Deutschland

Bröselndes Plastik

d'Lëtzebuerger Land vom 30.11.2018

In der Regel ist es ein medizinischer Routine-eingriff: Im Jahr 2014 bekam eine ältere Dame in Saarbrücken eine künstliches Hüftgelenk eingesetzt. Mit viel Elan und voller Hoffnung verließ sie bereits nach wenigen Tagen die Klinik und begab sich in die Anschlussheilbehandlung. Fünf Wochen nach dem Eingriff entwickelte sich der Heilungsprozess jedoch dramatisch: An der neuen Hüft-Endoprothese zeigte sich eine Entzündung. Es kam zu einer Blutvergiftung. Hartnäckig haftende Keime hatten sich von der Oberfläche des künstlichen Gelenks gelöst und im Körper zu einer lebensbedrohlichen Infektion geführt. Sechs Wochen nach der ersten Operation musste das künstliche Gelenk wieder entfernt werden. Wo einst ein Hüftgelenk war, klaffte nun eine Lücke. Doch dann breitete sich die Infektion auch noch auf das rechte Knie aus, in das sechs Jahre zuvor eine Prothese eingesetzt worden war. Dann zeigte sich, dass auch das Herz von den Keimen befallen war. Im weiteren Krankheitsverlauf „zerbröselte“ dann auch noch die Knieprothese und zerfiel regelrecht. In mehreren chirurgischen Eingriffen mussten Plastikteile entfernt werden.

In Deutschland – wie auch in der übrigen Welt – werden laut einer internationalen Recherche immer mehr Menschen durch Medizinprodukte verletzt oder getötet: 14 034 Verletzungen, Todesfälle oder andere Probleme gab es allein im vergangenen Jahr in Deutschland im Zusammenhang mit Implantaten wie künstlichen Hüft- oder Kniegelenken, Brustimplantaten oder Insulinpumpen. Dies berichtete am vergangenen Wochenende das Internationale Konsortium für Investigativen Journalismus (ICIJ), zu dem auch Redaktionen der Fernsehsender NDR und WDR sowie der Süddeutschen Zeitung gehören. Zu Wochenbeginn bestätigte dann das Bundesgesundheitsministerium, dass das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) einen Anstieg von Fällen registriert habe, bei denen eine „produktbezogene Ursache“ vorgelegen habe. Zugleich betonte ein Ministeriumssprecher jedoch, dass „nicht bei jedem dieser Vorkommnisse der Tod oder eine schwerwiegende Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Betroffen eingetreten“ sei.

Die Dunkelziffer bei den Implikationen durch Implantaten dürfte den Recherchen zufolge „erheblich höher“ sein, da Hersteller, Ärzte und Krankhäuser den zuständigen Behörden nur wenige Fälle meldeten, obwohl bei solchen Vorkommnissen eine Meldepflicht besteht. Zum Beispiel bei Brustimplantaten: 2017 seien allein in deutschen Kliniken 3 170 Implantate wegen schmerzhafter Vernarbungen des Gewebes rund um die Silikonkissen herausoperiert worden. Gemeldet wurden jedoch nur 141 Fälle. Und das nach dem Skandal um Brustimplantate aus dem Jahr 2010. Damals hatte der TÜV Silikonkissen des französischen Herstellers PIP in der Europäischen Union zertifiziert. Dann stellte sich heraus, dass PIP jahrelang ein nicht zugelassenes, minderwertiges Silikongel für die Implantate verwendete, die sich zudem als sehr reißanfällig erwiesen. Schätzungen zufolge wurden diese Brustprothesen weltweit bei Hunderttausenden Frauen eingesetzt.

In Deutschland, das zeigten die Recherchen der Redaktionen, würden regelmäßig Produkte implantiert, die kaum getestet worden seien. „Bei Medizinprodukten kommen Scheininnovationen und sogar schädliche Produkte viel zu leicht in die Versorgung“, kritisiert Doris Pfeiffer, Vorsitzende des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) in Deutschland. Krankenhäuser dürften ohne vorherige Studien neue Produkte und Methoden einsetzen und anwenden. „Von sich selbst auflösenden Stents bis zu Metall-auf-Metall-Hüftprothesen reichen hier die Beispiele schlimmer Entwicklungen.“ Es gebe keine sicheren Regeln und Vorgaben, die das verhinderten. ICIJ berichtet, dass es nach Einschätzung des Berliner Gesundheitsministeriums lediglich für eines von zehn Medizinprodukten der höchsten Risikostufe klinische Daten gäbe.

Die Krankenkassen sehen dabei die Politik in der Pflicht und fordern die konsequente Umsetzung der neuen europäischen Medizinprodukteverordnung, die 2020 in Kraft tritt und mit der eine klinische Bewertung der Produkte verschärft werden soll. Darüber hinaus müsse in Deutschland eine verpflichtende Nutzenbewertung von neuen Methoden auch für Krankenhäuser eingeführt werden. Der Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) hält dagegen, dass die Branche „heute schon extrem stark reguliert“ sei, wie Geschäftsführer Joachim Schmitt erklärte. Durch eine neue EU-Verordnung würden die Anforderungen an die Herstellung der Produkte, die klinischen Daten und die Marktüberwachung weiter erhöht. Ohne habe die Patientensicherheit bereits „oberste Priorität“, so der BVMed-Chef. Die Behörden überlassen es allerdings den Herstellern in der Regel selbst, fehlerhafte Produkte zurückzurufen oder Sicherheitswarnungen herauszugeben. Seit 2010 hätten dies die betroffenen Firmen rund tausendmal pro Jahr getan; die Behörden im gleichen Zeitraum jedoch nur sechs Rückrufe angeordnet. Das BfArM wisse zwar, welche Produkte in den vergangen Jahren zu den meisten Todesfällen und Verletzungen geführt hätten. Doch sowohl die Behörde als auch das Ministerium verweigern bislang Auskunft darüber, weil es sich um vertrauliche Auskünfte handele.

Heiner Lauterbach, gesundheitspolitischer Sprecher der SPD im Bundestag, möchte noch in der laufenden Legislaturperiode ein „lückenloses Implantate-Register“ durchsetzen sowie schärfere Regeln erlassen, damit auffällige Implantate „sofort vom Markt genommen werden“. Auffällig viele anfällige Prothesen gibt es etwa beim Weltmarktführer in Medizintechnologie Medtronic. Wie ICIJ berichtet, könnten Implantate des US-amerikanischen Konzerns mit bis zu 9 300 Todesfällen und 292 000 Verletzungen allein in den Vereinigten Staaten in Verbindung gebracht werden. Medtronic-Prothesen seien in einem von fünf Fällen problematisch. „Schäden“ durch Medizinprodukte werden selten publik, da die Hersteller Entschädigungszahlungen an Verschwiegenheitsverpflichtungen knüpfen. Das Geschäft mit künstlichen Gelenken, Schrittmachern, Hörgeräten oder anderen Medizinprodukten sei laut Gesundheitsministerium mittlerweile auf einen Umfang von 282 Milliarden Euro weltweit gewachsen. Ein Markt, in dem es vor allen Dingen auch um Rendite und Marktanteile gehe und hoher Kostendruck herrsche.

Martin Theobald
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