Als die britische Regierung in der zweiten Märzhälfte in ihrer Coronavirus-Politik eine Kehrtwende vollzog, am 21. März alle Schulen schloss und zwei Tage später allgemeine Ausgangsbeschränkungen verhängte, war sie stark von einer wissenschaftlichen Studie beeinflusst. Geschrieben hatte sie eine Forschergruppe am Imperial College London um Neil Ferguson, einen der renommiertesten Epidemie-Modellierer der Welt. Sie kam am 16. März heraus und versuchte zu zeigen, was geschehen könnte, wenn das Vereinigte Königreich unternähme, was Premier Boris Johnson am 13. März verkündet hatte: Covid-19 so zu steuern, dass die Bevölkerung durch die Krankheit geschleust wird, um Immunität aufzubauen, ohne dass dabei das Gesundheitssystem zusammenbricht.
Machte man das, so die Studie, und führte an Maßnahmen nur ein, Covid-positiv Diagnostizierte und ihre Familien für 14 Tage in „Haushaltsquarantäne“ zu schicken sowie ein „Social distancing“ für über 70-Jährige anzuordnen, müsse man mit rund einer Viertelmillion Toten rechnen und mit einer Überforderung der britischen Intensivstationen um das Achtfache. Für die USA simulierten die Forscher das auch. Sie kamen für den Fall auf jene „one-point-one million deaths“, von denen Donald Trump wenig später sprach, als er Covid-19 eine „teuflische“ Pandemie nannte und behauptete, das habe er immer gesagt.
Die Luxemburger Regierung hatte solche Politikberatung nicht zur Hand, als sie das Großherzogtum Mitte März innerhalb weniger Tage in den Lockdown schickte, erst kleinere Einschränkungen erließ, am 18. März dann den Notstand ausrief und bis auf essenzielle Aktivitäten das gesellschaftliche Leben weitgehend lahmlegte, wie die meisten Regierungen in Kontinentaleuropa das taten. Damals hatte niemand Simulationen von Szenarien zur Hand; die von Ferguson war die erste ihrer Art, die sich auf andere Länder als China bezog. Zuvor war zum Beispiel an der London School of Hygiene and Tropical Medicine am Beispiel von Wuhan, wo alles begann, ausgerechnet worden, wie wirksam „Social distancing“ sein kann: Würden in Wuhan erst ab Anfang April und nur nach und nach die Berufstätigen wieder zur Arbeit gelassen, ließen sich die Infektionszahlen in der Elf-Millionen-Stadt bis Mitte des Jahres voraussichtlich um mehr als 92 Prozent drücken.
Solche Modellierungen sind ziemlich raffiniert und leistungsfähig. Sie erlauben zu simulieren, inwieweit innerhalb einer Bevölkerung Kontakte stattfinden – oder eben nicht; dazu werden Personen mathematisch als innerhalb eines komplexen Netzwerks Agierende dargestellt. Was sich aus eingeschränkten Kontakten ergibt, wenn die Infektionslage sich so oder so verhält, das Virus diese und jene Eigenschaft hat, und wie all dies sich in Fallzahlen, Hospitalisierten, intensiv Versorgten und Todesfällen niederschlägt, wird mit Algorithmen berechnet, die Hochleistungscomputer erfordern wie den im Kellergeschoss unter der Maison du Nombre in Belval. Der spuckte aus, was die Luxemburger Regierung am Sonntag, dem 3. Mai, an modellierter Politikberatung erhielt, ehe einen Tag später das Kabinett beriet und Premier Xavier Bettel (DP) und Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) am Spätnachmittag des 4. Mai per Livestream ankündigten, die Phase „Bleift doheem“ sei ab 11. Mai aufgehoben. Dann gelte „Phase zwei“, Geschäfte, Kosmetik-und Frisiersalons machten wieder auf, gewisse soziale Kontakte würden wieder erlaubt, Kinderbetreuungseinrichtungen öffneten am 25. Mai.
Inwiefern diese Entscheidungen sich auf die Simulationen vom Vortag gründeten, ist nicht so klar. Politisch getroffen werden müssen sie letzten Endes, dann stehen sanitäre Erwägungen neben wirtschaftlichen und sozialen. Klar ist aber, dass Luxemburg alles andere als über den Berg ist mit Covid-19. Im Sieben-Tage-Schnitt tauchen derzeit noch rund zehn neue Personen täglich als Covid-positiv in der Statistik des Gesundheitsministeriums auf, bei ziemlich gleichbleibender Zahl von Tests um die tausend. Zwischen Mitte April und Anfang Mai waren zusätzlich zu den 178 in diesem Zeitraum als infiziert Erfassten, wahrscheinlich 1 449 Personen zwischen 18 und 79 Jahren mit nur schwachen oder gar keinen Symptomen von dem Virus befallen, so die ersten Erkenntnisse der auf ein Jahr angelegten Con-Vince-Studie der Wissenschaftler-Taskforce Research Luxembourg zur „Dunkelziffer“. Gleichzeitig hatten knapp drei Prozent der 18- bis 79-Jährigen schon Bekanntschaft mit dem Virus gemacht und wiesen Antikörper auf. Soll alles heißen: Covid-19 steht in Luxemburg noch am Anfang und das Coronavirus sehr vielen dafür Empfänglichen gegenüber. Lockert man Beschränkungen, muss man davon ausgehen, dass die Infektionen wieder zunehmen. Die Luxemburger Modellierer von der Wissenschaftler-Taskforce zeigten vor zwei Wochen auf einer Pressekonferenz, dass im März der Covid-19-Ausbruch hierzulande so massiv war, dass er mit einer Übertragungszahl von bis zu 4,2 (ein Infizierter steckt mehr als vier Nichtinfizierte an) stärker war als der in Wuhan. Dazu konnten die Wissenschaftler erstmals Luxemburger Daten nutzen, und sie erklärten, „mit dem Lockdown haben wir gerade noch die Kurve gekriegt“.
Wenn die Frage nun die ist, wie es weitergehen soll, könnte man annehmen, dass die Diskussion um eine Exit-Strategie auf einem Niveau geführt werden kann, wie es noch nie da war: mit hier gewonnenen Daten, mit auf in Belval stationierten Rechnern ermittelten Szenarien und mit einer Wissenschaftler-Expertise in der Hinterhand, die groß ist: Schließlich ist die Biomedizin eine nationale Forschungspriorität und Luxemburg soll ein „Health hub“ werden, wie im Koalitionsvertrag 2018 von DP, LSAP und Grünen steht; was immer damit genau gemeint ist.
Doch so einfach ist das nicht mit der Diskussion. Sie findet vermutlich innerhalb der Regierung statt, vielleicht auch zwischen Regierung und Wissenschaftlern. Weniger aber zwischen Regierung und Parlament und noch weniger in der Öffentlichkeit. Was Luxemburg zum Beispiel von Großbritannien unterscheidet, als die Modellierer-Gruppe vom Imperial College London Szenarien ausrechnete, die später auch die Politik beeinflussen sollten: Nicht nur diese Simulationen wurden öffentlich gemacht, sondern auch die Annahmen hinter ihnen. Simulationen brauchen immer Annahmen. Über die lässt sich auch streiten. Die Gruppe um Neil Ferguson nahm zum Beispiel an, dass von den behördlich in die Quarantäne geschickten Haushalten (ein Covid-infizierter Mensch und seine Angehörigen) nur jede zweite Person das tatsächlich befolgen würde. Das war eine kühne Annahme, die natürlich auch politische Implikationen haben würde und Auswirkungen auf die anderen Szenarien, die die Londoner Gruppe simulierte: Was wäre, wenn man, statt die Bevölkerung durch die Epidemie zu schleusen, Einschränkungen erließe? Dann müssten sie, so die Modellierung, entweder monatelang in Kraft bleiben – bis zu fünf Monate nach dem Modell mit seinen Annahmen – oder nach dem Ein-Aus-Prinzip bald verhängt, bald gelockert werden. Vielleicht zwei Jahre lang, bis ein Corona-Impfstoff da ist.
Das war Mitte März. In Luxemburg dagegen sind mehr als zwei Monate später nur ausgewählte Simulationsergebnisse der Wissenschaftler-Taskforce publik; was ihnen alles zugrunde liegt, nicht. Hierzulande entstehen Covid-Szenarien im Auftrag der Regierung. Was davon an die Öffentlichkeit darf, entscheidet sie. Die heimische Wissenschaft mit ihrer Taskforce Research Luxembourg ist eine Krisen-Taskforce wie andere Taskforces auch. Ihre Öffentlichkeitsarbeit ist zentralisiert, nicht jeder Wissenschaftler kann einfach so mit der Presse sprechen. Das diene, erfahren Journalisten, dem Ziel, der Presse „die besten Informationen“ zu liefern. Was nur eine Umschreibung dafür ist, dass verhindert werden soll, dass ein Wissenschaftler einem anderen öffentlich widerspricht. Die nicht nur von Lockdown-Müden geäußerte Annahme, die Politik werde von Virologen und Epidemiologen dominiert, stimmt nicht nur generell so nicht, weil für politische Entscheidungen Experten-Input nun mal wichtig ist, wenn ein unbekanntes Virus pandemisch umgeht. Sie stimmt speziell in Luxemburg nicht, weil hier gilt, dass Wissenschaft und Forschung nützlich zu sein haben. In normalen Zeiten ist damit unter anderem gemeint, nützlich für wirtschaftliche Diversifizierung und Innovation. So wie im März 2019 die Fedil schrieb, es sei nötig, „de clarifier les principes et limites de la liberté de la recherche publique au Luxembourg“. Dagegen wird während der Pandemie der Nutzen am Beitrag zum Exit aus dem Lockdown gemessen.
Weil Wissenschaft und Forschung in Luxemburg noch jung sind, kommt es dabei zu seltsamen Situationen. Die Regierung auf der einen Seite, die letztendlich entscheiden muss, zumal, wenn sie im Notstand Sondervollmachten hat, erhofft sich von ihrer Wissenschafts-Taskforce eindeutige Handlungsanleitungen. Aber nicht nur sind Simulationen von Epidemie-Szenarien nicht eindeutig. Wissenschaft ist das generell nicht, sondern immer in Entwicklung, so dass die Regierung mit Unwägbarkeiten umgehen muss. Das zeigt sich jetzt, beim Déconfinement, viel mehr als zu Beginn des Ausbruchs: Damals musste gehandelt werden und das geschah auch. „Pilotage à vue“ nannte die Gesundheitsministerin das treffend: Die Regierung traf Entscheidungen mit der Option, später nachjustieren zu können. Den Lockdown zu verlassen, ohne sanitär zu viel zu riskieren, ist dagegen viel schwerer, als Einschränkungen zu verhängen.
Auf der anderen Seite denken Forschungseinrichtungen sich Projekte aus, die beim Déconfinement helfen sollen. Dazu stehen Mittel bereit. Aber ausgerechnet um das ambitionierteste Vorhaben, die Massentests, die das Luxembourg Institute of Health entworfen hat, stellen sich Fragen nach dem Nutzen. „So stelle ich mir Forschung vor!“, hatte der zuständige Minister Claude Meisch (DP) am 28. April proklamiert. Nächsten Dienstag soll er sich auf Antrag der CSV im parlamentarischen Forschungsausschuss erklären.
Eigentlich könnte die Pandemie ein Lehrstück für das Verhältnis zwischen Politik und Wissenschaft und für den Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen liefern. Das würde aber voraussetzen, eine Diskussion über Unsicherheiten zu führen. Vermeiden lässt die sich eigentlich schwer: Ein Covid- beziehungsweise Pandemie-Gesetz muss das Parlament passieren. Die Diskussion darüber wird zwangsläufig öffentlich. Aber ebenfalls öffentlich sollte über kluge und pragmatische Regelungen diskutiert werden, die davon ausgehen, dass Sars-CoV-2 auch nächstes Jahr noch umgehen wird, aber so viel Normalität wie möglich erlauben. Alles gesetzlich zu regeln, geht nicht. Für diese Diskussion müsste die Wissenschaft bereitstehen. Die Öffentlichkeit könnte sich dann ein objektives Bild von ihr machen, statt eines Tages vielleicht auch hierzulande Experten abzulehnen.
In Richtung von so viel Transparenz und Aufgeklärtheit geht die Entwicklung im Moment freilich nicht: Die Taskforce Research Luxembourg hat es noch nicht vermocht, eine Webseite zu erstellen, die Covid-Informationen für die Öffentlichkeit in sinnvoll aufbereiteter Form anbietet. Interessierte finden am meisten unter science.lu des Forschungsfonds, doch dort stehen alle möglichen Wissenschafts-Infos. Das Gesundheitsamt wiederum, die zuständige Behörde, lässt zwar immer mehr Zahlen zur Epidemie ins Internet stellen, interpretiert sie aber nicht öffentlich, sondern überlässt das Premier und Gesundheitsministerin. Diese erklärte gestern, Luxemburg habe es „in der Hand“, das Virus „bei uns auszuhungern“, was für das so offene Großherzogtum eine erstaunliche Behauptung ist. Die Taskforce interpretiert die Zahlen ab und an, aber eigentlich wäre das eine Behördenaufgabe. Gleichzeitig können die Wissenschaftler nicht ohne Weiteres der Regierung widersprechen, denn wer dann sagt, es könnte so, aber auch so kommen, nützt nicht. Die Regierung schließlich hat Angst, etwas falsch zu machen. All das sollte in der „Wissensgesellschaft“ natürlich nicht so sein, aber dieser Begriff war immer vor allem einer für Fensterreden.