Beginner’s mind heißt ein Konzept aus dem Zen-Buddhismus, es beschreibt eine offene, von Vorurteilen befreite Haltung – ähnlich die eines Anfängers. Diese Attitüde bedarf viel Übung, denn durch Wiederholung setzt zwangsläufig Frustration ein. Tom Schmit ist seit letztem Sommer als Ranger im Naturpark Oewersauer tätig. Er hat reichlich Erfahrung darin, Dinge mehrmals zu wiederholen und ähnliche Situationen immer wieder zu erleben. Im Gegensatz zu amerikanischen Rangern verfügt er über keinerlei repressiven Befugnisse: Neben Verwaltung, der Kontrolle von Wanderwegen und der Organisation von Aktivitäten für junge Menschen besteht seine Rolle in der sommerlichen Hauptsaison vor allem darin, die Menschen im Umgang mit der Natur aufzuklären und zu sensibilisieren. Bildungsarbeit, sozusagen. Da kommt beginner’s mind gelegen.
Wer den großen, braunhaarigen Mann mit tiefer Stimme trifft, braucht wenig Fragen zu stellen, Tom Schmit erzählt bereitwillig und viel. Stoff hat er genug, im Zuge der Pandemie und der wachsenden Bevölkerung ist es in den letzten Jahren mehrmals zu hohem Besucheransturm am Stauséi gekommen. Soziale Konflikte und Vermüllung haben zugenommen, zuletzt am Wochenende des 18. Juni, als die Dörfer Insenborn und Lultzhausen nachmittags für den Verkehr schließen mussten, die Autos Rettungsgassen und Privatausfahrten zuparkten und die Besucher mitunter aggressiv wurden. Ein gefundenes Fressen für Medien aller Art und Hater auf sozialen Netzwerken. Die Aufmerksamkeits-
ökonomie schlug in gewohnter Weise zu.
An diesem Freitag klirren die Segel der Boote am Strand Liefringen leicht, eine angenehme Brise weht, das Thermometer zeigt 25 Grad an. Die Fondation Cancer hat einen gratis Sonnencremespender installiert, der das UV-Risiko angibt. Am Ufer züngelt das blaugraue Wasser, ein paar Kayakfahrer schweben fast lautlos darüber. Heute ist es ruhig hier, gar besinnlich. Wäre da nicht das Gras, das nicht grün sondern verwelkt aussieht, dessen blasse Gelbbraun-Töne den Strand bedecken. An manchen Stellen sind Brandnarben, wo Grillfeuer die Wurzeln des Grases abgebrannt hat. Die Trockenheit ist allgegenwärtig.
Um die Ecke und einen der Schleichwege runter, an einem der zahlreichen Orte am Ufer, an dem einige es sich nicht nehmen lassen, den Sonnenuntergang mit einem Battin in der Hand, einer Boombox und einem Feuergelage zu erleben, macht Tom Schmit auf die Zigarettenstummel aufmerksam, auf die leeren Energy-Dosen und benutzten Taschentücher im Gebüsch. „Ich finde, es sieht furchtbar hier aus“, sagt er, „vielleicht bin ich auch schon zu fokussiert darauf.“ Je voller die sechs offiziellen Strände werden – Insenborn 1 und 2, Liefringen, Lultzhausen, Burfelt und die Rommwiss in Baschleiden – desto mehr werden die kleinen Buchten belagert. „Ein Funken, der vom Grill oder einer Zigarette rüberfliegt, und hier steht alles in Flammen“, behauptet Tom Schmit. Die CGDIS teilt mit, dass es in den letzten zwei Jahren zu drei größeren Waldbränden in der Region kam, sie sei nicht mehr betroffen als andere, allerdings erschwere die dortige Topografie die Einsätze. Dem Abteilungsleiter Christopher Schuh sei keine Korrelation zwischen diesen Bränden und den Partys bekannt. Eine Anfrage des Land an die Polizei, um die genauen Gründe der Brände zu eruieren, blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Nach einem Auslandsjahr in Kanada, wo Tom Schmit als Landschaftsgärtner in Alberta arbeitete, und ein paar Jahre in einem Bürojob, wollte er dem Bedürfnis, mehr Zeit draußen zu verbringen, Rechnung tragen. Es war auch eine Art Rückkehr, denn er ist in der Gegend des Stausees aufgewachsen und „houfreg drop“. Sein Job befinde sich noch in den Kinderschuhen, er müsse sich viele Wege selber suchen. Eine einfache Aufgabe hat er sich nicht ausgesucht. „Vir dës Aarbecht muss ee breet Schëlleren hunn“, sagt er und wirft hinterher: „Dobäi sin ech schonn e muussegen Typ géif ech soen, mee no fënnef bis sechs Stonnen dobaussen de Weekend“, er hält die Hand vor seinen Hals, „hues du heiansdo esou Bullen“. Ein Deeskalationstraining bei der Polizei hat er bereits absolviert. Er beklagt, viele Besucher würden die Zusammenhänge nicht mehr verstehen, die Instandhaltung, die leise im Hintergrund läuft, um den Aufenthalt in der Natur zu ermöglichen.
Wer ihm zuhört, frönt schnell dem Kulturpessimismus: verlassene Zelte in den Wäldern, aus dem Boden gerissene Infotafeln, vereinzelte Leute, die in den Trinkwasser-Schutzzonen schwimmen gehen, andere, die ein DJ-Pult mit an den See bringen. Und jene, die nachdem sie gebeten wurden, die Musik leiser zu stellen, mit dem Zeigefinger auf andere zeigen, die doch das Gleiche tun. Na, warum werde ich denn jetzt ausgerechnet angesprochen? „In der kleinen Wohnung, in der sie leben, kriegen sie d’Panz gerappt, wenn sie Musik hören – da kann man natürlich auch verstehen, wenn sie sich frei fühlen wollen, wenn sie herkommen.“ Und es seien immer noch Ausnahmen. Diese Differenzierung ist wichtig, hat doch der Diskurs um die Problematik in den letzten Wochen des Öfteren RTL-Kommentarniveau erreicht.
Dabei ballen sich hier tiefgreifende Probleme. Wachsende soziale Ungleichheiten, die aus einer entfesselten Wohnungspolitik resultieren; das gefühlte Ende einer Pandemie, das mit sich bringt, dass manche vielleicht keine Geduld mehr für Einschränkungen jeglicher Art haben und die „verlorene“ Zeit mit noch stärkerer Partywucht aufholen wollen; die Dringlichkeit des Natur- und Umweltschutzes inmitten der Klimakrise, die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Zusammenhalts und achtsamen Miteinanders. Am Stausee zeigt sich im Kleinen die systematische und systemische Selbstzerstörung im Anthropozän.
Er mag ein kleiner Ort in einem kleinem Land sein, in seinen Funktionen als touristischer Anziehungspunkt und als nationales Trinkwasserreservoir seit seiner Inbetriebnahme in 1958 ist der Stau jedoch in vielerlei Hinsicht einzigartig. Im benachbarten Deutschland sind Trinkwassertalsperren, die auch als Naherholungsgebiet fungieren, die Ausnahme. „Ech wees nik wat mer maachen, wa mer dat doen verschéissen“, sagt Tom Schmit mit Hinblick auf die Wichtigkeit des Gewässers. Um den immer komplexer werdenden Herausforderungen der Region gerecht zu werden wurde letztes Jahr die Stausee-Kommission gegründet, mit Vertretern der Gemeinden, der Wasser- und Naturverwaltung, der CGDIS, der Polizei, des regionalen Tourismuszentrums Visit Éislek, des Naturpark Oewersauer, der Trinkwassergesellschaft Sebes, der Straßenbauverwaltung sowie der Umwelt-, Tourismus- und Raumplanungsministerien. Die Gründung hat mehr als dreißig Jahre gedauert. Momentan wird gemeinsam mit einer österreichischen Firma an einem Besucherlenkungskonzept gearbeitet, einer Zonierung, die die Strände nächstes Jahr nach Aktivitäten aufteilen könnte – erholsam, sportlich, musiktauglich. Ein kreativer
Lösungsansatz.
Die Akteure der Region hatten bisher mehrere Maßnahmen ergriffen, um die Situation zu verbessern: Vom Ausbau der Parkplätze – 1 000 gratis in Kombination mit dem Shuttlebus, 700 Zahlplätze –, zur verstärkten Beschilderung hin zur Installation von verankerten Grills
am Fuussefeld.
Léo Rippinger, ehemaliger Schöffe in Esch-Sauer und Mitglied von Déi Lénk, kommt aus Insenborn und lebt seit zwanzig Jahren wieder ganz nah am See. Die Konflikte seien durch die verschiedenen Bedürfnisse vorprogrammiert. In der Praxis funktioniere die Abstimmung zwischen den unterschiedlichen Objektiven wie Tourismus und Umweltschutz nicht, meint er. Den Ranger bedaure er, der habe an den überfüllten Hitzewochenenden alleine keine Chance. Allgemein sieht er die Situation allerdings entspannt, voll sei es an manchen Tagen im Jahr immer schon gewesen. Das sei dann zwar unangenehm, aber keine Katastrophe: „Andere Einwohner in der Gemeinde regt die Situation mehr auf als mich.“
Den sprichwörtlichen Zeigefinger heben etwa Lokalpolitiker. Lösungsansätze zur Verbesserung landen do owen schnell bei verstärkter Polizeipräsenz zur Einhaltung der Regeln. René Michels, Bürgermeister der Stausee-Gemeinde, bemängelt den fehlenden Respekt, es sei eine „éducation de base“ zu leisten, um das „schwere gesellschaftliche Problem“ zu verbessern. Würde man bloß ein bisschen guten Willen zeigen, wäre „alles an der Rei.“ Ein Fan von Einschränkungen sei er nicht. Im anderen Fall bräuchte man vor Ort ja schon 20-30 Polizisten mit Hunden im Einsatz, um die Kontrolle zu gewährleisten. Law & Order, die die Atmosphäre am Stauséi deutlich einschränken würde. Die Anfrage des Land, wie oft die Polizei tatsächlich intervenieren musste, blieb ebenfalls unbeantwortet.
Eine Schließung des Stausees für touristische und Freizeitzwecke aus Umweltschutzgründen erwägt derzeit jedenfalls niemand, immerhin ist er ein Hauptanziehungspunkt des Großherzogtums. Die Nachfrage ist zu groß, es wäre bedauerlich, würde zu sozialer Ausgrenzung führen – aber vor allem könnte es als politisches Scheitern ausgelegt werden. „Mittlerweile wird es als droit acquis gesehen, hier schwimmen zu gehen. Es würde Widerstand aufkommen, wenn das nicht mehr der Fall wäre“, sagt Léo Rippinger. „Et kann ee keen Zonk ronderem maachen“, sagt seinerseits der Bürgermeister von Esch-Sauer Marco Schank (CSV) im Gespräch mit dem Land. Er würde es niemandem verwehren wollen, in seiner Freizeit herzukommen. Die Überlegung, gar keine Autos mehr zum Fuussefeld zu lassen, wurde in der Gemeinde bereits diskutiert, bisher habe man es jedoch in den Griff bekommen. Auch wiederholt er seinen Wunsch nach einem „Masterplan“ für die Strände, der möglicherweise mit der erwähnten Zonierung Gestalt annehmen könnte.
Die Frage nach weiteren Naherholungsgebieten für eine stetig wachsende Bevölkerung und heißer werdende Sommer drängt sich auf. Möglicherweise wird die baldige Eröffnung des Echternacher Sees als Badegewässer den Stauséi etwas entlasten. Zurzeit gibt es sonst nur noch Remerschen und Weiswampach, um in der Natur schwimmen zu gehen.
Der Vorsitzende der Stausee-Kommission und Präsident des Naturpark Oewersauer, Charel Pauly, sprach kürzlich im Wort von der Wiederkehr der Blaualgen, die „das Problem lösen werden“. Den Ansturm werden sie wahrscheinlich bremsen, dem Ökosystem und der Gesundheit schaden sie erheblich. Das extensive Auftreten der Cyanobakterien, die sich in wärmenden Gewässer immer mehr vermehren, ist ein Symptom der Klimakrise – gleichzeitig beschleunigen die Blaualgen diese durch die Produktion von Methangas, das ungefähr 30 mal stärker aufs Klima wirkt als Co2. .