Die Briefmarke ist tot – es lebe die Briefmarke! In Island war am 29. Oktober 2020 Schluss: Als erstes Mitglied des Weltpostvereins hat Islandspóstur die Ausgabe von Briefmarken eingestellt; eine letzte Philatelie-Angestellte verkauft noch alte Lagerbestände ab. Andere Länder steigen dagegen in das Sammel-Business erst ein: Wie Haiti, Kirgisistan und Dutzende afrikanische Länder lässt sich auch die Ukraine vom Designstudio Stamperija in Vilnius neue Postwertzeichen fabrizieren. Das Sujet „Russian warship, fuck yourself!“ wird gerade millionenfach in alle Welt verschickt.
Die Deutsche Post wird verdächtigt, dem Beispiel Islands folgen zu wollen. Im vergangenen Jahr löste sie die „Erlebnis: Briefmarken“-Teams auf, die Veranstaltungen aller Art mit mobilen Verkaufsständen begleitet hatten. Die Philatelie-Schalter in Mannheim und Essen wurden geschlossen. Die verbleibenden 22 „Philatelie-Shops“ wurden aus Innenstädten in abgelegene Vororte abgeschoben, zum Beispiel in Saarbrücken vom Hauptbahnhof nach Burbach, in Bonn vom Münsterplatz in die Nähe des Friedhofs Duisdorf. Wer eine „schöne Briefmarke“ oder einen anständigen Stempel haben will, wird am Postschalter nach Kräften abgewimmelt. Absichtliche Sabotage?
Einst wurden Postwertzeichen in Westdeutschland als „Aktien des kleinen Mannes“ verkauft, zum Teil sogar in Bankfilialen. Die Umstellung von D-Mark auf Euro machte dann Millionen Nominalwerte ungültig. Der Sammlerwert hält sich ebenfalls in Grenzen: Ordinäre deutsche Nachkriegs-Briefmarken werden zum Kilopreis verramscht. Ein Grund für den Preisverfall sind hohe Auflagen. Vom Motiv „Sendung mit der Maus“ zum Beispiel wurden letztes Jahr 4,07 Millionen „nassklebend als 10er Bogen“ und 62,7 Millionen „selbstklebend im Markenset“ hergestellt. Die Deutsche Post gibt jährlich immer noch 40 bis 50 neue Briefmarken heraus, mit einer Gesamtauflage von mehr als einer Milliarde.
Technisch braucht es keine Briefmarken mehr: Seit 2020 kann in Deutschland per App frankiert werden; es reicht, auf Postsendungen eine Zahlen-Buchstaben-Kombination zu schreiben. Sammler ärgert auch der neue Matrix-Code. Anfangs gab es Postkunden, die den hässlichen schwarzen Streifen neben dem Briefmarken-Bild abrissen, weil sie ihn für überflüssig hielten. Aus Post-Sicht ist es umgekehrt, denn der Code soll Fälschungen und mehrfache Verwendung verhindern. Andererseits kann alles, was gedruckt wird, auch schiefgehen: Die 80-Cent-Marke „Digitaler Wandel. Die Briefmarke wird digital“, die 2021 zur Einführung des Trackings herauskam, wurde versehentlich ohne Code ausgeliefert. Einer dieser Fehldrucke wurde bereits für 3 400 Euro versteigert.
Noch in den 1980er Jahren brachte eine Wohlfahrtsmarke schon mal umgerechnet zehn Millionen Euro Spenden ein. Mittlerweile liegen Zuschlagsmarken oft wie Blei. Im Gegensatz zu elf anderen EU-Ländern hat Deutschland, das heißt das von Programm- und Kunstbeiräten beratene Bundesfinanzministerium, bislang keine Solidaritätsmarke für die Ukraine herausgegeben. Mit gebrauchten Briefumschlägen lässt sich aber immer noch Gutes tun: Die Briefmarkenstelle Bethel, eine 1888 gegründete Sozialeinrichtung der evangelischen Kirche in Bielefeld, bekommt nach eigenen Angaben „heute mehr als früher“. Pro Jahr werden ihr von Privatleuten, besonders aber von Firmen und Verwaltungen, mehr als 29 Tonnen Postwertzeichen gestiftet, die von 125 Behinderten gereinigt, sortiert und dann an Sammler verkauft werden.
Wie andere Vereine sind auch organisierte Philatelisten vor Nachwuchs weitgehend sicher. Der Vorsitzende der Deutschen Philatelisten-Jugend, Heinz Wenz, ist ein pensionierter Mathelehrer in Trier und 72 Jahre alt. Vor 50 Jahren bezogen mehr als zwei Millionen Abonnenten deutsche Briefmarken – heute betreut die Postwertzeichen-Versandstelle Weiden, Oberpfalz, weniger als 400 000. Aber selbst ein schrumpfender Markt ist ein Markt: Der deutsche Verband der Briefmarken-Händler APHV zählt rund 320 Mitglieder, davon über 40 aus anderen Ländern. Von diversen Michel-Briefmarkenkatalogen aus Germering bei München, vom Austria Netto Katalog aus Wien und vom Zumstein aus Bern sind zur Zeit aktuelle Ausgaben erschienen. Der Philex-Katalog aus Köln scheint jedoch 2019 ausgestorben zu sein, vielleicht wegen Online-Konkurrenz wie Colnect.com oder FindyourStampsValue.com.
Die Internationale Briefmarken-Börse, die Jahrzehnte lang jeden Herbst an die 12 000 Besucher nach Sindelfingen gezogen hatte, konnte diesen Oktober in Ulm wieder stattfinden. Unter den rund 80 Ausstellern waren diesmal nur elf Postverwaltungen, im Jahr 2018 waren es noch 30 – aber ein paar Tausend Fans freuten sich über die erste große Philatelie-Veranstaltung seit Corona. Nach drei Jahren Zwangspause soll es nächsten Mai in Essen wieder die Internationale Briefmarken-Messe und Weltausstellung IBRA geben. Versprochen wird unter anderem eine Sonderschau „100 Jahre Hochinflation“. Briefmarken von 1923 mit Milliarden-Porto sind gesucht und teuer. Der Verein INFLA-Berlin ist mit 900 Mitgliedern die größte Arbeitsgruppe im Bund Deutscher Philatelisten.
Während die Deutsche Post Aufkleber als Auslaufmodell zu sehen scheint, sind andere Postverwaltungen hartnäckiger. Liechtenstein erzielt damit schon lange nicht mehr ein Drittel seiner Staatseinnahmen, hat sich aber trotzdem eine eigene Offsetdruckerei zugelegt, um nicht mehr von Österreich und der Schweiz abhängig zu sein. Wenn alte Kunden wegsterben, müssen eben neue gefunden werden, meint die Liechtensteinische Post. Vielleicht mit der Briefmarke „50 Jahre erste E-Mail“? Oder jedes Jahr mit einer großen roten Scherenschnitt-Marke „Chinesische Tierkreiszeichen“, in edler Folienprägung samt goldenen chinesischen Schriftzeichen?
Experimentierfreudig ist auch die Österreichische Post, für die 2018 die Wiener Designagentur Section.d ein Markenkonzept erarbeitete. Damit die Briefmarke als „ästhetisches Objekt und Sammelgegenstand“ wieder Begehrlichkeiten bei einem jungen Publikum wecke, werden ständig neue Materialien ausprobiert: Stickerei, Glas, Meteoritenstaub, handbemaltes Porzellan, Holz, Swarovski-Kristalle, Tennisball-Filz und recycelte Briefträger-Uniformen. Die Corona-Pandemie führte zu Postwertzeichen auf Toilettenpapier, Mini-FFP2-Masken und jüngst echten Impfpflastern.
Im Juni 2019 gab die Österreichische Post die erste Kryptobriefmarke der Welt heraus: eine Art Kreditkarte mit Einhorn-Motiv und einem Rubbelfeld mit Zugangscode zu einer Ethereum-Wallet, die – in unterschiedlich häufigen Farben – das digitale Bild einer Briefmarke enthält. Dass die Auflage von 150 000 Stück à 6,90 Euro in Minuten ausverkauft war, und bei Ebay zu Mondpreisen wieder auftauchte, inspirierte auch Liechtenstein, die Schweiz, Kroatien, Gibraltar, Thailand und die UNO zu Kryptobriefmarken.
Umgehend vergriffen waren auch die österreichischen Kryptomotive „Panda“ und „Wal“. Die im September erschienene Crypto-Stamp 4.0 „Bulle“ ist eine Gemeinschaftsausgabe: Edelweiß-Hintergrund in Austria, Tulpen in den Niederlanden. Einer „Spezialedition“ von 999 Stück wird dabei im November jeweils ein Gramm Gold beigefügt. Mit dem Krypto-4er-Block „Merkur“, der im Juli herauskam, hat die Österreichische Post den Bogen möglicherweise überspannt: Von 2 500 Stück à 500 Euro sind bis heute erst 1 000 verkauft. Vielleicht geht der Krypto-Szene das Geld aus, und Philatelisten verstehen nicht, was eine „CSA Mystery Box“ mit Briefmarken zu tun haben soll.
Klassische Werte sind dabei immer noch für neue Weltrekorde gut: Im Juni 2021 versteigerte das Auktionshaus Christoph Gärtner eine „Rote Mauritius“ samt Aufgeld für zehn Millionen Euro. Gärtner, Jahrgang 1964, hatte schon auf dem Schulhof mit dem Briefmarken-Verkauf begonnen. Nach dem Abi übernahm er andere Händler, aber auch Archive, Fachbibliotheken und Referenzsammlungen. Mittlerweile hat Gärtner mehr als 60 Mitarbeiter; sein Lager in Bietigheim bei Stuttgart ist über 5 000 Quadratmeter groß. Für drei bis vier Auktionen im Jahr verschickt er jeweils an die 12 000 Kataloge – und scheint bislang keine Zukunftssorgen zu haben. Kunstsammler hören ja auch nicht auf, bloß weil Picasso keine neuen Bilder mehr malt.
Kryptesch Lëtzebuerger Timberen
Auf dem Dachboden kleine farbige Antiquitäten gefunden? Lieber nicht gleich den Job kündigen oder Scheidungsanwalt engagieren! Mit Postwertzeichen des Großherzogtums ist kaum Geld zu verdienen. Banque du Timbre, das letzte heimische Fachgeschäft, hat Ende 2017 geschlossen, mangels Nachfolger.
Im Internet werden einzelne Luxemburger Briefmarken, mehr oder weniger echt, für ein paar Hunderter gehandelt; eine ungestempelte 10-Centimes-Marke von 1852 auch schon mal für 2 000 Euro. Die Weihnachtsmarke von 2015, für 70 Cent ausgegeben, kostet nun bei Händlern 4,50 Euro. Die verpfuschten Europa-Marken von 2017, die Schlösser „Beggen“ und „Dommeldange“ ohne Ländernamen, könnten gar Raritäten werden.
Anhaltspunkte für Preise, wenn sich denn Käufer finden, liefert der MICHEL-Katalog „Luxemburg Spezial 2022/2023“, der Anfang November in achter Auflage erschienen ist: 170 Jahre Geschichte auf 216 Seiten, rund 2 000 Abbildungen und 8 000 Preisbewertungen –inklusive deutsche Besatzungszeit und individuelle Meng-Post-Marken.
Wie Liechtenstein, Grönland und Vatikan zählt auch Luxemburg zu SEPAC, dem Club der kleinen europäischen Staaten, die ihre Briefmarken zu mehr als 50 Prozent an ausländische Kunden verkaufen. Also überwiegend keine Quittungen für Beförderungsdienste, sondern Sammelbilder fürs Album. Nach dem Austritt von Island und San Marino gehören zu dieser Vereinigung jetzt noch zwölf Postverwaltungen.
POST Philately ist seit 2013 Nachfolger des in den 1920er-Jahren vom Luxemburger Finanzministerium gegründeten Office des Timbres. Zwölf Angestellte geben unverdrossen pro Jahr 25 bis 30 neue Briefmarken heraus, betreuen knapp 5 000 Abonnenten und verkaufen auch andere „philatelistische Produkte“, zum Beispiel Ersttagsbriefe, Sonderstempel und Kataloge. Für das zweite Halbjahr 2023 kündigt die Luxemburger Post eine Kryptobriefmarke an, will dazu aber noch nichts Genaueres verraten.