Plötzlich ging alles ganz schnell. Am Donnerstagnachmittag vorvergangener Woche war Claude Meisch mit ernster Miene vor die versammelte Presse getreten. Es sei der Moment gekommen, „sich Sorgen zu machen“, „ernsthaft Sorgen“, setzte der DP-Bildungsminister nach. Es werde einige überraschen, er habe selbst vor zwei Tagen nicht gedacht, dass es so weit kommen könnte, aber: Ab Montag blieben alle Schulen im Land für zwei Wochen geschlossen. Grundschulen und Musikschulen stellen um auf Distanzunterricht. Nur Examensschüler/innen werden weiterhin in der Schule betreut.
Rasanter Anstieg Die Schließungen seien Folge des rasanten Infektionsgeschehens in den Schulen der vergangenen Tage, so der Minister, der seine Entscheidung auf drei Beobachtungen stützte: Vor den Ferien sei die Entwicklung der Infektionszahlen in der Schule in etwa der in der Gesamtbevölkerung gefolgt. Nun sei die Zahl der Neuinfektionen binnen einer Woche von 158 auf 260 Fälle gestiegen. „Das ist eine Steigerung von 64 Prozent“, unterstrich Meisch. Die Entwicklung habe sich „entkoppelt von der Gesellschaft“. Zudem seien vermehrt Infektionsketten aufgetreten, wonach ein Schüler oder eine Lehrerin weitere Personen angesteckt hätten: 98 Fälle seien in den Stufenszenarien 2 bis 4 registriert worden, davon 25 allein im Szenario 4. Das seien mehr als im Dezember, obwohl vor den Ferien insgesamt mehr Covid-19-Positive zu verzeichnen waren.
Die dritte Beobachtung ist wahrscheinlich die beunruhigendste: In den Schulen, wo das Virus grassiert, scheint es sich schneller als bisher zu übertragen: Waren es vorher ein oder zwei Wochen bis zu weiteren Ansteckungen, sind es nun Stunden oder Tage, so dass die mobilen Teams, die die Kontakte nachrecherchieren, kaum hinterherkommen. „Wir müssen davon ausgehen, dass die britische Variante in den Schulen angekommen ist“, warnte Meisch.
Dieses Gesamtbild sei der Grund, dass er auf die Bremse trete, so der Minister sinngemäß. Die Kehrtwende kommt in der Tat überraschend: Am selben Tag waren die Abgeordneten der Schulkommission zusammengekommen, da war von Schulschließungen keine Rede gewesen, ärgerte sich CSV-Fraktionschefin Martine Hansen, die schulpolitische Sprecherin ihrer Partei ist. Nach den Weihnachtsferien hatte der Minister noch keine Notwendigkeit gesehen, mit verstärkten Schutzmaßnahmen zu reagieren, da war die britische Variante des Sars-CoV-2-Virus bereits einige Wochen im Umlauf. Allerdings hatten Labor-analysen in Luxemburg bis vorvergangene Woche nur 47 Fälle von B.1.1.7 detektiert. Dann folgten die Quarantänen in der Grundschule in Waldbillig, die im Fousbann in Differdingen und schließlich in mehreren Schulen in Schifflingen, wo der komplette Zyklus 2 vorsorglich nach Hause geschickt wurde.
Mutanten sind da Seitdem herrscht Funkstille. Die Abgeordneten warten auf weitere Informationen, an diesem Freitag sollen die Ergebnisse der Genanalysen vom Nationallaboratorium kommen. „Wir gehen davon aus, dass es die britische Variante ist“, sagt Martine Hansen. In den Schulen und vor allem in vielen Familien sind Aufregung und Unverständnis groß: Eltern mussten von heute auf morgen umstellen und die Betreuung ihrer Kinder neu planen. Bei einem Kind mag das vielleicht gehen, bei zwei oder drei oder gar als alleinerziehendes Elternteil ist das eine kaum zu bewältigende Zusatzbelastung. Eltern, die ihr Kind nicht daheim betreuen können, sollen daher in dieser Zeit den Sonder-Elternurlaub beantragen können.
Hat Claude Meisch überreagiert? Die Entscheidung des Ministers ist vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen im Ausland mit den Virus-Muta-tionen verständlich: Die britische Variante B.1.1.7 war zuerst in Großbritannien im November entdeckt worden. Dort waren Schulleitungen und Forscher/innen aufgeschreckt, nachdem gerade in Grundschulen das Virus plötzlich stärker zirkulierte und mehrere schließen mussten. Genanalysen zwischen Ende November und Mitte Dezember zufolge schien die Variante stärker unter Kinder zu zirkulieren als in anderen Altersgruppen, weshalb die Forscher/innen zunächst davon ausgingen, die Mutante übertrage sich zwischen Kindern schneller als zu Erwachsenen. Eine Studie des britischen Gesundheitsamts vom Januar stellte dann fest, die Variante übertrage sich in allen Altersgruppen schneller. Dass Kinder den größeren Anteil der Infizierten stellten, erklärten sich die Expert/innen nunmehr damit, dass Schulen in Großbritannien länger geöffnet waren, während Geschäfte und Büros Ende des Jahres auf Anweisung der Regierung geschlossen blieben.
Schulen sind keine Inseln Die Europäische Gesundheitsbehörde ECDC betont in einem technischen Bericht zu Covid-19 bei (Schul-)Kindern vom 23. Dezember 2020 den „negativen Impakt von Schulschließungen“ und empfiehlt, sollten sie aufgrund hoher Infektionszahlen notwendig sein, zuerst die älteren Schüler/innen und höhere Klassen nach Hause zu schicken. Eine Studie aus den Niederlanden hatte gezeigt, dass die Schließungen der Sekundarschulen den größten Einfluss auf das Gesamt-Infektionsgeschehen hatten.
In Luxemburg stechen derzeit vor allem Grundschulen mit hohen Infektionszahlen hervor. Nun ist Claude Meisch kein Minister, der leichtfertig Kinder nach Hause schickt. Im Gegenteil: Er hat stets versucht, die Schulen und Kindergärten so lange wie möglich geöffnet zu lassen – und es bis zum Äußersten ausgereizt: Anders als er heute sagt, hatte Meisch sich lange Zeit gegen die Erkenntnis gesträubt, dass das Infektionsgeschehen in den Schulen sehr ähnlich verläuft wie in der Gesamtpopulation. Sondern Schulen vielmehr als Inseln dargestellt. Dabei war spätestens Mitte Oktober klar gewesen, dass sich das Infektionsgeschehen in den Schulen zunehmend exponentiell entwickelte. Auch die ECDC-Datenanalyse von August bis Ende Dezember bestätigt, dass die Covid-19-Ansteckungsraten bei Kindern in jenen EU-Ländern stiegen, wo die Ansteckungsrate in der Gesamtbevölkerung hoch war. Ausgerechnet für das Kapitel Cluster-Aufkommen in Schulen fehlen Angaben über Luxemburg. Meisch hatte zunächst, Clusterbildungen in Schulen heruntergespielt.
Tatsächlich ist die Lage hierzulande kritischer und unsicherer als im Oktober. Die Varianten aus Südafrika und Großbritannien „ändern das Spiel völlig“, so der Präsident des französischen Wissenschaftsrats, Jean-François Defraissey. Britische Forscher schätzen, die Coronavirus-Mutante B.1.1.7 könnte „zwischen 50 bis 60 Prozent ansteckender sein“. Für das Contact-Tracing in den Schulen bedeutet das, dass die Gesundheitsbehörden durch die schiere Geschwindigkeit, mit der sich B.1.1.7 verbreitet, nicht nachkommen und herkömmliche Isolierungsmaßnahmen nicht wie sonst funktionieren. Deshalb wurde dazu übergegangen, ganze Klassen und sogar Zyklen in Quarantäne zu schicken – in der Hoffnung, so das Virus doch noch auszubremsen.
Fraglich ist aber, ob das ausreichen wird: Sind die Schutzmaßnahmen, die Tests und das Contact-Tracing geeignet, die Mutationen in Schach zu halten? Die CSV fordert FFP2-Masken für alle in der Schule. Ein diese Woche veröffentlichtes Schutzkonzept des deutschen Bildungsministeriums, für das 40 Covid-19-Studien ausgewertet, mehrere Fachgesellschaften zu Rate gezogen sowie Schulakteure gehört wurden, sieht FFP-2-Masken nur für Schüler/innen und Lehrer/innen mit besonderem Risiko für schwere Covid-19-Erkrankungsverläufe vor. In Österreich sind, wie in Luxemburg, Kinder bis sechs Jahre von der Maskenpflicht ausgenommen, zwischen sechs und 14 Jahren darf auch ein anderweitiger Mund-Nasen-Schutz verwendet werden, eine FFP2-Vorschrift gilt ab 14. Hierzulande hat das Bildungsministerium 40 000 FFP2-Masken für Grundschulen und Kompetenzzentren bestellt, um Lehrer besser zu schützen. Zu wenig, findet die Lehrergewerkschaft SNE, die die Maßnahme als „blinden Aktionismus“ kritisiert.
Wachsende Skepsis? Eine aktuelle Studie der Technischen Universität Berlin ergab, dass Menschen in Büros und Schulen einem deutlich höheren Risiko ausgesetzt sind als etwa im Theater oder beim Friseur – sofern die gängigen Hygiene-, Abstands- und Lüftungsregeln eingehalten werden. Der entscheidende Faktor scheint die Aufenthaltsdauer zu sein: Im Klassenraum sitzen Kinder oft mehrere Stunden zusammen. Die Leitlinien empfehlen daher regelmäßiges Lüften mit Unterstützung von Luftfiltern, sowie das Teilen von Klassen bei abwechselndem Distanz- und Präsenzunterricht. Die meisten dieser Maßnahmen sind in Luxemburg, das muss man Minister Meisch zugutehalten, seit Monaten Praxis. Bei der Belüftung bestehe an Schulen Verbesserungsbedarf, erzählen Lehrer. Und beim Gesichtsschutz. Der Nachteil von FFP2-Masken statt Buffs: Sie behindern stärker beim Reden und werden von kleinen oder sensibleren Kindern oft abgelehnt.
Doch Gesundheitsexperten schlagen Alarm: In Luxemburg gibt es bislang keine Aktionen wie in Deutschland oder in Frankreich, wo Psycholog/innen, Therapeuten und Kinderärztinnen per offenem Brief oder Le Monde vor den psychologischen Folgen der Kontaktbeschränkungen warnen. Aber auch hierzulande sorgen sich Schulpsychologinnen und Allgemeinmediziner um die langfristigen Folgen von Schulschließungen, fehlendem Sport und Distanzregeln. Um die Schulen trotz Mutanten geöffnet zu lassen, werden Lehrkräfte und Eltern mehr noch als bisher auf die Einhaltung der Schutzmaßnahmen pochen müssen. Keine einfache Aufgabe, denn der Minister sieht sich einer lauter werdenden Schar von Corona-Skeptikern in der Lehrerschaft gegenüber. Wie groß diese ist, ist unklar, denn die 120 Lehrer, die sich per Unterschriftenaktion gegen das Tragen von Masken im Klassensaal aussprachen, trauten sich nicht, ihre Forderung mit Klarnamen zu unterschreiben, sondern schickten einen Anwalt vor.
Vertiefter Bildungsgraben Das Ministerium braucht jede Lehrkraft: Mit anhaltender Dauer, so steht zu befürchten, nehmen die Lerndefizite zu und sie treffen die ohnehin Benachteiligten und Verletzlichen besonders. Kinder und Jugendliche und ihre Entwicklung, da sind sich die Expert/innen einig, leiden besonders unter den Kontaktbeschränkungen. Seit Monaten kann von einem regelhaften Unterricht nicht die Rede sein. Obschon viele Lehrkräfte sich bis an die Grenzen des Machbaren bemühen, ersetzt das Homeschooling das Lernen im Klassenzimmer nicht. Lernen ist eine soziale Interaktion, es lebt vom gegenseitigen Austausch.
Eltern sind überfordert nicht nur durch die schiere Menge an Hausaufgaben, die einige Lehrkräfte aufgeben, sondern weil nicht selten von ihnen verlangt wird, den Kindern neue Inhalte beizubringen: Dem Land sind zahlreiche Beispiele überliefert, wonach Kinder daheim neue Rechenweisen oder Grammatikformeln anwenden sollten, ohne dass diese zuvor in der Klasse geübt worden wären. Bis heute fehlt eine unabhängige Analyse über Qualität und Reichweite des Homeschooling. Die CSV hatte eine solche im Oktober gefordert, sowie ein besseres Angebot für Hausaufgaben auch online. Überhaupt bemängelt die Opposition die „fehlende Antizipation“ der Regierung bei ihrem Krisenmanagement.
Die Covid-Kids-Studie der Uni Luxemburg, die die Auswirkungen des ersten Lockdown auf Kinder und Jugendliche untersucht hat, allerdings online, hatte ein Forscherteam nebenher und ohne finanzielle Hilfe organisiert. „Um jene Kinder zu erreichen, die sozial benachteiligt sind und die vielleicht zuhause keinen Computer haben, müssten wir die Studie ausdehnen“, so Wissenschaftlerin und Studienleiterin Claudine Kirsch. Bisher habe sich kein Geldgeber dafür gefunden. Ergebnisse der landesweiten Leistungstests Épreuves standardisées könnten Aufschluss über Corona-bedingte Lerndefizite geben, sind aber erst ab Ende März verfügbar.
Die britische Haushalts-Längsstudie Understanding Society zufolge kamen nur vier von zehn Schülern in den Genuss von vollem Online-Unterricht während des ersten Lockdown, im Oktober waren es etwas mehr, nämlich sechs von zehn. Bei rund einem Viertel fiel der Unterricht ersatzlos aus, das entspricht landesweit rund 2,5 Millionen Schüler/innen. Die Bildungsschere klafft zwischen jenen, die Privatschulen besuchen und jenen, die in die öffentliche Schule gehen, besonders weit auseinander. Im September ließ die Online-Testplattform No More Marking an 644 Sekundarschulen schriftliche Tests schreiben: Demnach zeigten die 112 000 Schüler/innen Rückstände von bis zu 22 Monaten.
Und Luxemburgs Schulminister? Claude Meisch will trotz alledem an den Sommerferien in voller Länge festhalten, so seine Antwort gegenüber Journalist/innen (die nicht nachgehört werden kann, weil der Informationsdienst der Regierung die Fragen der Presse neuerdings aus den Aufzeichnungen entfernt). Seine starre Haltung wird Claude Meisch wahrscheinlich schon bald überdenken müssen: „Es spricht vieles dafür, dass es in Luxemburg nicht anders sein wird und insbesondere die ohnehin benachteiligten Schülerinnen und Schüler am stärksten in ihren Leistungen abgefallen sind“, ist Claudine Kirsch überzeugt.