Gedanken zur Wohnungskrise

Das Schlachten heiliger Kühe – eine Anleitung

d'Lëtzebuerger Land vom 09.12.2022

Hohe Nachfrage

Mittlerweile sollte die Brisanz der Wohnungskrise in Luxemburg unbestritten sein. Die Quellen des Übels sind vielfältig und etwaige Lösungen nicht immer konsensfähig. Wer die Krise bewältigen will, darf nicht den Anspruch haben, everybody’s darling zu sein. Die Lösung des Problems erfordert den Mut und die Entschlossenheit eines modernen Robin Hood. Doch derzeit wird zu Hofe vorzüglich gespeist und getanzt, während die Wohnungsfrage zur sozialen Frage des 21. Jahrhunderts wird.

Auch wenn die abgenutzte Floskel von Angebot und Nachfrage, und der damit verbundene Fatalismus, selten der Weisheit letzter Schluss ist, so macht dieses Verhältnis doch eine Dimension des Problems aus. Der Netto-Einwanderungsüberschuss beträgt in Luxemburg etwa 11 000 bis 12 000 Menschen pro Jahr. Luxemburg bietet interessante Karrieremöglichkeiten, vergleichsweise hohe Gehälter, kostengünstige und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung, internationale Schulen, kosmopolitisches Flair, sozialen Frieden sowie ein beachtliches gastronomisches Angebot. Arbeitskräfte aus dem Ausland kommen gerne nach Luxemburg und werden hier auch willkommen geheißen. Diese Willkommenskultur ist nicht uneigennützig. Unser Wirtschafts- und Sozialmodell ist auf Wachstum angewiesen. Viele sozialstaatliche Annehmlichkeiten können wir uns nur leisen, weil wir immer mehr werden. Wohnen wiederum wird durch die steigende Nachfrage für viele unerschwinglich. Dieses Schneeballsystem des Wohlstands für die bereits Wohnenden auf Kosten der Wohnungssuchenden werden wir so einfach nicht wieder los.

Was die Versorgung der Neuankömmlinge mit Wohnraum betrifft, haben sich die Arbeitgeber aus der Verantwortung gestohlen. Zu Beginn der Industrialisierung unseres Landes fehlte es auch an Wohnungen für jene, die aus den Dörfern und dem Ausland gekommen waren, um in der Stahlindustrie zu arbeiten. Damals waren es die Fabrikherren, die Wohnraum schufen, die sogenannten Arbeiterkolonien1. Der Verantwortung für Gesundheit und Wohlbefinden ihrer Arbeiter wurde zumindest zum Teil Folge geleistet. Heute ist dies nicht mehr der Fall. Die Rendite muss stimmen. Fürs Wohnen ist der Einzelne selber zuständig.

Im aktuellen Wirtschaftssystem muss der Staat soziale Verantwortung vorschreiben, damit sie auch wahrgenommen wird. Um der allgemeinen Wohnungsnot entgegenzuwirken, sollte jeder Betrieb, der einen Neuankömmling einstellt, auch eine Wohnung schaffen müssen. Neue Bürogebäude sollen nur dann genehmigt werden, wenn auch der entsprechende Wohnraum für die zukünftigen Angestellten kreiert wird. Eine kollektive Lösung könnte in der Schaffung eines Fonds bestehen, in den die betreffenden Betriebe einzahlen müssen. Dieser Fonds hätte die Aufgabe, den benötigten Wohnraum zu schaffen. Neben der Bekämpfung der Wohnungsnot wird sich ein solches Modell auch positiv auf das Nation Branding auswirken: Wer nach Luxembourg arbeiten kommt, für den wird eine Wohnung gebaut.

Prozeduren und Vorschriften

Landentwicklung und Bebauung werden immer komplizierter und langwieriger. Wer sich darin engagieren möchte, braucht nicht nur einen langen Atem, sondern auch hochspezialisierte Fachkräfte, die sich in dem Dschungel von Prozeduren und Vorschriften zurechtfinden. Landwirte und Gemeinden können ihre Flächen dadurch nur noch in den seltensten Fällen selbst entwickeln. Sie sind genötigt, ihr Bauland an die großen Promotoren zu verkaufen, die einen beachtlichen Mehrwert einfahren.

Im nahen Ausland bauen noch viele Bürger/innen ihre Häuser selbst. In Luxemburg gibt es den klassischen Häuslebauer, der am Abend und am Wochenende mit Kollegen und Familie sein Haus baut, nicht mehr. Einerseits sind kaum noch Grundstücke ohne Bauvertrag am Markt erhältlich. Andererseits ist ein Bau in Eigenregie quasi nicht mehr möglich. Die Compliance scheint mittlerweile mehr Zeit und Energie zu fordern, als das eigentliche Bauen.

Um der Schaffung günstigen Wohnraums oberste Priorität zu geben, scheint eine Flexibilisierung des Baurechts unumgänglich. In den Niederlanden wurde mit diesem Ziel der gesamte reglementarische Rahmen flexibilisiert. Unter dem Schlagwort „Flexwonen“ wurde von den Bebauungsplänen über die Bauordnung bis hin zur Umweltprüfung alles der Schaffung von Wohnraum untergeordnet.

Kommunale Autonomie

Über die Möglichkeiten und Bedingungen zum Schaffen von Wohnraum im Allgemeinem und sozialem Wohnraum im Speziellen entscheiden die Gemeindeverantwortlichen. Als gewählte Vertreter der aktuellen Bevölkerung orientieren sie sich tendenziell an Projekten, die ihrer Wiederwahl förderlich sind. Schaffen von sozialem Wohnraum oder große Bebauungsprojekte haben es oft schwer, wenn vermeintliche Eliten oder kleinere Dorfgemeinschaften ihr bestehendes Gefüge schützen wollen.

Schon allein die Tatsache, dass der Staat mit den Gemeinden einen Pakt schließen muss, um in der Wohnungsfrage wenige kleine Schritte nach vorne zu machen, statt sie über Gesetz in die Pflicht zu nehmen, zeigt, dass diese Autonomie nicht mehr zeitgemäß ist. In Luxemburg ist die kommunale Autonomie jedoch in der Verfassung verankert und die Volksvertreter im Parlament sind mehrheitlich Kommunalpolitiker, was eine Modernisierung der Lage erschwert.

Diese Pattsituation könnte aufgehoben werden, indem den Gemeinden die formale Kompetenz für die Planung entzogen wird. Es müsste ein einziger PAG für das ganze Land erstellt werden; eine einzige nationale Verwaltung müsste für die Erteilung von Baugenehmigungen zuständig sein. Brauchen wir in unserem kleinen Land wirklich 102 Genehmigungsämter in Form von nicht dazu ausgebildeten Bürgermeistern?

Vernachlässigter sozialer Wohnungsbau

Im Vergleich mit den anderen Ländern in Europa wurde der Bau sozialer Mietwohnungen in den letzten 100 Jahren sträflich vernachlässigt. Obendrein wurde der Großteil der mit öffentlichen Geldern gebauten Objekte verkauft und vom Markt absorbiert. Die einst von den öffentlichen Bauträgern geschaffenen Häuser und Wohnungen werden heute zu den gleichen astronomischen Preisen weiterveräußert wie alle anderen auch. Obwohl dieser Missstand erkannt wurde und die aktuelle Regierung sich im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet hat, Sozialwohnungen nur noch in Ausnahmefällen zu verkaufen, bieten die öffentlichen Bauträger sowie einige Gemeinden weiterhin subventionierte Wohnungen zum Verkauf und zu Preisen an, die nur die gutsituierte Mittelschicht sich leisten kann. Ob Erbpacht und Rückkaufrecht den Schaden diesmal in Grenzen halten, wage ich zu bezweifeln. In jedem Fall stehen diese Wohnungen nicht jenen zur Verfügung, die sie am meisten brauchen: den Armen.

Je nach Berechnung machen die sozialen Mietwohnungen hierzulande lediglich zwei bis drei Prozent des Wohnungsbestands aus. Das ist nicht nur marginal, sondern auch Zeugnis einer verfehlten Wohnungsbaupolitik. Andere Länder bringen es auf 20 bis 30 Prozent. In Wien wohnen gar 60 Prozent der Bevölkerung in einer geförderten Mietwohnung.

Seit Jahrzenten betonen nationale Politiker: „Mir musse d’Gemenge mat an d’Boot kréien.“ Statt sich immer skurrilere2 Anreize einfallen zu lassen, um die Gemeinden zu solchen Bootsfahrten zu überreden, sollte man sich fragen, ob sie überhaupt der richtige Partner sind. Im Ausland sind es vielerorts weder die öffentlichen Bauträger noch die Gemeinden, die den sozialen Wohnungsbau vorantreiben, sondern hauptsächlich Genossenschaften und Stiftungen. Gemeinden, soweit sie im Wohnungsbau tätig sind, tun dies häufig über eigens dafür gegründete kommunale Wohnungsbaugesellschaften, die sich dann in dem Bereich spezialisieren.

Der Anspruch, ein Bürgermeister möge mit seinem Gemeindesekretär und dem Gemeindetechniker, neben der Gemeindeverwaltung, auch noch sozialen Wohnungsbau betreiben, zeugt von Unkenntnis. Das Schaffen und Verwalten von Wohnraum sind zwei hochspezialisierte Professionen. So dass man es den Gemeinden nicht verübeln kann, wenn sie sogar trotz Pacte logement nicht aktiv in die Bautätigkeit eingestiegen sind. Sie sind mit dem Wohnbau schlichtweg überfordert.

Das auslaufende 1979er-Gesetz gestand zwar seit jeher den privaten Non-profit-Organisationen dieselben Subventionen zu wie den öffentlichen Bauträgern. Jedoch ist die Markteinstiegshürde so hoch, dass bis jetzt nur wenige dies in nennenswerten Umfang betreiben. Hier muss der Staat die Schaffung von Non-profit-Akteuren aktiv unterstützen, das heißt, ihnen unter bestimmten Auflagen ein Startkapital zur Verfügung stellen, welches es ihnen erlaubt, in den Immobilienmarkt einzusteigen und gegen die gewinnorientierten Player zu bestehen. Zudem sollten Personal- sowie Funktionskosten während den ersten 20 Jahren voll übernommen, anschließend sukzessive abgebaut werden. Zudem sollten diese Akteure Zugriff auf die vom Staat über den Wohnunngsbau-Spezialfonds erworbenen Grundstücke erhalten, um diese zu entwickeln. Ziel muss sein, dass die Non-profit-Akteure gemeinsam mit den zwei öffentlichen Bauträgern mittelfristig den Markt dominieren und die Gewinnorientierten verdrängen. Das Projet de loi 7937 relative au logement abordable geht leider in die entgegengesetzte Richtung. Das darin vorgesehene Förderungsmodell wird die Non-profit-Organisationen, die traditionell nicht über große Kapitalreserven verfügen, vom sozialen Wohnungsbau ausschließen.

Missbrauch

In Luxemburg dominieren und kontrollieren einige Wenige den Immobilienmarkt. Von einem freien Markt kann hier nicht mehr gesprochen werden. Wie Studien des Forschungsinstituts Liser belegt haben, befindet sich der Großteil der Baulandreserven in der Hand von einigen so genannten „happy few“ (dixit Sam Tanson). Diese Baulandreserven werden dem Markt vorenthalten, was zu einer künstlichen Verknappung führt und die Preise in die Höhe treibt.

Neben dem Bauland werden auch Wohnungen als Finanzprodukt missbraucht. Auch wenn die Zahlen über das Ausmaß fehlen, ist bekannt, dass eine große Anzahl Wohnungen bewusst leer stehen gelassen wird, um sie später mit Gewinn wieder zu verkaufen. Ein solcher Missbrauch kann nicht weiter toleriert werden. Bauland muss bebaut, Wohnungen müssen bewohnt werden. Eigentümer, die sich dieses Missbrauchs schuldig machen, müssen hart bestraft werden. In Wallonien gilt Leerstand seit Anfang dieses Jahres als Straftat.

In Luxemburg scheint man den Ernst der Lage noch nicht erkannt zu haben. Das Projet de loi 8082 sur l’impôt foncier, l’impôt à la mobilisation de terrains et l’impôt sur la non-occupation de logements ist ein zahnloser Tiger. Die vorgesehenen Strafsteuern sind marginal und werden zum Teil erst 2031 fällig. Es handelt sich um Symbolpolitik erster Klasse. Will man Spekulation wirksam bekämpfen, muss die jährliche Strafe mindestens doppelt so hoch sein wie der jährliche Wertzuwachs der Immobilie.

Eigentumsrecht

Der Schutz des Eigentums hat in Luxemburg einen viel zu hohen Stellenwert. Es ist durch die Verfassung (Artikel 29) geschützt. Im Gegensatz zu Deutschland, ist hierzulande keine Sozialpflichtigkeit damit verbunden. Eigentum verpflichtet in Luxemburg zu nichts. Zudem gibt es kein Recht auf Wohnen in der luxemburgischen Verfassung. Bis auf ein Lippenbekenntnis bei den sogenannten Staatszielen ist zur Wohnungsfrage nichts zu finden.

Dieses Ungleichgewicht hat Folgen. Wie soll Missbrauch von Eigentum bekämpft werden, wenn der Schutz des Eigentums über allem steht? Im Rahmen der aktuellen Verfassungsreform wird eine historische Chance vertan, dieses Gleichgewicht wiederherzustellen. Der verfassungsmäßige Schutz gegen Enteignung sollte nur für die Immobilie gelten, die man selbst bewohnt. Für alle anderen Immobilien sollte die Sozialpflichtigkeit im Vordergrund stehen. Zudem gehört auch ein Recht auf Wohnen nach dem französischen Model des „droit au logement opposable“ in unsere Verfassung. Jeder sollte sein Menschenrecht auf eine Wohnung einklagen können..

Gilles Hempel hat in Wien und Luxemburg Sozialwissenschaften studiert und ist Direktor der Fondation pour l’Accès au Logement, welche unter anderem die Agence Immobilière Sociale betreibt.

1 Lorang, Antoinette 1984: Luxemburgs Arbeiterkolonien und billige Wohnungen 1860 -1940. , Luxemburg: Ministère du Logement, sowie dies. 2009: L’image sociale de l’ARBED à travers les collections de Fond du logement, Luxembourg: Le Fonds pour le développement du logement et de l’habitat.

2 Hier ein Beispiel: Für jede Wohnung, die ein Akteur der gestion locative sociale (GLS) auf ihrem Gebiet verwaltet, bekommt eine Gemeinde im Rahmen des Pacte logement 2.0 jährlich 2 500 Euro vom Wohnbauministerium gutgeschrieben. Das gilt unabhängig davon, ob die Gemeinde mit der Verwaltung der Wohnung irgendwas zu tun hat. Der betreffende Akteur (ASBL, Stiftung …), der die ganze Arbeit zu leistet hat, bekommt lediglich 1 440 Euro im Jahr vom Ministerium.

Gilles Hempel
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