Es piepst. Die aufblinkende Textnachricht kündigt eine kleine Verspätung an. Patrick kommt jeden Tag von der Schule aus Esch mit dem Zug. Also, normalerweise. Wenn kein Corona wäre. Derzeit ist seine Klasse gerade im Modus Präsenzunterricht und er wollte nach dem Unterricht eigentlich in Richtung Land-Redaktion, aber sein Zug ist nicht pünktlich.
Avelino kam direkt zum Treffpunkt. Er ist Schüler einer Handelsklasse in der Hauptstadt, aber ist gerade zuhause im Online-Unterricht. „Auf Dauer ist das nicht sehr spannend“, sagt er. ER lerne vor allem zuhause in seinem Zimmer. Seit Wochen gehe das schon so.
Die beiden jungen Männer wohnen zusammen in einem Haus in Bonneweg. In einer großen Villa nicht weit vom Bahnhof lebt eine Gruppe Jugendlicher in einer Wohngemeinschaft. Wobei: So richtig zusammenwohnen tun sie nicht: „Jeder ist ziemlich für sich“, erzählt Patrick. Denn bewusst zusammen gezogen sind die acht nicht: Sie haben eine Unterkunft gefunden in einem Jugendprojekt von der wunnensghellef, das Jugendlichen, die aus welchen Gründen auch immer nicht zuhause bei den Eltern oder Verwandten wohnen, ein Zimmer mit Anschluss bietet. Dort können sie für die Zeit leben, da sie in Ausbildung sind, in der Schule, in der Lehre.
Bei Patrick war es eine plötzliche Trennung, die dazu geführt hatte, dass er und sein Vater fast von einem Tag auf den anderen auf der Straße gelandet wäre - und das im Juli vergangenen Jahres, kurz nach dem der erste Lockdown gerade zu Ende gegangen war. Außerdem hatte ihn die Gesundheitsinspektion gerade wegen eines an Covid19 erkrankten Klassenkameraden in die Quarantäne geschickt. Mit dem Vater wohnen ging nicht. Das heißt: Er wusste nicht wohin. Es war die Schulpsychologin, die ihm unter die Arme griff: Seit dem Sommer wohnt er in der Stadt. Alleine zu wohnen, ein eigenes Zimmer zu haben, gefällt ihm: „Ich habe Freiheiten, die andere Jugendliche nicht haben. Ich kann gehen und kommen, wann ich will. Im Prinzip“, sagt er und grinst.
Avelino hat selbst gewählt bei seiner Tante, die noch zwei weitere Kinder erzieht, auszuziehen und hatte auch über den schulpsychologischen Dienst von dem Haus erfahren. Seine Mutter war verstorben als er noch ein kleiner Junge war. Mit seinem Vater hat er nur sporadischen Kontakt. Beide, Avelino und Patrick, hatten sich unabhängig voneinander beim Wohnprojekt beworben - und waren dann, nach einem Vorstellungsgespräch mit den Erziehern und nachdem sie eine Selbstverpflichtung unterschrieben hatten, sich an die Hausregeln zu halten und vor allem zu lernen, ins selbe Wohnprojekt gezogen.
Es gibt eine gemeinsame Küche, aber jeder hat einen eigenen Kühlschrank auf dem Zimmer. Und auch sonst läuft in dem Haus nichts zusammen. „Wir dürfen wegen Corona keinen Besuch empfangen.“ Zwischenzeitlich war es mal eine Person pro Bewohner/in. Für die beiden 19-Jährigen ist das hart: Will jemand eine Freundin oder einen Freund treffen, muss das außerhalb machen. „Die Erzieher sorgen sich um die Ansteckungsgefahr“, erklärt Avelino.
Einen Fall gab es in der Zeit wohl. Aber so wichtig gemerkt hatten sie es nicht: Derzeit gehen die meisten eh meistens direkt in ihr Zimmer. „Kürzlich haben uns die Erzieher gesagt, dass jemand neu bei uns eingezogen ist. Aber mir ist der gar nicht aufgefallen“, sagt Patrick. Alle arbeiten oder gehen zur Schule. „Jeder lebt sein eigenes Leben.“ Der Rhythmus ist teilweise zeitlich versetzt, man läuft sich mal über den Weg, wenn es zum Waschmaschine in den Keller geht. Die meisten sind alt genug und waren schon unabhängig, bevor sie ins Haus gezogen sind. „Ein bisschen einsam finde ich es schon.“, sagt Patrick. „Aber man traut sich derzeit auch nicht, den ersten Schritt zu machen.“
Im Sommer hatten die beiden Erziehe, die die Gruppe betreuen, zur Grillparty im Garte eingeladen, sie packten die Würstchen aufs Feuer, damit sich mal alle kennenlernen. „Aber seit Oktober ist hier nichts mehr los. Wir sehen uns nur auf den Wochenversammlungen, um darüber zu reden, ob alles in Ordnung ist“, erzählt Avelino. Einmal die Woche kommen die Erzieher, eine Frau und ein Mann vorbei, um nach den Rechten zu sehen. Sie sind Ansprechpartner und kümmern sich. Das ist die einzige Routine, die vor Corona schon war und die sich nicht verändert hat.
„Ansonsten ist es schon hart“, sagt Avelino. Wie sie ihre Zeit verbringen, wenn sie keine Freunde einladen dürfen? „Jeder ist auf seinem Zimmer oder man geht raus und trifft sich mal mit einem Freund“. Aber in der Kälte und jetzt, wo die Cafés alle zu haben, sei das keine Option. „Ich gucke Netflix.“ „Ich auch“, wirft Patrick. Beide haben gerade Lupin fertiggeschaut: eine kürzlich veröffentlichte Kriminalserie um einen Betrüger, der eigentlich mit der Gerechtigkeit ringt. Die Hauptfigur Assane kam als Halbwaise aus dem Senegal nach Frankreich, als er ein Teenager war. Sein Vater hatte einen Job als Chauffeur bei einer reichen Pariser Familie. Die jedoch jubelte dem grundehrlichen Mann kurz darauf den Diebstahl eines unbezahlbar wertvollen Colliers in die Schuhe. Im Gefängnis begeht Assanes Vater aus Verzweiflung Suizid. Der Junge steht plötzlich ganz allein da.
Auch auf der Playstation wird gespielt. „Aber ich wohne schon alleine, ich mag mich bewegen, ich muss auch mal Kollegen treffen“, sagt Patric, der keinen Hehl daraus macht, dass er das Besuchsverbot „nicht so gerne hat“. „Ich habe eine Freundin und muss dann immer zu ihr gehen.“ Wäre kein Corona würde er mit den Kumpels Basketball spielen, so bleibt nur die Konsole. Auch auf Konzerte geht er eigentlich gerne. Alles abgesagt. „Es ist wirklich sehr frustrierend.“ Er vermisst Essen in der Gemeinschaft. „Das ist das Gute an einer Familie. Meine Freunde beneiden mich wohl um meine Freiheit. Aber sie sehen nicht, dass es im Haus auch ganz schön einsam ist.“ Und wie geht es weiter. Patrick und Avelino blicken sich an und zucken mit den Schultern. „Vielleicht wird es im Sommer besser. Aber so richtig glaubt da keiner dran.“