Im Bücherregal nimmt selbst die unkommentierte Ausgabe von Thomas Manns Zeitroman Der Zauberberg eine beachtliche Breite ein. Die tausend Seiten über die Erlebnisse des Hamburger Ingenieurs Hans Castorp im Sanatorium Berghof im Davoser Hochgebirge schrieb der Lübecker Literatur-Nobelpreisträger in den Jahren 1913 bis 1924 – mit einer vierjährigen Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg. Die epische Dimension eines solchen Prosawerks auf die Bühne zu bringen, die siebenjährigen Erfahrungen im Lungensanatorium auf die Kürze eines Theaterabends zu raffen, diesen Schritt unternehmen Regisseur Frank Hoffmann und Dramaturg Florian Hirsch. Nach einigen Herbstvorstellungen wurden weitere Termine aktualitätsbedingt in den laufenden Monat März verlegt.
Das Ensemble um Wolfram Koch, Ulrich Gebauer und Jacqueline Macaulay verkörpert Thomas Manns epische Figurengalerie in Hoffmanns typischer Bildersprache. Zwar liefert uns auch die Vorlage eine Vielzahl rätselhafter Allegorien rund um das lexikalische Feld der Zeit und der menschlichen Physis; die Zwänge einer verstärkten Raffung für die Bühne führen jedoch zu einem noch kompakteren Abflimmern einzelner Eindrücke und Dialoge, die Fantasie und dramaturgisches Timing verlangen, damit sich aus ihnen ein Ganzes ergibt. An Timing fehlt es diesem Theaterabend selten. An Vorstellungskraft fehlt es ihm nie.
Die Antithese von Castorps hektischer Gestik beim ersten Bühnenauftritt und dem monotonen Bürsten und Summen der Clawdia Chauchat auf der linken Bühnenseite verstören das Zeitgefühl der Zuschauer/innen. Als die Leiche des Vetters Joachim vom Totenbett her salutiert oder das Ensemble sich zum Maskenabend der Danse macabre trifft, arbeitet Hoffmann eben das aus Manns Roman heraus, was für die Handschrift des TNL-Intendanten so typisch ist: das Groteske im Tragischen. Auch die von dem Geräusch und dem Flimmern eines Stroboskops begleiteten Aufnahmen eines Röntgenapparats sorgen für Komik in Bezug auf Krankheit, Tod und brüchige Lebensauffassungen – zentrale Themen im Zauberberg. Das kunststoffliche Röntgenbild zwischen den Lippen der Küssenden dient später sowohl als sanitäre Vorsichtsmaßnahme in der Darstellerrealität wie auch als metaphorischer Hinweis auf das ständige Für und Wider von Lebensbejahung und dem Fetisch „Mensch sein, heißt krank sein“. Die an anderer Stelle zu dick aufgetragene Corona-Aktualität bringt in diesem Moment einen deutlichen Mehrwert.
Zeitweilig gibt es manche Längen in dieser TNL-Produktion, und ja, die x-te Forderung nach Abstand und Handdesinfektion wird redundant. Doch die oben erwähnten Kunstgriffe geben der totalen Verlangsamung des Zeitempfindens Kontur. Das Sein stockt mit einem „Leben im Horizontalen“ als universelle Medikation. Die Reflexion über Krankheit, der Mut zum „genialen Weg“, die Differenzierung zwischen dem stillgestandenen Sein hoch oben und dem bürgerlichen „Flachland“ unten nehmen in dieser Inszenierung breiten Raum ein.
Auch musikalisch wird die Zeitmetaphorik mit Léo Ferrés Avec le temps und Neil Youngs Hey, hey, my, my sowie Gustav Mahlers Vertonung von Friedrich Rückerts Ich bin der Welt abhanden gekommen erweitert.
Das Spiel mit der Komik, der Retardation, der „ausdehnungslosen Gegenwart, in welcher man dir ewig Suppe bringt“, wird jedoch nicht zuletzt von dem Darsteller-Ensemble wuchtig verkörpert. „It’s better to burn out than to fade away“: Ob Castorp, Clawdia Chauchat, Dr Behrens, Settembrini oder Mynheer Peeperkorn, die Darsteller/innen verorten ihre Figuren im ständigen Widerstreit zwischen ideologisch überladenem Ich und dem Siechtum des Schauplatzes. Wolfram Koch in der Hauptrolle zeigt an diesem Abend gerade auch mimisch ein besonderes Gefühl für die Komik seiner Figur, für ihr Handeln und Denken. Das Gefühl dieses Vakuums in der Zeit, die vielzähligen Diskurse über das Kranksein als Menschsein und der hedonistische Gegenentwurf finden in der Route de Longwy ihren dramatischen Ausdruck.
Im Rückblick trägt Hoffmanns Regiearbeit zu Thomas Manns Zauberberg die ihm eigene Handschrift. Der Zauberberg findet seine Komik in der Groteske, die dem Tragischen Leichtigkeit verleiht. Ein überzeugendes Schauspieler/innen-Ensemble verkörpert das Kranke greifbar. Etwas weniger Corona hätte der Produktion ihren letzten Schliff verpasst. Das wiederholte Rufen nach „Abstand halten“ und der leitmotivische Drang nach Reisen und Ausbruch aus dem Stillstand ist zu dick aufgetragen. Auch ohne diese Zutaten wäre Thomas Manns Werk hinreichend aktuell.