Sie interviewte Emma Goldman im Gefängnis; sie ermittelte verdeckt unter Arbeiterinnen und in einer berüchtigten Irrenanstalt; sie umrundete als erste in nur 72 Tagen die Welt und berichtete im Ersten Weltkrieg von der Ostfront. Nellie Bly (1864-1922) war eine herausragende Pionierin des Investigativ-Journalismus und des Reportage-Genres. Nach der Jahrhundertwende begannen ebenso in Luxemburg Autorinnen wie Carmen Ennesch und Katrin C. Martin die publizistische Landschaft aufzumischen.
Die unter dem Namen geborene Elizabeth Cochrane begeisterte ab 1887 die Leser der World, die Joseph Pulitzer für die mondänen Bürger New Yorks zurechtschnitt: informativer Inhalt, flottes Format. Blys Talent entfaltete sich vor allem in Enthüllungsgeschichten und bissigen Interviews; ihre erste World-Reportage war sowohl unter einem journalistischen als auch einem politischen Gesichtspunkt ein außerordentlicher Erfolg. Sie ließ sich, getarnt als psychisch Instabile, in eine New Yorker Psychiatrie einweisen – den verlorenen Blick probte sie vor dem Spiegel und übte stundenlang wirres-repetitives Geschwätz. Trotzdem war sie überrascht wie leichtfertig das Personal auf das Schauspiel reinfiel. Angekommen in der Blackwell-Psychiatrie notierte sie die zehn Tage ihres Aufenthalts die Gleichgültigkeit sowie sadistischen Misshandlungen, denen die Insassinnen anheimfielen: Eiskalte Bäder, vermottete Kleider, Brot mit ranziger Butter, Bewegungsverbote – „Was außer Folter würde schneller Wahnsinn hervorrufen als diese Behandlung?“ fragt sie ihre Leser. Auch stieß sie dort auf verarmte und vereinsamte, aber eigentlich gesunde Frauen, die in die Psychiatrie weggesperrt wurden. Die Leserschaft war begeistert von Bly und empört über die geschilderten Missstände; politisches Handeln konnte nicht auf sich warten lassen: Es gründete sich ein Untersuchungsausschuss, dessen Bericht zu sofortigen Reformen führte.
Bevor Elizabeth allerdings in Pulitzers Büro auftauchte, lies sie mehrere biografische Stationen hinter sich. Im vergangenen Jahr erschien erstmals eine Biografie auf Deutsch, die den Werdegang der rastlosen Amerikanerin beschreibt, vorgelegt vom italienischen Journalisten Nicola Attadio. Er geht dabei chronologisch vor und beginnt in Elizabeths Kindheit. Sie wurde im Mai 1864 geboren und wuchs in der Nähe von Pittsburgh auf. Als sie sechs Jahre alt war, verstarb ihr Vater. Aus finanzieller Not heiratete ihre Mutter einen Bürgerkriegsveteranen, der als Alkoholiker die Familie in den Ruin trieb; eine Erfahrung, die Elizabeth prägt.
Ihr Einstieg in den Journalismus ist mittlerweile zur Legende geworden: Noch keine Zwanzig, antwortete sie auf die frauenfeindliche Kolumne „What are girls good for?“ der lokalen Zeitung Dispatch. In ihrem schnippisch-feministischen Leserbrief argumentierte sie, Frauen könnten sehr wohl außer Haus arbeiten und sollten dafür das gleiche Gehalt beziehen wie Männer. Der Chefredakteur war derart von ihrem Schreiben beeindruckt, dass er ihr prompt ein Jobangebot machte. Zunächst sollte sie die Seiten für Vermischtes und Frauenthemen füllen. Elizabeth, die nun unter dem Namen Nellie Bly schrieb, entschied anders; sie wollte recherchieren und zwar zu politischen Themen. Ihre ersten Recherchen führte sie über die Arbeitsbedingungen in der prosperierenden Stahlindustrie durch. Da sie die Echtheit, der von Industriearbeiterinnen geschilderten Grausamkeiten überprüfen wollte, beschloss sie eine von ihnen zu werden – und ermittelt verdeckt unter einer falschen Identität. Bly popularisierte dieses Genre des Stunt-Journalismus: Sie gibt sich später als unverheiratete Mutter aus, die ihr Baby verkaufen will, reist ins Innere von Mexiko und berichtet von dort über Armut und überführt korrupte Lobbyisten in den USA.
Da das Verhältnis zu ihren Vorgesetzten in Pittsburgh nicht reibungslos war und ihre Vorgesetzten sie immer wieder zu den unpolitischen Rubriken abschieben wollten, kam es 1887 zum Bruch mit der Redaktion des Dispatch. Aber Nellie bleibt ambitiös: sie will ihre Reichweite erhöhen und ihr Talent ausreizen; packt ihre Koffer, fährt nach New York und landete bei Pulitzers World.
In dieses Details des Leben von Nellie Bly kann man in Attadios Biografie eintauchen, bedauerlicherweise jedoch nicht gleichermaßen in den Zeitgeist der Epoche. Zwar gibt er Einblicke in Pulitzers Geschäftsmodell, aber der Journalismus war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in seiner Blütezeit: Der verkaufte Anteil an Zeitungen versechsfachte sich zwischen 1870 und 1900. Neue Genres, Formate, Verlagshäuser prägten die Medienlandschaft. Neue Berufsstände schossen aus dem Boden, das öffentliche Leben wurde aufgemischt. Diese bewegte Zeit des journalistischen Handwerks wird in der Biografie kaum erwähnt.
Ihr Biograf zelebriert sie zudem durchgehend als Heldin, dabei spart sie in Around the World in Seventy-two Days nicht mit Stereotypen und lässt ihre zickige Seite deutlich zum Vorschein kommen. Während ihrer Weltreise 1889 beschreibt sie ägyptische Bettler als „abstoßend“ und behauptet Chinesen würden umherrennen wie ein Haufen Ameisen.
Trotzdem: Das Buch bringt die Mutter des Investigativ-Journalismus wieder ins Gespräch und bietet Einblicke in die Arbeit einer Frau, die sich voller Enthusiasmus in die Themen stürzte, die sie beschäftigten. Es bietet einen Rundumschlag über eine außergewöhnliche und mutige Persönlichkeit. Sie interviewte Geistliche, Gedankenleser, Politiker, Polizisten, Arbeiterinnen, die Anarchistin Emma Goldman sowie die Rechtanwältin und Präsidentschaftskandidatin Belva Ann Lockwood, von der sie die Schlagzeile erhielt: „Ich kandidiere, weil dies dazu dient, die Leute an die Vorstellung von einer Frau im Weißen Haus zu gewöhnen“. Sie schrieb Reportagen, Kolumnen, Berichte.
Bly war nicht die einzige Journalistin, die zu jener Zeit populär war. So kämpfte die Journalistin Elizabeth Bisland des Cosmopolitan während ihrer Weltumrundung um den Weltrekordbruch. Und ab den 1890er-Jahren entwickelte sich der Enthüllungsjournalismus zum Geschäftsmodell, immer mehr Frauen wurden als Undercover-Journalistinnen angeheuert.
In Luxemburg gründeten die Pionierinnen ihrerseits in den 1920ern erste Magazine, wie die beiden zur Lehrerin ausgebildeten Catherine Schleimer-Kill (1884-1973) und Emma Weber Brugmann (1877-1964). Erstere publizierte ab 1927 die Zeitschrift Action Féminine und Weber-Brugmann lancierte 1933 Die Luxemburgerin, Zeitschrift für die gesamten Fraueninteressen Luxemburgs.
Besonders aber Katrin C. Martin (1901-1983) fiel mit ihrer Unrast, Exzentrik und Lust am Risiko im publizistischen Betrieb auf – ähnlich wie Bly. Während 18 Jahren reiste Martin als Journalistin um die Welt, hauptsächlich durch Südamerika, bevor sie 1938 nach Luxemburg zurückkehrte und zunächst für die Luxemburger Zeitung schrieb. Nach Stationen beim Escher Tageblatt und dem Luxemburger Wort wurde sie 1948 Chefredakteurin der Revue. Letztere wird unter Martin modernisiert und erreichte eine Auflage von über 30 000 Exemplaren. Den Berichten zufolge spielte die Kettenraucherin häufig mit Starallüren, scheuchte als Chefin ihre Angestellten umher, verprasste ihr Vermögen im Casino und wurde letztlich von der Justiz aufgrund des Betrugs aus dem Land verwiesen. Sie verbrachte ihr Lebensende in Italien, veröffentlichte jedoch unter einem Pseudonym weiterhin in der luxemburgischen Presse Artikel.
Eine weitere Pionierin des hiesigen Journalismus war Carmen Ennesch (1902-2000). Die Volkswirtin und Politikwissenschaftlerin verblüffte die Leser ähnlich wie Bly mit den unterschiedlichsten Themen: sie schrieb Reiseberichte, über Politik, den Welthandel mit französischem Wein, Migration, Tierschutz, feministische Angelegenheiten und die sozialistische Bewegung. Überdies veröffentliche sie mehrere Bücher, u.a. eine Biografie über Rosa Luxemburg und ein historisches Werk über die Katharer.
Der CSV-Staat wusste nicht wohin mit einer sozialistischen Feministin und schenkte ihr folglich keine Aufmerksamkeit, schrieb Roman Hilgert 2002 im Lëtzebuerger Land – obwohl sie eine Geistesgröße war, die auch im Ausland durch ihre Beiträge auf France Culture keine Unbekannte war.
Erst seit kurzem beginnt die Luxemburger Gesellschaft sich für das kulturpolitische Erbe dieser Journalistinnen zu interessieren. 2017 waren die vier Journalistinnen Gegenstand der Ausstellung Pionnéierfraen am Journalismus zu Lëtzebuerg unter der Leitung von Joëlle Letsch. In der Ausstellung wurde überdies prominent das journalistische Schaffen von Liliane Thorn-Petit (1933-2008) aufgerollt. Als ihr Mann Premierminister wurde, wuchs der gesellschaftliche Druck: Sie musste ihre Karriere aufgeben und sich als Hausfrau um Mann und Sohn kümmern. Thorn-Petit hängte ihren Beruf an den Nagel, tauschte Schreibmaschine gegen eine Schachtel Pinsel: In ihrem Atelier wendete sie sich fortan der abstrakten Kunst zu.
Elizabeth Cochran heiratete auch. Mit 30 gab sie dem 40 Jahre älteren Industriellen Robert Seaman das Jawort und den Journalismus vorerst auf. Allerdings stand sie nicht tagein tagaus hinter dem Herd, sondern stieg in das Geschäft mit der Stahlindustrie ein. Ihr Unternehmen ging jedoch insolvent und sie landete noch vor der endgültigen Unternehmensauflösung als Journalistin an der Ostfront. Dort berichtete sie über den Ersten Weltkrieg. Mit 57 starb sie in der Bronx an einer Lungenentzündung.