Luxemburgensia

Ferne Sorgen

d'Lëtzebuerger Land vom 26.10.2012

Die Veröffentlichung seines letzten Romans hat Josy Braun im Sommer noch erlebt, die offizielle Vorstellung des Buches am vergangenen Mittwoch im CNL in Mersch schon nicht mehr. „Roman“ ist dabei eigentlich wohl kaum die richtige Beschreibung. Vielmehr handelt es sich bei Keen Däiwel méi, deen nach Herrgotte keeft um einen autobiografischen Entwurf, der lediglich Namen fiktionalisiert, ansonsten aber den Anspruch erhebt, eine wahre Geschichte, nämlich die des Autors, zu erzählen. Das Buch gleicht einer umfassenden Lebenssumme, einer Bilanz, die ausgerechnet keine – und das ist das entscheidende Detail -, „Lebensbeichte“ sein will. Erzählerischer Fluchtpunkt in diesem Buch ist nämlich nicht der in Künstlerbiografien übliche Weg zur künstlerischen Selbstfindung, sondern die allmähliche Emanzipation des Protagonisten Téidy Bourscheit (alias Josy Braun) von seiner katholischen Erziehung und Prägung.
Nach einem kurzen Prolog setzt das Buch mit frühen Erinnerungen ein: Leben auf dem Dorf während der letzten Kriegsjahre, beengte Verhältnisse, noch überall scharfe Munition auf den Feldern, wo die Kinder sie beim Spielen finden, ein besoffener Hemingway, der sich nicht zu schade ist, der biederen Landbevölkerung eine nicht ganz stubenreine Anekdote im Weinkeller eines Gelehrten zu hinterlassen. Téidy lebt in den Nachkriegsjahren mit seiner Familie, den Eltern, den beiden jüngeren Geschwistern, den Großeltern und seinem Onkel Leo, in einem Haus, das für so viele Bewohner gerade groß genug ist. Er macht Hausaufgaben, hütet Kühe, hilft im Haushalt und macht nebenher allerlei dummes Zeug. In der Schule zeigt sich bald, dass der Junge sich zu einer weiteren schulischen Laufbahn eignet – und ehe Téidy so recht weiß, wie ihm geschieht, wird er in ein von Patern geführtes Internat nach Belgien verfrachtet.
Während der erste Teil des Buches, der die frühe Kindheit Téidys behandelt, aufgrund der raffenden, episodischen Darstellung teilweise etwas langatmig ausfällt, nimmt der Roman mit der Aufnahme in „Killburen“ (das meint: Clairefontaine) und der chronologischen Beschreibung der Schuljahre deutlich an Fahrt auf. Téidys Schulzeit entpuppt sich zusehends als „Roman im Roman“, der das Hauptthema am Beispiel der Internatsjahre ein erstes Mal durchspielt und so eine erste Loslösung des Jungen von überkommenen Wertvorstellungen nachvollzieht: Zwar entdeckt Téidy seine Liebe zur Musik und zum Schreiben, zwar findet er gute Freunde und fürsorgliche Mentoren, aber er wird auch mehrmals Opfer sexueller Übergriffe sowohl von einem Geistlichen als auch von älteren Mitschülern. Sein Vertrauen in diese Schule, die ihn mehr und mehr in eine geistliche Laufbahn zu drängen versucht, schwindet vollends, als er Zeuge wird, wie Übergriffe auf Schüler vertuscht werden. Téidy provoziert einen Eklat, indem er mitten in einer Schulstunde das Klassenzimmer verlässt, seine Sachen packt und nach Hause fährt, sehr zum Leid der frommen Eltern und genauso sehr zur Freude seines Onkels Leo, der mit Sicherheit sympathischsten Figur in diesem Buch, der sich nur zur Wahrung des Hausfriedens nicht von den regelmäßigen Kirchgängen ausnimmt.
Diese mutige Entscheidung büßt der Heranwachsende mit seinem Schulabschluss: Da seine belgischen Zeugnisse in Luxemburg nur teilweise anerkannt werden und er zwei Jahre wiederholen müsste, meldet er sich frühzeitig zum Militärdienst. Nach einigen Umwegen verschlägt es ihn von dort zu einer christlichen Gewerkschaft, für die er mehrere Jahre als Sekretär arbeiten wird. Dort dauert es zwar nicht lange, bis ihm der Einfluss des Bistums schon wieder zu schaffen macht, doch es vergehen noch etliche Jahre, bis er sich ganz von dem katholischen Dunstkreis befreien kann.
Die eingehende Auseinandersetzung mit diesem Thema in Keen Däiwel méi, deen nach Herrgotte keeft verweist nicht nur auf ein – sicher nicht nur autobiografisches, sondern allgemein gesellschaftliches – Trauma, das Josy Braun in mehreren seiner Romane zur Sprache brachte (zum Beispiel im Roman Meewäin von 2007). Seine Einfassung in einen Lebensbericht, der schon in den Siebzigerjahren ausklingt, kennzeichnet diese Ausein­andersetzung darüber hinaus als Abgesang auf eine – zum Glück! – vergangene Zeit, in der der Klerus nach Gutdünken in öffentlichen und privaten Angelegenheiten herumfuhrwerken durfte, und reines Gewissen, soziales Ansehen wie beruflicher Erfolg eines jeden Einzelnen vom guten Willen des Dorfpfarrers abhängen konnten. Mit seinem letzten Roman verpflichtet uns Josy Braun auf die Erinnerung an Zeiten, in denen freie Meinungsäußerung und Selbstbestimmung unter diesen Voraussetzungen keine selbstverständlichen Gegebenheiten waren. Womöglich hat der Autor diese Zeiten in ein Buch gebannt, auf dass sie dort bleiben mögen: im Reich der Fiktion.

Elise Schmit
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