Es besteht Not an der Frau. Mehrere Studien aus den vergangenen Jahren belegen, dass das Feuilleton ein Instrument zur Erhaltung des sexistischen Machtgefälles ist, das die Wahrnehmung von Literatur trotz angeblich besseren Wissens aller Aktanten bestimmt. Ein solches Machtgefälle braucht man nicht herbeizupolemisieren; es beruht nicht auf den Eindrücken irgendwelcher überempfindlicher Damen, sondern auf Fakten. Das breit angelegte Buchbranchenprojekt #frauenzählen ermittelte in einer medienübergreifenden Untersuchung von Buchbesprechungen aus dem März 2018, dass zwei Drittel aller Besprechungen im deutschsprachigen Feuilleton sich mit den Werken von Autoren befassen. Die Studie konnte sogar eine doppelte Marginalisierung von Autorinnen belegen, da Männer deutlich öfter über die Bücher von Männern schreiben als über die Bücher von Frauen und Kritikern mehr Raum für ihre Ausführungen zugestanden wird als Kritikerinnen. Die Bücher von Autorinnen werden also weniger oft und weniger eingehend besprochen, wodurch sowohl die Autorinnen an den Rand gedrängt werden als auch die Kritikerinnen.
Dass es aber bei der Marginalisierung von Frauen im Literaturbetrieb nicht allein um Quantitäten geht, zeigte das vor einem halben Jahr von den drei Autorinnen und Literaturwissenschaftlerinnen Nadia Brügger, Güzin Kar und Simone Meier initiierte Hashtag #dichterdran. Ein Kritiker hatte Sally Rooney im Schweizer Tages-Anzeiger als „aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen“ bezeichnet und der irischen Autorin zugestanden, die besten Stellen in ihrem Buch könnten von Marivaux stammen. Brügger, Kar und Meier kehrten den Blickwinkel um. Unter dem von ihnen angeschobenen Hashtag wurden nun Autoren mit genau dieser Mischung aus Sexismus und Herablassung bedacht: „Kein Wunder, dass die brillante Ingeborg Bachmann den weinerlichen Max Frisch auf Dauer nicht ertrug“, tweetete Barbara Flueckiger am 4. August 2019. Das Lachen über solche Späße stellt das Unbehagen über einen offensichtlichen strukturellen Bias natürlich noch mehr in den Vordergrund. Werten Männer anders als Frauen? Es gibt Studien, die das nahelegen.
Die Germanistin Veronika Schuchter kommt in ihren Untersuchen zu Ergebnissen, die die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen im Literaturbetrieb sogar noch deutlicher hervortreten lassen als eine rein quantitative Erfassung. Ihre Studie1 von 2018 untersuchte über den Zeitraum von einem Jahr 3420 Rezensionen aus dem Bereich Belletristik, die in deutschsprachigen Printmedien erschienen waren. Zunächst bestätigen ihre Ergebnisse: rund zwei Drittel der Kritiker*innen und der besprochenen Autor*innen sind Männer. Allerdings bleibt das Verhältnis zwischen Kritikern und Kritikerinnen über das Jahr nicht gleich. Einen deutlich höheren Männeranteil verzeichnen die „Buchmessemonate“, während der Frauenanteil im August steigt, wenn Urlaubslektüretipps vergeben werden. Es ist also schlimmer, als man zunächst denkt. Eine wichtige Erkenntnis von Schuchter besteht in der viel diskutierten Erkenntnis, dass Kritiker von literarischen Texten zu 76 Prozent Texte von Autoren besprechen. Ihnen fallen außerdem die „wichtigen“ Neuerscheinungen zu. Kritikerinnen besprechen ungefähr gleich viele Autoren und Autorinnen. Auffällig ist ihr Anteil bei Besprechungen von Kinder- und Jugendliteratur mit über 65 Prozent. Ob sich die Kritiker*innen die Bücher für ihre Artikel selbst aussuchen oder ob das Problem bereits bei der Vergabe von Aufträgen in den Zeitungsredaktionen entsteht, lässt die Studie offen.
Eine mögliche Erklärung der ungleichen Zustände sieht Schuchter darin, dass angesichts einer fortwährend männlich dominierten Kanonisierung Männer und Frauen unterschiedlich mit Büchern sozialisiert werden. Vereinfacht gesagt: Frauen lernen lesend, ihren Horizont zu erweitern, indem sie die Perspektive von Männern einnehmen. Männer bleiben lesend bei Perspektiven, die ohnehin nahe an ihrer eigenen sind. Kein Wunder, dass sie beim Lesen zu dem greifen, was ihnen vertraut ist – vermutlich in der Regel unbewusst, wie Schuchter meint.2
Angesichts einer derart krassen Schieflage bringt es vor allem als Kritikerin nichts, sich um ein Gleichgewicht zwischen den Besprechungen der Bücher von Autorinnen und Autoren zu bemühen, denn das tun Kritikerinnen ohnehin, ohne dass es an der Dominanz von Männern im Literaturbetrieb etwas ändern würde. Wer als Aktant etwas an den Zuständen im Literaturbetrieb ändern will, muss sich auf die Seite der Frauen stellen. Sicher hebt eine zunehmende Sensibilität bei der Zusammenstellung von Jurys auch die Werke von Autorinnen in den Blick; man denke etwa an die Auszeichnungen für Anna Burns, Olga Tokarczuk, Bernadine Evaristo und Margaret Atwood bei den Booker-Preisen der letzten Jahre. Wenn jedoch eine fruchtlose Polemik um einen politisch umnachteten Autor die fantastischen Bücher einer Olga Tokarczuk in den Schatten stellen kann, gibt es nach wie vor Handlungsbedarf. Dabei geht es nicht um wohlmeinende Lektüreempfehlungen, sondern um genau das, was das Feuilleton bisher vor allem Autoren vorbehält: eine genaue, ausführliche, kritische Auseinandersetzung von Kritikerinnen mit wichtigen Büchern und wichtigen Autorinnen. Es ist vorauszusehen, dass die Literatur dadurch nur gewinnen kann.