d᾽Land: Herr Eicher, wären Sie lieber wieder Bürgermeister einer Majorzgemeinde?
Emile Eicher: Ich habe beides mitgemacht. Erst war ich Bürgermeister einer Majorzgemeinde (Munshausen; Anm.d.Red.), nach 2011 dann einer Proporzgemeinde (Fusionsgemeinde Clerf). In einer kleinen Gemeinde ist der Bürgermeister Ansprechpartner für jede Kleinigkeit, in einer großen muss er sich anders organisieren, kann sich dafür aber mit der Lösung von längerfristigen Herausforderungen beschäftigen. Clerf ist keine große Gemeinde, doch wir werden die 6 000-Einwohner-Schwelle wohl noch in diesem Jahr überschreiten und müssen unsere Dienste komplett neu strukturieren.
Das Syvicol hat rezent gefordert, den Wechsel von der Majorz- zur Proporzwahl erst ab 6 000 statt wie bisher ab 3 000 Einwohner/innen vorzunehmen. Wieso?
Wir haben festgestellt, dass die Menschen in den kleineren Gemeinden die Majorzwahl bevorzugen. Einige Fusionen sind gescheitert, weil die Bevölkerung sich gegen das Proporzsystem sträubte. In Clerf mit seinen fast 6 000 Einwohnern sind 3 300 Bürger in den Wählerlisten registriert. Möchte man auf zwei Drittel kommen, muss man schon viele Ausländer dafür begeistern, sich einzuschreiben. Ein anderes Problem stellt sich beim passiven Wahlrecht: Bei elf Sitzen im Gemeinderat und fünf Parteien muss man erst einmal 55 Leute finden, die die Listen füllen. Viele Menschen wollen sich zwar punktuell engagieren, doch sich nicht längerfristig und parteipolitisch binden.
Würde die Forderung des Syvicol jetzt umgesetzt, wären in Luxemburg nur noch ein Viertel Proporz- und drei Viertel Majorzgemeinden. Städte wie Grevenmacher, Remich, Rümelingen und Echternach würden künftig wieder nach dem System der relativen Mehrheit wählen. Wäre das wirklich sinnvoll?
Um die Forderung noch bis 2023 umzusetzen, ist es jetzt schon zu spät. Bis zu den Wahlen 2029 werden manche Gemeinden noch wachsen und die 6 000-Einwohner-Marke überschreiten. Über Details haben wir noch nicht geredet, aber man könnte ja auch so verfahren, dass man die Gemeinden, die jetzt schon nach dem Proporzsystem wählen, dabei belässt. Ich denke eher an die Gemeinden, die noch fusionieren wollen. Es ging uns vor allem darum, den Menschen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die das Proporzsystem als Hauptargument gegen eine Fusion anführen.
Das Majorzsystem ist noch ein Relikt aus dem Zensuswahlrecht. Zudem sind die meisten Bürgermeister kleiner Gemeinden inzwischen Mitglied in einer der drei großen Parteien.
Sie ziehen aber nicht mit der Parteifahne in den Wahlkampf. Es macht einen Unterschied, ob man lokal oder national wählt. Auf Gemeindeebene müssen Alltagsprobleme mit den verfügbaren Mitteln so gut und so schnell wie möglich gelöst werden. Anders als in der Abgeordnetenkammer, wo Fraktionszwang herrscht, hilft die Parteikarte dabei wenig.
Trotzdem werden in Majorzgemeinden oft „Notabilitäten“ – mächtige Bauern, Anwälte oder Unternehmer – wegen ihrer wirtschaftlichen Macht und ihrem gesellschaftlichen Ansehen zum Bürgermeister gewählt. Dadurch können sie ihren Einfluss noch ausweiten. Sehr demokratisch ist das nicht.
Demokratisch ist es in dem Sinn, dass jeder kandidieren und gewählt werden kann. Ich weiß auch nicht, ob man als Unternehmer viele Vorteile hat, wenn man kandidiert. Denn wenn man gewählt wird, kann man nicht mehr an Ausschreibungen teilnehmen. Das hat dann eher Nachteile.
Das gilt vielleicht für Bauunternehmer, aber nicht unbedingt für solche aus anderen Wirtschaftsbereichen.
Es wäre wünschenswert, wenn alle Berufssparten in der Politik vertreten wären, sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene. Zurzeit beobachten wir ein Ungleichgewicht zugunsten von Angestellten und Beamten aus dem öffentlichen Dienst. Dass Bauern kandidieren, nur damit eine Industriezone oder Wohnungen auf ihrem Grundstück gebaut werden, halte ich für unwahrscheinlich. Erstens sind Umklassierungen gar nicht mehr so leicht, und zweitens dürfen sie an Abstimmungen über Änderungen von Bebauungsplänen, die sie oder ihre Familie betreffen, nicht teilnehmen.
Die vom Landesplanungs- und Wohnungsbauministerium in Auftrag gegebene Studie Raum+ hat gezeigt, dass kleine Landgemeinden über 1 916 Hektar an Baugrundstückreserven verfügen, mehr als die Agglomerationen im Zentrum und im Süden zusammen. Dieses Land befindet sich zum allergrößten Teil im Besitz von Privatpersonen. Sie scheinen ihren Grundbesitz längst vergoldet zu haben.
In den neuen PAGs wurden aber wesentlich weniger Flächen in den Bauperimeter aufgenommen als in der Vergangenheit. Selbst in den ländlichen Gemeinden wurde das häufiger abgelehnt als angenommen. Wir haben versucht, die Flächen möglichst sinnvoll umzuklassieren, indem wir innerhalb der Ortschaften verdichtet haben, anstatt die Dörfer weiter auszudehnen. Darüber hinaus muss man zwischen Städten, Gemeinden in der Peripherie von Agglomera-tionen und rein ländlichen Gemeinden unterscheiden. In Letzteren müssen wir darauf achten, dass der ländliche Charakter und die gute Lebensqualität erhalten bleiben.
Wer ländlicher Charakter und gute Lebensqualität sagt, meint damit meist geräumige Einfamilienhäuser mit großem Garten, die nur Menschen mit hohen Einkommen sich noch leisten können.
Vor zehn, 15 Jahren hatten die Grundstücke hier sieben Ar. Heute haben sie nur noch zwei bis drei Ar. Die Preise sind explodiert und im ländlichen Raum haben die meisten Leute nicht dieselbe Wirtschaftskraft wie die in der Stadt. In den Landgemeinden besteht die Herausforderung darin, bestehende Strukturen innerhalb der Ortskerne umzunutzen. Bei der Renovierung von alten Bauernhöfen muss die Zahl der zu schaffenden Wohnungen erhöht werden und es müssen kleine Geschäfte mit eingeplant werden, was in den neuen PAGs auch vielerorts passiert ist.
Die „hohe Lebensqualität“ zieht Menschen mit hoher Wirtschaftskraft doch an. Selbst wenn sie in der Stadt arbeiten, können sie auf dem Land wohnen.
Bislang war diese Entwicklung eher in der direkten Peripherie der Städte als in den reinen Landgemeinden zu beobachten.
In Clerf haben kürzlich ein Lyzeum und eine École internationale eröffnet. Das trägt sicherlich mit dazu bei, dass die Gemeinde auch für Expats attraktiver wird.
Schon bevor diese Schulen kamen, lebten in Clerf Menschen aus über 80 Nationen. Ein Drittel der Bevölkerung besteht aus Nicht-Luxemburgern mit ganz unterschiedlichen kulturellen Backgrounds. Ihre Kinder haben nun viel bessere Chancen, um die Schule erfolgreich abzuschließen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Unsere Vorstellung von der internationalen Grundschule war, dass sie zu mehr sozialer und kultureller Durchmischung führt. Die Einkommen unserer Bevölkerung sind nicht dieselben wie in der Stadt Luxemburg. Große Banken und die Big Four finden Sie in Clerf nicht.
Während der Staat mit dem Pacte Logement 2.0 den öffentlichen Wohnungspark deutlich vergrößern will, verkaufen immer noch Gemeinden ihre Grundstücke an private Bauherren. Wie erklären Sie sich das?
Es gibt immer weniger Gemeinden, die Baugrundstücke noch an private Bauherren verkaufen, aber es ist nicht prinzipiell verboten. Oft findet der Verkauf zum Gestehungspreis statt und in den entsprechenden Akten steht ein Rückkaufrecht zugunsten der Gemeinde. Durch das Gesetz zum Pacte Logement 2.0 wird sichergestellt, dass der erschwingliche Wohnraum, der bei jedem Teilbebauungsplan geschaffen werden muss, in öffentlicher Hand bleibt, sei es bei der Gemeinde selbst oder bei einem staatlichen Bauträger. Ich glaube aber, dass Fonds du Logement und SNHBM damit überfordert sein werden.
Die Gemeinden können ja auch selber bauen.
Große Gemeinden sind dafür besser ausgestattet, weil sie über eigene Architekten und einen Service Logement verfügen, aber auch weil sie die ganze soziale Dimension, die damit zusammenhängt, besser abdecken können. Im ländlichen Raum kann man das nur durch regionale Zusammenarbeit bewältigen. Darüber hinaus kostet der Bau von Wohnungen ein Heidengeld. Die Materialpreise steigen ins Unermessliche, während die Einnahmen der Gemeinden gleich bleiben. Dadurch könnten viele Gemeinden Probleme bekommen.
Für die kleineren Gemeinden ohne eigenen Architekten sieht das Gesetz einen Wohnungsbauberater vor und der Staat bietet Förderungen und Subventionen.
Die Subventionen sind wichtig, doch der Wohnungsbauberater ist nur eine Teilzeitstelle, er kann einen kommunalen Architekten nicht ersetzen. In einer ersten Phase soll er den Gemeinden helfen, eine Bestandsaufnahme durchzuführen, und sie dabei beraten, wie sie überhaupt an Grundstücke kommen, auf denen sie bauen können. Der Wohnungsbauberater kann aber keine neuen Bebauungspläne und Konventionen erstellen, dafür braucht es Spezialisten.
Vor allem in den ländlichen Gemeinden fehlt es offensichtlich nicht an bebaubaren Grundstücken, sie müssen halt nur vom Eigentümer freigegeben werden. Dabei könnte ihnen die von der Regierung geplante Mobilisierungssteuer helfen. Die Gemeinden beklagen aber nun, dass sie schon mit der Erstellung des Registre national des bâtiments et des logements überfordert sind, das die Voraussetzung für die Erhebung der Steuer ist. Was ist daran so schwierig?
Das Register ist eine gute Sache, aber es fehlt uns an Daten. Verschiedene Gemeinden, darunter Esch/Alzette, Petingen und Differdingen, haben die Bestandsaufnahme durchgeführt, aber es hat sie mehrere Jahre und viel Arbeit gekostet, um alle Daten zu sammeln. Weil es oft kein cadastre vertical gibt, müssen die Mitarbeiter von Haus zu Haus gehen, um herauszufinden, wie die Gebäude aufgeteilt sind und wer wo wohnt. Das ist äußerst zeit- und personalintensiv. Das Syvicol ist nicht gegen das Register, aber wir sind der Meinung: Wenn die Gemeinden diese Arbeit durchführen, sollten sie auch die Früchte dieser Arbeit ernten.
Das heißt, sie wollen an den Einnahmen aus der Mobilisierungssteuer beteiligt werden. Dabei hatten die Gemeinden fast 15 Jahre lang Zeit, die Früchte zu ernten. Mit dem ersten Pacte-Logement-Gesetz von 2008 wurde die Grundsteuerklasse B6 eingeführt, die eine rein kommunale Steuer ist. Fast ein Viertel aller Gemeinden – darunter auch Clerf – wendet sie gar nicht an, die meisten anderen halten den Hebesatz so niedrig, dass sie keine Wirkung hat.
Bevor eine Gemeinde die Grundsteuerklasse B6 erheben kann, muss sie doch erst einmal wissen, wo die leeren Wohnungen überhaupt sind.
Es geht aber bei der B6 doch vor allem um ungenutztes Bauland.
Mit den neuen PAGs sind unbebaute Grundstücke in der Tat einfacher zu erfassen. Doch man muss auch darauf achten, dass man die Balance hält zwischen der Mobilisierung einerseits und dem, was die Gemeinde überhaupt schafft, andererseits. Wenn sie zu schnell wächst, sind auf einmal die Schulen zu klein, die Kläranlage ist nicht leistungsfähig genug, die ganze Infrastruktur hinkt hinterher. Die nationale Mobilisierungssteuer, die jetzt eingeführt werden soll, bietet uns zudem mehr Rechtssicherheit, auch wenn bis zu ihrer Umsetzung noch einige Fragen geklärt werden müssen.
Ist der Hauptgrund, weshalb vor allem viele Landgemeinden die Grundsteuerklasse B6 nicht eingeführt haben, denn nicht der, dass die Politiker es sich nicht mit der eigenen Familie, den Nachbarn oder den Vereinsmitgliedern verscherzen wollten?
Das denke ich nicht. Wenn das der Grund wäre, würde das Problem in allen Gemeinden auftreten. Eigentümer gibt es schließlich auch in mittleren und großen Gemeinden. Ich glaube, dass die nationale Mobilisierungssteuer auf einer solideren gesetzlichen Basis steht als die Grundsteuerklasse B6.
Sagen sie das, weil Eigentümer/innen aus Diekirch Einspruch vor dem Verwaltungsgericht eingelegt haben, nachdem die Stadt den Grundsteueratz B6 auf 15 000 Prozent erhöht hatte?
Diekirch hat damit jedenfalls bewirkt, dass einige Eigentümer ihre Grundstücke zur Bebauung freigegeben haben, das muss man der Gemeinde anrechnen. Das kann man aber auch erreichen, indem man die Eigentümer direkt anspricht. In Landgemeinden, wo man die Besitzer persönlich kennt, ist das natürlich leichter als im städtischen Raum, wo man es mit großen Immobilienagenturen zu tun hat, die vielleicht andere Interessen verfolgen als Privatpersonen.
Im Rahmen der schrittweisen Reform des Gemeindegesetzes hat Innenministerin Taina Bofferding (LSAP) kürzlich einen Gesetzentwurf hinterlegt, der die Einführung eines Deontologiekodex für Gemeinderatsmitglieder vorsieht. Wie steht das Syvicol zu diesem Entwurf?
Der Deontologiekodex war eine langjährige Forderung des Syvicol. Wir haben aber darauf bestanden, dass er den gleichen Anforderungen entspricht wie die Kodexe, die beispielsweise für die Abgeordneten und die Mitglieder des Staatsrats gelten.
Eine der Hauptforderungen des Syvicol ist, dass die Gemeinden von der Regierung als Partner auf Augenhöhe angesehen werden. Fast die Hälfte der Abgeordneten sind Bürgermeister oder Schöffen, in Ihrer Partei ist dieser Anteil besonders hoch. De facto bestimmen die Gemeinden doch schon mit, zumindest in der Abgeordnetenkammer.
Das Syvicol vertritt die Interessen der Gemeinden, nicht die von Parteien. Unsere Aufgabe ist es auch, die praktische Umsetzung von Gesetzen zu begutachten. Deshalb lassen wir uns bei unseren Stellungnahmen häufig von Kommissionen und Arbeitsgruppen, in denen neben Politikern auch Gemeindemitarbeiter vertreten sind, beraten. In bestimmten Themenbereichen arbeiten wir auch eng zusammen mit Vereinigungen, wie zum Beispiel der Association luxembourgeoise des services d᾽eau. Das eröffnet neue Perspektiven auf die Gesetze. Während der Covid-Krise hat die Zusammenarbeit zwischen Ministerien und Gemeinden sehr gut geklappt. Wir würden das gerne auch auf andere Bereiche ausweiten.
Sie selbst sind Abgeordneter, Bürgermeister von Clerf, Präsident des Syvicol, des Wirtschaftssysndikats Sicler und des Naturpark Our und sitzen im Rat der Gemeinden und Regionen Europas. Wollen Sie sich das alles nächstes Jahr noch einmal antun?
Ich will mich den Wählern noch einmal stellen, ich weiß aber noch nicht, ob ich alle Ämter weiterführen will. Es ist sehr zeitintensiv.
Zu den Gemeinde- und den Kammerwahlen werden Sie aber noch einmal antreten?
Ja.