Kapitalismuskritik und Virus verschmelzen in der Figur des Marcel, der in einem Hotel in Wuhan festsitzt und als Patient 0 einen furiosen Monolog rezitiert. „Die Welt liegt in meinem Rachen. Mein Rachen ist meine Rache. Ich brauche keinen Selbstmordgürtel, ich mache nur den Mund auf und es knallt ...“, heißt es in dem makabren Text. Peter Lohmeyer, der bereits in Deep Frozen (2006) von Andy Bausch spielte und in Das Wunder von Bern (2003) die Hauptrolle innehatte, gibt im TNL einen starken, wandelbaren Superspreader.
Sein Outfit wechselt zwischen verlottert, abgedreht und schnöselig. Anfangs wirkt der bekennende Fußballfan Lohmeyer mehr wie ein Trainer denn wie ein Consultant. Ostermaiers provokative Reflexion über die Pandemie schnorrt er mühelos herunter und füllt die kleine Bühne im TNL. Das Bühnenbild ist schlicht gehalten: eine schwarze Mauer, vor der eine Art Staffelei hängt. Rechter Hand eine Kleiderstange, an der Sakkos und Hemden baumeln, linker Hand ein Schreibtisch, an dem Marcel (Lohmeyer) zu Beginn Platz nimmt und den Text rezitiert.
Auf einem überdimensionalen Schreibblock wird er die Kontur eines Mannes zeichnen und die Zeichnung im Verlauf des Stücks erweitern, sodass sich die Schatten überlagern und sich beim Sehen ein Zerreffekt einstellt. – So wird die Vielschichtigkeit seiner Rolle(n) deutlich. Ans Publikum gewandt fordert der (Anti-)Held, mal ruheloser Unternehmensberater, mal das tödliche Virus personifizierend: „Applaudieren Sie dem Helden!“ Und mahnt: „Haben Sie Ihre Hände desinfiziert?“
Ostermaiers Text beklemmt, Lohmeyer brilliert durch seinen Auftritt: Er stakst im weißen Bademantel über die Bühne wie Bill Murray in Lost in Translation, meditiert im Schneidersitz und tanzt zu den Beats von Bob Marley. Die Beschleunigung der Musik läutet sein sukzessives Abgleiten in den Wahnsinn ein; dann erklingt der Soundtrack zum Zombie-Film 28 Days later: ein Totentanz!
Stark – wenngleich streckenweise recht bedeutungsschwer – sind auch die Szenen, in denen Marcel einen Manager-Jargon herunterrattert und als Worthülsen entlarvt: „Mir egal, wie ihr capex und opex shiftet. Was für ein Unsinn! Meine Line sind die Toten. Die Schlangen vor den Tests. Das ist die Schlange, die sich selbst frisst.“
Den Bogen zwischen dem System, das die Menschen frisst, und dem Virus, das die Menschen zur Strecke bringt, erscheint dankbar, sind die „Minderleister“ seines Unternehmens doch austauschar. Lakonisch wird er einräumen: „Ich hinterließ meine Handschrift in dem Unternehmen. Doch ich war das Löschpapier.“ – Eine plakative Kapitalismuskritik.
Mitunter wirkt der Text so, als sei das Ganze nur ein Hirngespinst. Eine weitere Provokation und Wasser auf die Mühlen der Impfgegner! „Wahrscheinlich existiere ich gar nicht, nur in Ihrem Kopf, bin eine Wunschfantasie eines Wissenschaftlers, der Super-k-faktor. Wahrscheinlich bin ich längst tot, längst tot, gestorben an der Vogel-Grippe, an Sars oder irgendeiner anderen Seuche ...“
Eindrucksvoll schließlich eine Szene, in der sich Lohmeyer mit dem Rücken zum Publikum auf einem Stuhl sitzend an seine geschundene Kindheit erinnert und im Hintergrund das Glockenspiel einer Spieluhr erklingt. Die Sehnsucht nach der angeblich nicht ausgelebten Zwischengeschlechtlichkeit wirkt dann aber doch etwas konstruiert.
Zum Ausklang steht ein angstmachender Diskurs mit apokalyptischem Ausgang. „Die Viren mutieren und wir werden zu Mutanten.“ Marcel wird in Festtagsbekleidung (Weste und Sakko) auftreten, mehr Leichenbestatter denn Consultant, berate er doch das Virus, wie es noch besser töten könne.
Die eindrucksvolle Zeichnung Lohmeyers wirft nach eineinhalb Stunden einen dreifachen Schatten und springt förmlich aus den Fugen. Rafael Sanchez’ Inszenierung im TNL beeindruckt durch die nuancierte Interpretation eines starken Textes. Peter Lohmeyer haucht dem morbiden Text Albert Ostermaiers tödliches Leben ein. Er ist das Virus und damit der Anfang und das Ende.