In Fremdsprechen, ihren 2013 erschienenen Überlegungen zum Übersetzen, schrieb Esther Kinsky über die Erinnerung: „Mit jeder erinnernden Aktivierung eines gespeicherten Eindrucks legen sich Elemente aus dem Augenblick des Aufsuchens über diesen, bilden Schichten und verändern seine Qualität [...].“ Mit dem Gebrauch von Wörtern, so ihre Vermutung, verhalte es sich ähnlich, auch sie entwickelten bei jeder Verwendung neue Bedeutungsschichten, womöglich allgemein, aber auch persönlich für den, der sie zur Sprache bringt. Kinskys neuer Gedichtband scheint aus dieser Perspektive das Ergebnis einer glücklichen Fügung zu sein. Das Buch beschreibt eine dichterische Begehung der Slate Islands (oder „Schieferinseln“) vor der Westküste Schottlands, auf denen die Autorin eine Landschaft vorfindet, die wie eine physische Entsprechung ihrer Ansichten über Erinnerung und Sprache wirkt.
Kinsky nimmt sich Zeit für die Annäherung an die Insel. Die ersten Gedichte beschreiben Etappen der Reise, „Glasgow to Oban“, „drüben inseln dieses land/ in stücken“, das Übersetzen auf einer Fähre. Der Blick ist von Anfang an ganz nah an den Dingen, vor allem an einer kargen Natur („sommer farblos/ bis auf gestein moose farnwische/ schon zum frühherbst ausgegrünt“). Die Beobachterin versucht, das Gesehene in Worte zu fassen, bringt erste „ersammelte[...] wörter“ bei, findet Abstufungen in einer von Grau- und matten Grüntönen bestimmten, unwirtlichen Umwelt. Die Einstiegssequenz definiert zugleich ein poetisches Programm: das Übersetzen, das „metapherein“, meint eine Übertragung von Eindrücken in Sprache, damit eine Öffnung des konkret Erfahrenen für weitere, auch bildhafte Bedeutungsebenen. Vor allem die geologische Besonderheit der Slate Islands macht dies möglich. In den Schichten des Schiefergesteins liegt die Geschichte der Landschaft verborgen, etwa in Form eingeschlossener Fossilien. Sie verweisen auf die Weite der Zeitläufe, die diese Umgebung hervorgebracht hat. Eine dem Beobachterstandpunkt nähere historische Schicht offenbart sich in Form von Schächten und Bruchstellen, die auf den Abbau des Gesteins verweisen, eine Aneignung der Landschaft durch den Menschen, der verändernd in seine Umwelt eingriffen hat.
Die Auseinandersetzung Kinskys mit den Slate Islands geht von einer phänomenologischen Vorstellung der Natur aus, von der Annahme, die Adern im Gestein, die Bruchkanten und Schiefertrümmer ließen sich lesen, wenn man sich beharrlich genug um das treffende Wort bemüht. Die Farben und Maserungen des Gesteins, die Pflanzen und Vögel werden unter diesem Blickwinkel zu Spuren eines in der Landschaft verborgenen sprachlichen Zusammenhangs, der sich allerdings nicht einfach bedingungslos herschenkt, sondern durch eine beharrliche Gestaltung der Beschreibung abgetrotzt werden muss. Erst indem sie zur Sprache gebracht wird, treten die Schichten der Landschaft zutage, wird sie zum bewohnbaren Ort. Im Mittelteil des Buches beschreibt Kinsky eine alte Fotografie einer Schulklasse, indem sie die stummen Blicke mit Gedankengängen versieht, eine Strophe pro Kind und eine für den Fotografen, über Seiten hinweg durchgehende Längszeilen für die Lehrer. Obwohl das Buch mehrere Fotografien der Slate Islands zeigt, kann Kinsky hier auf eine Abbildung verzichten: So lässt der Text die beschriebene Gruppe überhaupt erst als Vorstellung entstehen.
Dieser Teil des Bandes hebt einerseits das handwerkliche Können Kinskys in den Vordergrund, ihre Treffsicherheit, wenn es darum geht, den richtigen Ton in einem breiten Spektrum zwischen wissenschaftlicher Härte und vorsichtiger Einfühlsamkeit zu finden. Andererseits enthält dieser Teil einen Moment möglicher Irritation. Zwar stellt Kinsky den erdachten Innenansichten eine längere, beschreibende Reflexion voran, doch wo dieses Foto herkommt, bleibt im Unklaren. Was zählt, sind allein die Zuschreibungen der Autorin, kein historischer Kontext, damit auch keine Nachprüfbarkeit. Eine ähnliche starke Rückbindung an den Standpunkt der Beobachterin lässt sich auch in den anderen beiden Teilen von Schiefern ausmachen: Wo die Rede ist von Vogel- und Pflanzenarten, von genauen Ortsbestimmungen („sechsundfünfzig grad nord fünf west“) oder den genauen Bezeichnungen für das Gestein („metamorphit“), fällt die Abwesenheit eines Hinweises auf die Vermittlung dieses Wissens auf. Bringt das Ich sein Wissen mit auf die Insel? Die Wanderin in diesen Gedichten hat jedenfalls kein Handy und ihre Wahrnehmung ist nicht von der Instagram-Tauglichkeit der Ansichten geprägt. Ihre Annäherung an die Landschaft ist rein physisch, durch den Blick oder durch Anfassen mit den „fingerkuppen“. Auch in zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit Landschaft erwartbare Themen wie Tourismus oder Umweltverschmutzung kommen nicht vor; es liegen keine rostenden Coladosen im Heidekraut und die Schiefertrümmer sind nirgends mit Zigarettenstummeln übersät. In Bezug auf Wahrnehmungsmuster und Materialität erscheint diese Landschaft wie bereinigt, als sei die Gegenwart nur die allerdünnste obere Schicht, die Wind und Wetter vielleicht noch wegwischten.