Kaum ein Buch passt besser in diesen teils zermürbenden, teils hoffnungsvollen Juni 2020 als Olivia Wenzels Debütroman 1000 Serpentinen Angst. Dass sich zur Zeit viele solidarisch mit der „Black Lives Matter“-Bewegung zeigen und die maßlose Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten verurteilen, sollte von Rassismus und Diskriminierung diesseits des Atlantiks nicht ablenken. Systemischen Rassismus gibt es natürlich auch in Europa. Man mag in dem Zusammenhang an den erfolgreichen Essay der Britin Reni Eddo-Lodge denken: Why I’m no longer talking to white people about race (2017). Eddo-Lodge zeigt in diesem Buch die systemischen Schwierigkeiten und Nachteile auf, mit denen sich POC (people of colour) in Großbritannien bzw. in allen vermeintlich aufgeklärten, fortschrittlichen westlichen Gesellschaften konfrontiert sehen, angefangen bei den Bildungs- und Karrierechancen über unausgewogene gesellschaftliche Erwartungen bis hin zum Zugang zum Wohnungsmarkt und den Möglichkeiten politischer Vertretung.
Es ist dieses Umfeld, in dem sich Olivia Wenzel mit ihrem Roman bewegt. Die 1985 in Weimar geborene Autorin beschreibt die Suche einer jungen Frau nach ihrer Identität und nach einem Lebensentwurf, in dem so etwas wie Glück zumindest vorstellbar ist. Daraus wird allerdings keine Fallstudie, die einfach einzelne Aspekte der zu erwartenden Ungleichheit durchdeklinieren würde, sondern eine kluge, frische Erzählung, die den Jetztzustand der deutschen Gesellschaft aus einem Blickwinkel beleuchtet, der eigentlich in der öffentlichen Wahrnehmung schon lange nicht mehr fehlen dürfte.
Die Protagonistin des Romans ist die Tochter einer weißen Deutschen und eines Angolaners, der seit ihrer frühen Kindheit nicht mehr in Deutschland lebt. Sie steht am Anfang der Geschichte auf einem Bahngleis vor einem Snackautomaten und verkündet: „Mein Herz ist ein Automat aus Blech.“ Die Automatenmetapher stößt gleich ein Hauptthema des Buches an: das Treffen von Entscheidungen, die gewählten und nicht gewählten Möglichkeiten, von denen nicht immer klar ist, ob sie von außen vorgegeben werden wie das Angebot von Snacks im Automaten („von der morbiden Schweinerindswurst im Teigmantel bis zum Kokosschokoriegel“), oder ob sie dem Ich immanent sind wie das eigene Herz.
Der Bahnsteig, an dem die junge Frau steht, ist eben nicht „irgendein Bahnsteig, in irgendeiner Stadt“, sondern ein Ort, an dem eine besonders tiefgreifende Entscheidung fiel, auf die sie immer wieder zurückkommt. Das ständige Wechselspiel zwischen Innen und Außen, zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, zwischen Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit, zwischen Hier und Dort, bestimmt das Wesen dieser Figur. Formal fängt Wenzel diesen Aspekt der Figurenzeichnung auf, indem sie den Gedankengängen der Figur eine Instanz beigesellt, die unablässig Fragen stellt und kommentiert, mal zur Selbstvergewisserung anhält, mal zur Rechtfertigung drängt. Das sind letztlich keine theoretischen Fragen; in der konkreten Situation geht es ums tatsächliche Handeln und um das, was in der wirklichen Welt dabei herauskommen kann. Bei allen Entscheidungen kann die Angst die Figur wieder einholen; ein unbeschwerter Ausflug an den See oder zu einem Campingplatz kann sich durch die Ankunft von Rechtsradikalen im Handumdrehen in eine bedrohliche Situation verwandeln.
Für eine reine Opferrolle ist die Lage jedoch zu komplex. Dessen wird sich die Figur zum Beispiel bewusst, wenn sie ihren Pass am Flughafen vorweisen muss: Plötzlich ist sie Teil einer privilegierten Gruppe, der scheinbar alle Türen offenstehen. Auch belässt es die Autorin nicht bei der Frage nach dem Umgang mit Rassismus. Die Einordnung in ein gesellschaftliches Gefüge hängt schließlich von weit mehr als von der Hautfarbe ab; es gilt zu entscheiden: welches Familiendasein, welche Freunde, welche Art des Wohnens, welche Form von Intimität, welche Stadt, welches Land.
In Rückblenden wird der Werdegang der Figur erzählt. Die Mutter pflegte stets ein distanziertes Verhältnis zu ihren beiden Kindern, die daher hauptsächlich bei den Großeltern aufwuchsen. In der Kleinstadt im Osten Deutschlands fallen die Geschwister durch ihr Aussehen auf. Wie Wenzel das Verhältnis der Figur zu ihrer Großmutter beschreibt, gehört zu den schönsten Momenten des Romans. Auch hier zeigt sich, dass ein Leben nicht einfach eine Theorie abbildet und der Grat zwischen moralischer Bewertung einerseits und persönlicher Verbundenheit andererseits sehr schmal ausfallen kann. „Schokokrümel“, nennt die Großmutter ihre Enkel, und meint das – wie sonst? – lieb und zärtlich. Für die Kritik ihrer Enkelin an dieser Bezeichnung bleibt sie unzugänglich. Fragen wie die nach einem respektvollen, nicht-rassistischen Umgang spart die junge Frau bei Besuchen daher lieber aus. Einen gewissen Hang zum Versöhnlichen kennzeichnet auch die Zusammenführung der Erzählstränge am Ende, aber das will man der Autorin eigentlich gar nicht anlasten. Wenn schon literarische Figuren keinen gangbaren Weg fänden, wer sollte das dann?