Anderthalb Stunden lang beantworteten am Mittwochabend Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) und Gesundheitsamtsdirektor Jean-Claude Schmit in einem Online-Chat Fragen der Öffentlichkeit zu den Corona-Impfungen. Das Ministerium hatte sich lange zurückgehalten und hat auch jetzt noch keine regelrechte Impfkampagne gestartet. „Wir wollen unser Pulver nicht zu früh verschießen, denn noch ist genug Impfstoff da“, lautete die Begründung, und auch am Mittwoch erwähnte Paulette Lenert immer wieder die „vielen Unbekannten“, die es noch gebe.
Schon wahr: Wegen der Lieferengpässe ist auch Luxemburg in eine schwierige Lage geraten. Eigentlich war gehofft worden, bis Jahresende 80 Prozent der Bevölkerung impfen zu können. Am Mittwoch wollte Jean-Claude Schmit erst nach einigem Zögern auf die Frage antworten, wann, „wenn man ganz optimistisch ist“, die sechste und letzte Phase im Impfplan erreicht werden könne: „Vor dem Sommer, aber das können wir heute nicht versprechen.“
In Phase sechs (siehe „In sechs Phasen) würden 16- bis 54-Jährige geimpft sowie Personen in „prekären Wohnverhältnissen“ und „durch ihre berufliche Tätigkeit besonders Exponierte“. Die beiden letztgenannten Gruppen sind eine Umschreibung für Strafgefangene, Schwarzarbeiter, Obdachlose und wer sonst womöglich durchs Raster fällt, um schon in Phasen zuvor geimpft zu werden.
Zurzeit aber dauert Phase eins noch an. Jeweils um die 50 Prozent des Personals von Spitälern und Pflegeeinrichtungen und ein ähnlich hoher Anteil der Bewohner/innen von Alten- und Pflegeheimen haben wenigstens ihre erste Injektion erhalten. Bis zum vergangenen Wochenende waren 23 000 Impfdosen von Biontech/Pfizer beziehungsweise Moderna geliefert worden, ausreichend für 11 500 Personen. In den nächsten Tagen wird mit 11 700 Dosen von Astrazeneca gerechnet, von denen ebenfalls je zwei pro Person verabreicht werden müssen. „Damit kommen wir in Phase eins schneller voran“, sagte die Gesunmdheitsministerin am Montag.
Wie es danach weitergeht, ist hierzulande so unklar wie in den anderen 27 EU-Staaten. Aus den Sammelbestellungen, die die EU-Kommission getätigt hat und die nach der Einwohnerzahl weiterverteilt werden, stehen Luxemburg jeweils 0,14 Prozent zu. Insgesamt macht das 1,8 Millionen Dosen verschiedener Hersteller aus. Fragt sich nur, ob alle diese Vakzine ihre Zulassung durch die EU-Medikamentenagentur EMA erhalten werden und wann. Anschließend fragt sich, wann sie eintreffen. Die für ein paar hundert Millionen Euro von der EU-Kommission bei dem französischen Hersteller Sanofi georderten Vakzine zum Beispiel wird es, wie die Dinge liegen, wohl nie geben. Biontech und Pfizer hatten vor zwei Wochen für helle Aufregung gesorgt, weil statt der versprochenen 80 Millionen Dosen nur 31 Millionen im Laufe des ersten Quartals an die EU lieferbar seien. Der Hersteller Astrazeneca, der für seinen Impfstoff erst vergangene Woche die EU-Zulassung erhielt, hat seine seine vertraglich bis Ende März zugesagte Liefermenge auf ein Drittel reduziert. Vergangenen Sonntag sagten Biontech/Pfizer auf einem „Impfgipfel“ mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu, ihre Lieferungen auf 40 Millionen Dosen aufzustocken; die Hälfte des ursprünglich Versprochenen. Vielleicht spielten dabei die Drohungen führender Politiker wie EU-Ratspräsident Charles Michel eine Rolle, „Zwangslizenzen“ zu vergeben: In dem Fall würde der Patentschutz für die Impfstoffe suspendiert und anderen Herstellern die Produktion erlaubt.
Während in größeren Ländern wie Deutschland die politischen Wogen hochschlagen, der bayerische Ministerpräsident sich vorstellen kann, eine „Kriegswirtschaft“ auszurufen, in der die Impfstoffproduktion staatlich kontrolliert würde, herrscht in Luxemburg Ruhe und es fiel kaum auf, dass die Piratenpartei sich am Dienstag einer Erklärung den deutschen Piraten anschloss und für Zwangslizenzen plädierte. Aber Luxemburg hat organisatorische Probleme, für die nicht die aktuelle Knappheit die Ursache ist: Die unterschiedlichen „Vulnerabilitäten“ zu definieren, nach denen die davon betroffenen Personen laut Impfplan nach und nach versorgt werden sollen, ist vergleichsweise einfach. Darüber soll der Conseil supérieur pour maladies infectieuses sich bis Ende der Woche äußern. Schwieriger würde es, diese Menschen zu erfassen. Ein zentrales Krankheitsregister existiert nicht. Wie das Gesundheitsministerium sich die Lösung bisher vorstellt, sollen die niedergelassenen Ärzt/innen und die Spitäler helfen, die Betreffenden aufzuspüren. Diese würden ihre Vulnerabilität bescheinigt erhalten, die behandelnden Ärzt/innen veranlassen, dass die Gesundheitsdirektion eine Impfeinladung verschickt. Wie verhindert werden soll, dass dennoch jemand unentdeckt bleibt, und ob die Ärzt/innen imstande wären, den zu erwartenden Ansturm zu bewältigen, wollte das Gesundheitsministerium nicht kommentieren. Darüber würden Gespräche mit dem Ärzteverband AMMD und dem Cercle des médecins-généralistes geführt. Kommuniziert werde „zu gegebener Zeit“. AMMD-Präsident Alain Schmit äußerte sich dazu ebenfalls nicht.
Es handelt sich dabei um keine Detailfrage. Für den Mikrobiologen und Epidemiologen Michel Pletschette, der an der Universität München forscht und zuvor bei der EU-Kommission eine Abteilung zur Bewertung sanitärer Politiken leitete, können je nach Definition 20 bis 40 Prozent der Luxemburger Bevölkerung als mehr oder weniger „vulnerabel“ gelten. Pletschette hielte es für einfacher, Daten der CNS über den Verbrauch von Medikamenten heranzuziehen, die für die jeweiligen Vulnerabilitäten verschrieben werden. Die Impferfolge in Israel und Großbritannien seien nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass im Vereinigten Königreich der öffentliche National Health Service die Impfungen managt und in Israel die vier dort existierenden Krankenkassen alle Impfungen von Personen ab 60. In Israel waren am gestrigen Donnerstag 60 Prozent der Bevölkerung geimpft, in Großbritannien 15,5 Prozent. Die beiden Länder belegen Platz eins und zwei in der Statistik des Online-Portals Ourworldindata.
CNS-Präsident Christian Oberlé erklärt, dass mit dem Gesundheitsamt schon darüber diskutiert wurde, ob der Verbrauch verschreibungspflichtiger Medikamente herangezogen werden könnte. „Allerdings besteht die nötige legale Basis noch nicht, um diese personenbezogenen Informationen auszutauschen.“ Es werde „gehofft, dass im Interesse der Patienten Fortschritte gemacht werden können“. Auch die Sprecherin des Gesundheitsministeriums, Monique Putz, verweist darauf, dass diese Daten „sensibel“ seien. Leider aber lässt sich nicht ausschließen, dass die Zurückhaltung politische Gründe haben könnte: Artikel 9 der EU-Datenschutzgrundverordnung erlaubt ausdrücklich die Verarbeitung personenbezogener Gesundheitsdaten im Fall einer sanitären Krise. Welcher weiteren legalen Basis es bedarf, kommentierten weder der CNS-Präsident noch das Ministerium.
Doch zur Beantwortung solcher Fragen bleibt angesichts der Impfstoffknappheit noch Zeit. Schwerer wiegt vielleicht, dass die Infektionslage sich erneut verschlechtert. Am Mittwochabend lag nach Zahlen von Dienstag der Sieben-Tage-Schnitt der Neuinfektionen bei 148; das sind 20 mehr als Mitte Januar und eine Größenordnung, in der die manuelle Kontaktnachverfolgung nicht mehr klappt. Die Zahl der aktiven Infektionen war mit 2 449 um 200 höher als eine Woche vorher, die der Covid-Intensivpatienten mit 14 zwar noch niedrig, doch sie könnte steigen, da es mehr Infektionen gibt. Inwiefern die bisherigen Impfungen dieses Risiko senken, kann noch niemand wissen. Regelrecht besorgt war am gestrigen Donnerstag Bildungsminister Claude Meisch (DP) über zunehmende Infektionen an Schulen und Betreuungseinrichtungen (siehe S. 4). So dass die Regierung bei der Aktualisierung des am 21. Februar auslaufenden Covid-Gesetzes entweder neue Restriktionen ins Auge fassen dürfte oder die Beibehaltung der bestehenden.
Zumal zwar einerseits fast täglich Meldungen über hoffnungsvolle Impfstoffkandidaten um die Welt gehen. Darunter die über eine bemerkenswerte Wirksamkeit des russischen Vakzins Sputnik V, das auf demselben Ansatz beruht wie das von Astrazeneca und für das ein Zulassungsantrag in der EU gestellt wurde. Andererseits aber überschlagen sich Nachrichten über Virusmutationen, die ansteckender sind. Das scheint bisher die Wirkung der Impfstoffe noch nicht zu beeinträchtigen. „Die britische und die südafrikanische Variante haben offenbar keinen so großen Einfluss auf die durch Impfung gebildeten Antikörper“, sagt Michel Pletschette. Die brasilianische Va-
riante dagegen sei weniger gut studiert, und sie komme aus einer Gegend Brasiliens, in der drei Viertel der Bevölkerung schon eine Covid-Erkrankung durchgemacht haben. „Das kann sie problematisch machen.“
Am Donnerstag war auch der Schulminister in Aufregung um Mutationen. Die naheliegende Antwort wäre natürlich, schnell zu impfen – wenn das so einfach wäre. Schon diskutieren Fachleute auf der ganzen Welt, ob der Zeitraum zwischen zwei Impfgaben verlängert werden kann, wodurch sich die erste Dosis an mehr Personen verabreichen ließe. In Luxemburg komme das nicht in Frage, betonte Gesundheitsamtschef Schmit am Mittwoch. Der Virologe Claude P. Muller vom Luxembourg Institute of Health dagegen meint, aus der Erfahrung mit anderen Viren-Impfstoffen wisse man, dass eine Verlängerung des Intervalls zwischen zwei Injektionen „die Impfwirkung nicht zwingend senkt, sondern durchaus verstärken“ kann: „Ich könnte mir bis zu sechs Wochen Intervall vorstellen, das würde die Impflogistik wesentlich vereinfachen.“
Tatsache ist aber auch, dass die Aufregung um knappe Vakzine und die politischen Schuldzuweisungen vor allem an die Adresse der EU-Kommission eine ziemlich egoistische Debatte in reichen Ländern darstellen. Diese hatten bis Ende 2020 genug Impfstoff bestellt, um ihre Bevölkerungen mehrmals versorgen zu können. Ärmere Länder hatten das allenfalls für ein Fünftel ihrer Einwohner/innen vermocht. Und während bis Ende Januar nach Daten der Weltgesundheitsorganisation WHO 90 Millionen Menschen weltweit ihre Impfung erhalten hatten, waren es in Afrika südlich der Sahara ganze 25 außerhalb von klinischen Studien.
Zwar existiert das Programm Covax, das sechs Milliarden Dollar gesammelt hat, um Entwicklungsländern Impfungen zu ermöglichen. Claude P. Muller, der WHO-Gremien angehört, die die Epidemiologie in der Maghreb-Region und im Mittleren Osten verfolgen, verweist jedoch darauf, dass Geld nicht alles ist: „Ob Länder wie Jemen oder Somalia es schaffen werden, eine Impfung zu organisieren, ist fraglich, auch wenn die WHO sich darum sehr bemüht.“ Auch Ägypten mit seinen mehr als 80 Millionen Einwohner/innen falle das schwer.
Doch falls nicht auf der ganzen Welt einigermaßen gleichzeitig geimpft wird, kann das schlimme Folgen haben: „Das Sars-CoV-2-Virus ist noch jung“, warnt Michel Pletschette, „es kann sich zu etwas sehr Gefährlichem entwickeln, wenn in einer Region der Welt nicht geimpft würde.“ Davor könnte sogar eine völlig durchgeimpfte EU nicht geschützt sein..
In sechs Phasen
Der derzeitige Impfplan der Regierung sieht so aus:
Phase 1: Läuft zurzeit. Geimpft werden das Gesundheits- und Pflegepersonal sowie Bewohner/innen von Alten- und Pflegeheimen und Behindertenstrukturen.
Phase 2: Für Personen über 75, beginnend bei den Ältesten, sowie „Hochvulnerable“.
Phase 3: Für Personen zwischen 74 und 70 sowie „signifikant Vulnerable“.
Phase 4: Für Personen zwischen 69 und 65 sowie „moderat Vulnerable“.
Phase 5: Für zwischen 64- und 55-Jährige sowie Personen, die wegen ihres Gesundheitszustands im Falle einer Covid-Erkrankung einem erhöhten Risiko ausgesetzt wären.
Phase 6: Für Personen zwischen 54 und 16 sowie in prekären Wohnverhältnissen Lebende, außerdem aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit besonders Exponierte.
Genaue Festlegungen zu Vulnerabilität (Phase 2 bis 4) und erhöhtem Risiko (Phase 5) soll der Conseil supérieur pour maladies infectieuses noch treffen. pf