Deutschland

Der Versprecher

d'Lëtzebuerger Land vom 19.03.2021

Es war die Nachricht vor zwei Wochen: Aldi-Lebensmittelmärkte bieten Corona-Schnelltests an. Ein Set mit fünf Tests zum Preis von 24,99 Euro. In den Nachrichten des Radio Berlin Brandenburg (RBB) wird vermeldet, in welcher Filiale des Discounters die Sets schon ausverkauft sind und dass eine Niederlassung vor den Toren der Stadt sogar nur acht Sets im Angebot hatte. Doch schnell wird abgemildert mit der Ankündigung, dass zu Wochenanfang ein weiterer Discounter sowie Drogeriemarkt-Ketten ebenfalls Corona-Schnelltests verkaufen würden.

Dabei hatte doch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) versprochen, dass ab dem 1. März diese Schnelltest im ganzen Land zur Verfügung stehen sollten. Kostenfrei. Die vollmundige Ankündigung: Mit den Selbsttests könne der Lockdown aufgehoben werden und die Bevölkerung in kleinen Schritten wieder zur Normalität zurückkehren. Ein weiteres Versprechen, das Spahn kassieren musste. Deutschland wirkt zum Jahrestag des ersten Lockdowns erschreckend unorganisiert. Klopfte man sich noch vor einem Jahr selbstverliebt auf die Schultern, um sich für niedrige Infektionszahlen und niedrige Sterblichkeitsraten, ein verlässliches Gesundheitssystem und genügend Intensivbetten zu feiern, rumpelt und humpelt das Land nun durch die Pandemie als hätte es nicht ein Jahr Zeit gehabt, zu lernen, zu verstehen und dagegen zu halten. Deutschland impft spät, nutzt keine Schnelltests und schützt die Ältesten und Schwächsten in der Gesellschaft schlecht.

Es geht eine Angst um in Deutschland. Die Angst, dass sich die Folgen der Covid-19-Pandemie zu einem Versagen von Staat und Demokratie auswachsen können. Und diese Angst macht sich fest sich an einem Menschen: Jens Spahn. Gestern noch Hoffnungsträger der Christdemokraten für die Nach-Merkel-Ära und Gewinner der Pandemie. Er ließ bereits sondieren, ob man ihm das Amt des Bundeskanzlers zutrauen würde. Heute schon hat ihn sein ganzer politischer Instinkt verlassen. Sein Geschick ohnehin.

Und all dies ist mit seinen vollmundigen Versprechen gekoppelt, die er nach und nach einkassieren musste. Da war zunächst die Corona-Warn-App, die Spahn mit viel Tamtam ankündigte. Doch deren Sinn und Unsinn, deren Tauglichkeit und Nützlichkeit sich bis heute noch nicht bewiesen hat. Immerhin wurde sie bis Mitte Februar über 25 Millionen Mal heruntergeladen und auf Smartphones installiert. Über Monate kann der Nutzer in ihr feststellen, dass es „Keine Risiko-Begegnung“ gegeben habe. Immerhin haben am 6. März 2021 1 304 Personen über die App gewarnt oder noch immer gewarnt. Am gleichen Tag wurden dem Robert-Koch-Institut 9 557 Neuinfektionen gemeldet. Also nur etwa jeder Siebte registriert seine Infektion in der App. Dabei sollte diese ursprünglich dazu beitragen, Infektionsketten nachzuverfolgen und zu durchbrechen.

Dann kamen die Skandale um die Maskenbeschaffungen. Auch wenn man Spahn nicht die Vorteilsnahme durch die Parteikollegen Nikolas Löbel und den CSU-Mann Georg Nüßlein anlasten kann, nutzten doch Löbel als auch Nüßlein ihren direkten Draht ins Gesundheitsministerium, um Masken losschlagen und Provisionen zu kassieren. Erst auf Druck aus den eigenen Reihen zogen beide zarte politische Konsequenzen.

Es folgte das Impf-Debakel. Kaum war der erste Impfstoff in der Europäischen Union zugelassen, machte Spahn Versprechungen, dass spätestens im zweiten Quartal 2021 jeder Mensch in Deutschland ein Impf-Angebot habe. Nun soll dieses Angebot erst zum Ende des dritten Quartals vorliegen. Überhaupt verläuft die Impf-Aktion in Deutschland bürokratisch chaotisch. Ältere Menschen hängen stundenlang in Telefonschleifen, um endlich einen Termin in einem 40 Kilometer entfernten Impf-Zentrum zu ergattern. An- und Abreise erfolgen in Eigenregie. Zu Wochenbeginn betrug die Impf-Rate in Deutschland 5,9 Prozent für Einmal-Geimpfte und 2,9 Prozent für vollständig Geimpfte. Zwar gibt es derzeit in der Bundesrepublik genügend Serum, um die aufwändige Infrastruktur der Impf-Zentren auslasten zu können, doch eine Impf-Verordnung hält genau fest, in welcher Reihenfolge geimpft wird. Und diese ist – so sinnig und unsinnig sie auch ist – in Stein gemeißelt.

Nun schließlich das Rückrudern bei den Schnelltests. Spahn hat irgendwann irgendwo 45 Millionen Tests bestellt, die über einen noch zu bestimmenden Verteilmodus und dann doch nicht genau definierten Selbstkostenbeitrag an die Bevölkerung abgegeben werden sollen. So genau wusste er das nicht in der Konferenz der Bundesregierung mit den Länderregierungen Anfang März. Doch er könne dies in zwei Stunden herausfinden, habe er schmallippig angegeben, wie Der Tagesspiegel berichtet. Das Projekt wird nun „Bürgertestung“ genannt. Kanzlerin Angela Merkel rechnet damit, dass dazu mindestens 150 Millionen Tests pro Monat braucht, um Lockerungen der Pandemie-Beschränkungen rückgängig machen zu können, ohne dass zu einer weiteren Welle komme. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach schätzt, dass für die nationale Teststrategie 40 Millionen bis 80 Millionen Tests zur Verfügung stehen müssen. Pro Woche. Spahn bleibt dabei, es gebe genügend Tests, auch wenn sein Ressort selbst keine Tests eingekauft hat, sondern nur Kontingente sicherte. 500 Millionen für dieses Jahr. Doch die Ergebnisse der Schnelltests lassen sich ohnehin nicht in der Corona-Warn-App eintragen.

Vielleicht wäre die Bevölkerung bereit, Spahn zu verzeihen, da alle derzeit auf Sicht fahren und keiner abschätzen kann und konnte, was diese Pandemie für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft bedeuten würde. Doch diese Bereitschaft gibt es immer weniger. Denn es werden weitere Verfehlungen des Ministers publik. Während sich Deutschland in den zweiten Lockdown begab, tingelte Spahn auf Wahlkampfspenden-Einwerbetour durch die Republik. Aber bitte nur bis 9 999 Euro, denn ab 10 000 Euro muss die Spende der Bundestagsverwaltung gemeldet werden. Am folgenden Tag wurde er positiv getestet.

Da ist noch mehr: seine privaten Immobiliengeschäfte. Im Sommer letzten Jahres kauften Spahn und sein Ehemann Daniel Funke eine Villa im Berliner Nobelstadtteil Dahlem. Dafür zahlte das Paar einen mittleren einstelligen Millionenbetrag. Per Gerichtsbeschluss, den Spahn durchsetzte, darf der genaue Kaufpreis nicht genannt werden. Finanziert wurde der Kauf durch die Sparkasse Westmünsterland. Dort saß Spahn, der örtliche Bundestagsabgeordnete, von 2009 bis 2015 im Verwaltungsrat. Bereits 2015 erwarb er ein repräsentatives Apartment in Berlin-Schöneberg für 760 000 Euro. Auch dieser Kauf wurde durch die Sparkasse Westmünsterland abgesichert, ebenso wie die Eigentumswohnung für 980 000 Euro, die Spahn und Funke 2017 kauften. Verkäufer der Wohnung war Gesundheitsmanager Markus Leyck Dieken, den Spahn zwei Jahre später zum Geschäftsführer von Gematik machte. Die Betreibergesellschaft – im Mehrheitsbesitz des Gesundheitsministeriums – soll die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranbringen sollte. Spahn sorgte dafür, dass das Gehalt von Leyck Dieken auf das Doppelte seines Vorgängers angehoben wurde. Als Journalisten diese Immobiliengeschäfte beim Grundbuchamt Schöneberg recherchierten, wandten sich Spahns Anwälte an das Amt und wollten wissen, welche Pressevertreter Anfragen gestellt hätten und verlangten die Herausgabe sämtlicher „Presseschreiben“ und „Antwortschreiben von Ihnen an die Presse“. Das Amt kam den anwaltlichen Anfragen nach.

Spahn, so resümiert es Der Spiegel, stand lange im Ruf, „nur auf eigene Rechnung zu arbeiten, nur die Karriere im Blick zu haben.“ Mit 22 Jahren im Bundestag, mit 35 Jahren bereits Parlamentarischer Staatssekretär und mit 37 Jahren dann Minister. „Politisch flexibel“ nennen ihn seine Fans. „Berechnend“, seine Gegner.

Martin Theobald
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