d’Lëtzebuerger Land: Überall wird von der Corona-Generation gesprochen, wenn es um Kinder und Jugendliche in der Pandemie geht. Machen Sie sich Sorgen?
Nathalie Keipes: Ja. Wir machen uns wirklich Sorgen. Wir stellen fest, dass weniger Jugendliche zu uns kommen. Und die, die kommen, haben ernste Probleme und brauchen mehr Beratung.
Manche Politiker/innen sprechen bereits von einer verlorenen Generation.
Ich finde die Bezeichnung unglücklich, denn sie klingt nach Hoffnungslosigkeit und entmündigt die Betroffenen. Wir wollen Perspektiven aufzeigen.
Mit welchen Problemen kommen die Jugendlichen zu Ihnen?
Viele kommen mit Ängsten oder regelrechten Angststörungen zu uns. Die Isolation setzt ihnen zu. Andere fürchten sich, wieder in die Schule zu gehen und trauen sich nach fast vier Wochen ohne Unterricht nicht, in Kontakt zu treten, haben Versagensängste. Außerdem stellen wir fest, dass viele Kinder grundsätzliche Fragen oder Zweifel haben, was der Sinn des Lebens ist, wo ihr Platz ist in der Welt.
Eine Schülervertreterin sagte d‘Land: „Wir sind auch eine Risikogruppe, nur nicht im medizinischen Sinne.“ Stimmt es, dass die Jungen es vielleicht sogar schwer haben als die Alten?
Die Jugend ist eine Phase des Übergangs, in der sich Jungen und Mädchen ausprobieren, sich an Erfahrungen und auch an Mitmenschen reiben. Das geschieht hauptsächlich mit den Freunden, aber nicht nur. Wegen Corona sind die sozialen Kontakte aber nur sehr eingeschränkt möglich. Der Sport, die Freizeitaktivtäten – das meiste, was Ausgleich gibt, ist weggefallen.
Stattdessen sind viele zuhause in den Familien.
Ja. Und da spitzen sich Konflikte zu. Weil man sich schlechter aus dem Weg gehen kann. Das gilt auch für die Erwachsenen. Wenn die Möglichkeit, rauszugehen, fehlt, wirken Mitmenschen wie ein Spiegel: Man ist seinen Stärken und Schwächen stärker ausgesetzt. Wir werben in unseren Beratungen für mehr gegenseitiges Verständnis.
In den Medien dominiert oft das Bild einer hedonistischen, rücksichtlosen Jugend, die trotz Corona lieber feiert.
Soziale Kontakte bei Jugendlichen bedeuten Freundschaften, Liebe, Sexualität – und auch Party. Das ist ein Raum, wo erfahrungsgemäß experimentiert wird, wo junge Menschen Risiken eingehen, sich austesten und auch mal über die Stränge schlagen. Aber das ist ein wichtiger Lernprozess. Die Jugend wurde schon vor der Corona-Pandemie kritisiert als laut, egoistisch oder rücksichtlos. Aber sie jetzt zu stigmatisieren, hilft nicht und erhöht nur den Druck. Wegen Corona sind ihre Ausdrucksmöglichkeiten beschränkt, und nicht wenige leiden sehr darunter.
Wie kann ihnen geholfen werden? Zumal sie weniger in der Schule sind und daher weniger Zugang zu den Schulpsycholog/innen haben.
Die Psychologen in der Schule oder auch die Erzieher in den Jugendhäusern sind die erste Anlaufstelle. Darüber hinaus wollen wir die Lehrer verstärkt einbinden: Sie sind oft die ersten, die Kontakt zum Kind haben, sie können die Zeichen lesen. Dafür haben wir jetzt einen Leitfaden entwickelt, um auf die Wichtigkeit der beobachtenden Haltung aufmerksam zu machen, Wege für Gespräche aufzuzeigen und weitere Anlaufstellen für Kinder in Not zu nennen.
Im Herbst erzählten uns mehrere Schulleitungen, viele Schulpsychologen seien ins schulinterne Tracing eingespannt und könnten deshalb kaum Jugendliche sehen.
Es ist gut, dass die Schule ins Tracing eingebunden ist, die Cepas-Mitarbeiter haben in der Tat oft den ersten Kontakt mit den Eltern bei Covid-Verdachtsfällen übernommen. Es stimmt aber, dass wir im Dezember einen Höhepunkt erreicht hatten, wo die Mitarbeiter einer Dauerbelastung, auch über die Wochenenden, ausgesetzt waren und gewisse Angebote hauptsächlich in der Prävention nicht mehr stattfinden konnten.
Funktioniert das schulpsychologische Angebot in den Schulen jetzt wieder normal?
Nein. Wir arbeiten weiterhin eingeschränkt und nehmen uns vorrangig Zeit für die akuten Fälle. Wichtig wäre, dass die außerschulischen Aktivtäten, die jetzt noch angeboten werden, weiterlaufen. Weil gerade die wichtig sind, um den Kontakt zu den Jungen und Mädchen aufzunehmen und Vertrauen aufzubauen.
Wie gut schätzen Sie den Zugang Ihrer Dienste zu den Kindern und Jugendlichen ein? Gibt es Schüler/innen, die Sie gar nicht erreichen?
Es sind insgesamt weniger Jugendliche, die sich bei uns melden. Die, die kommen, haben oftmals bereits Symptome entwickelt. Wie gut wir trotz Corona die Schüler erreichen können und konnten, wird sich, fürchte ich, erst zeigen. Wir versuchen aber, kontinuierlich unseren Zugang zu verbessern.
Tatsächlich existiert nach wie vor kein regulärer Unterricht, sondern Schulen funktionieren mit A/B-Wochen. Vieles läuft virtuell. Sind Ihre Beratungsangebote auch virtuell?
Wir haben viel Kontakt über Telefon, machen aber auch Präsenzberatung. Wir überlegen jetzt, was wir tun können, um die Kinder und Jugendlichen besser zu erreichen. Die psychologischen Dienste innerhalb der Schulen sollten vielleicht verstärkt in die Klassen gehen oder sich überlegen, wie sie in der Schule einen niedrigschwelligen Zugang zur Beratung anbieten können.
In der Schule sind Ihre Mitarbeiter meist in einem Extrasaal oder Flügel untergebracht, die Jugendliche, die das wünschen, aufsuchen. Andere werden vom Lehrpersonal oder der Direktion geschickt.
Ja. Diese Struktur müssen wir überdenken, wenn wir die Kinder im Lockdown erreichen wollen. Vielleicht müssen wir uns umorientieren von eher klassischen Komm-Strukturen zu aufsuchenden. Lehrer sollten geschult sein, Zeichen mentaler Not zu lesen – dann können wir einschreiten. An solchen Weiterbildungsangeboten feilen wir jetzt.
Lehrer sind als Ansprechpersonen wichtig, wenn es darum geht, Vernachlässigung und Missbrauch zu detektieren. Wie kann das unter Coronabedingungen gehen?
Wichtig ist, eine aufmerksame Haltung einzunehmen, den Schülern zuzuhören, Gesprächsangebote zu machen und auch kleine Alarmsignale mitzubekommen. Oder nachzufragen, wie es einem Schüler daheim geht, wenn man merkt, er wirkt bedrückt.
Als der erste Lockdown verkündet wurde, hat das Bildungsministerium eine Hotline eingerichtet, an die sich Eltern und auch Schülern, die Fragen oder Sorgen hatten, wenden konnten. Wurde sie viel genutzt?
Am Anfang schon, später wurde es deutlich weniger. Einige wollte psychologischen Rat, andere eher Tipps zum Lernen. Tatsächlich stehen auch Eltern unter Druck: durch das Homeoffice, durch Homeschooling. Das alles unter einen Hut zu bekommen, hat sicher viele überfordert.
Gibt es Lehren, die Sie und Ihre Mitarbeiter/innen aus der Corona-Pandemie für Ihre Arbeit schon jetzt gezogen haben?
Wir waren viel mit der organisatorischen Bewältigung der Krise beschäftigt und müssen verstärkt schauen, was Corona für das Wohlbefinden der Jugendlichen bedeutet – und wie wir ihre Lage konkret verbessern können. Die Schule ist nicht nur ein Lernort, sondern auch ein Lebensort. Es gelingt uns sehr viel schwerer, diese Räume ins Virtuelle zu übertragen. Darin liegen vielleicht die Grenzen, wenn wir uns nur auf die Digitalisierung fokussieren.
Mehrere Studien analysieren, wie sich das mentale Wohlbefinden der Jugendlichen durch die Pandemie verändert hat. Gibt es da ein neues Bewusstsein?
Ich denke schon, dass die Krise ein Treiber ist, um sich verstärkt Gedanken um die mentale Gesundheit unser Kinder und Jugendlichen zu machen und das Thema zu enttabuisieren. Es kann nicht sein, dass wir verunsichert sind, den anderen zu fragen: Wie geht es Dir? Insgesamt wäre es schön, wenn wir unsere Strukturen, und speziell die Schulen, jugendfreundlicher und ganzheitlicher gestalten würden. Wir sind uns aber bewusst, dass diese Ziele langfristig angegangen werden müssen.