vor der besseren Gesellschaft seiner Heimat, die sich zwar gebildet gibt, doch in Wirklichkeit das faschistoide Gedankengut weiter auslebt. Das Stück ist aufgebaut wie ein klassischer Schwank, nur eben etwas überspitzt, ein Volksstück in vier Szenen: eine pro Familie, plus eine etwas bedenkliche Schlussszene. Marc Trotzke hat dafür ein schlichtes, sehr modernes Bühnenbild in Esch entworfen, in dem alles stimmt: das Kruzifix am Kopf des Bauernbettes der Frau Wurm, die grasgrünen Sessel der Parvenüfamilie Kovacic, bis hin zur Ausstattung (wunderbar kitschige Gören mit der unumgänglichen Nabelschau, perfekt biedere Frau Grollfeuer...) In einer homogenen und sehr gelungenen Besetzung fallen besonders Christine Reinhold auf als eine vom Leben überforderte Frau Wurm, die Entdeckung auf hiesigen Bühnen: Fabienne Hollwege als frech-frische Desiree Kovacic, Marc Sascha Migge als absolut grandioser Herrmann Wurm - endlich hat ein Regisseur sein ganzes Potenzial ausgeschöpft, noch nie war er so gut - und, ganz besonders Friederike Frerichs als perfekte, überhebliche und abstoßende Frau Grollfeuer. Ihr sind solch außergewöhnlichen Zitate wie: "Gott ist selbstverständlich ein Haustier", "es gibt keinen Menschen für einen Menschen, es gibt nur die Selbsttäuschung", "das Schlimmste was es gibt, ist das Volk", oder: "am liebsten habe ich schon immer gehasst" in den Mund gelegt, und wenn Friederike Frerichs sie sagt, wird einem Angst und Bange.
Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos - "eine Radikalkomödie in vier Akten von Werner Schwab. Mir selbst zugewidmet, dem Autor, dem großräumigen Lügner"; Regie: Franz Burkhard, Bühne und Kostüme: Marc Trotzke; Regieassistenz: Fabienne Lentz; mit: Christine Reinhold, Sascha Migge, Jean-Paul Maes, Ilona Schulz, Nora Koenig, Fabienne Hollwege und Friederike Frerichs, eine Produktion des Théâtre d'Esch. Keine weiteren Aufführungen vorgesehen.