Die kleine Zeitzeugin

Du toxische Narzisstin!

d'Lëtzebuerger Land vom 30.09.2022

Sind Sie auch von den Falschen umgeben? Die Sie andauernd davon abbringen, erfolgreich, positiv, ausstrahlend zu sein, wie Sie ja in Wirklichkeit sind? Nur kommen Sie nie dazu. Wegen der andern. Die Sie daran hindern. Ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Wirklich Sie selbst zu sein, sich zu entfalten.

Wenn Sie dauerfertig sind und nicht wissen warum, sollten Sie, so lauten die Tipps der Expert*innen, mal darüber nachdenken, wer Zutritt zu Ihrer Aura hat. Gibt es zum Beispiel Menschen, bei denen Sie nach Treffen regelmäßig fix und fertig sind, ausgesaugt, ausgelaugt, also solche, die älter als drei sind? Das ist ein Alarmzeichen, da müssen Sie die Notbremse ziehen! Schützen Sie sich! Denn diese Menschen, so die neuesten Erkenntnisse, sind toxisch. Plötzlich huch! gibt es nicht nur giftige Pflanzen und Schlangen und Tigermücken, es gibt auch giftige Menschen. Noch schlimmer, Energieräuberinnen, Vampire.

Und sie sind überall, das ist die schlechte Nachricht. Mitten unter uns. Perfekt getarnt. Als Freunde, Ehemenschen, Chefinnen, Mütter, als supernette Arbeitskollegen, Liebhaber, fürsorgliche Opas. Aber mittlerweile gibt es mehr und mehr Expert*innen zu dem Thema, immer mehr Ratgeber, anhand derer man klar die betreffende Problemgruppe identifiziert. Wie man sie erkennt. Zehn Merkmale toxischer Menschen. Sechs Signale Eures Körpers, wenn die Beziehung toxisch ist. Toxische Mütter. Auch Kinder können toxisch sein. Und Französischlehrer*innen. Die andern auch. Ganze Schulklassen. Die Netzkultur. Die Kultur überhaupt. Wie toxisch ist die Gegenwartskunst? fragt eine Tageszeitung. Zehn Anzeichen beim Dating. Blogger Andy erstellt ein Frühwarnsystem, das Alarm schlägt um unbedarfte Mannsbilder vor den Ränken venenöser Spinnerinnen zu bewahren. Schon sind wir beim Gaslighting, für die, die das toxische Thema vertiefen wollen.

Es gibt brandneue Forschungsergebnisse. Wer die Toxischen sind, wie sie vorgehen, ihre Praxis, ihre Taktik. Wie sie sich verraten, anhand welcher Kriterien und Verhaltensweisen man ihnen auf die Spur kommt. Der Nähe-Terror oder die frostige Distanz, der Kontrollwahn oder die Gleichgültigkeit, die subtile Übergriffigkeit, kaum bemerkbar, deswegen ist es so schwer ihr drauf zu kommen. Es ist verwirrend, als Laie kennt man sich kaum aus, diese Giftigen agieren nämlich geschickt divers und ziehen alle Register und haben alle Programme drauf.

Ein toxisch Männlicher in Ihrem Bett, oder, schlimmer, in Ihrem Herzen? Giftige Weiblichkeit versucht Ihre Sinne zu benebeln? Es gibt Anweisungen und Strategien, um sie unschädlich zu machen. Es gibt Erfahrungsberichte von Leidgeprüften, Selbsthilfegruppen und Anlaufstellen für Opfer und Geschädigte. Achten Sie auf die „Red Flags“! warnen die Profis, was wohl „Achtung- Lebensgefahr!“ Bedeutet, Gift kann bekanntlich tödlich sein. Und das Fiese ist, nicht nur die schlichte altmodische Aggression ist von Übel, auch die passive Aggression kann uns zusetzen und uns zersetzen. Gerade die.

Mindestens genau so schlimm sind die Narzisst*innen, die sich ebenfalls neuerdings rasant zu vermehren scheinen, wir werden von ihnen regiert, geehelicht, sie schauen uns im Spiegel an. Selbstbezogene die besessen um ihren Egoplaneten kreisen. Alles dreht sich um sie, sie sich natürlich auch, sie kommen gar nicht mehr runter von sich. Auch die werden zunehmend überführt. Eine Bestsellerautorin hat in ihrem Block sogar schon die geheime Sprache der Narzisst*innen entlarvt. Als hätten wir nicht schon genug am Hals, Klima, Krieg, Katastrophen.

Hat gerade Ihr Gegenüber Sie toxischer Narzisst genannt? Was jetzt? Lassen Sie sich nur nicht verunsichern, wie schade wäre es, wenn Sie sich von sich selber trennen würden! Wer könnte so sehr Sie selber sein wie Sie? Heulen Sie v.a. niemand an, weil Sie sich ernsthaft sorgen, ein Narzisst zu sein. Ein toxischer obendrein. Das könnte in den Augen mancher Lai*innen die Diagnose bestätigen. Lächeln Sie toxisch-positiv. Das liegt voll im Trend. Und das hält wirklich kein Mensch aus.

Michèle Thoma
© 2024 d’Lëtzebuerger Land