Die Tube Sonnencreme machte die Runde während der morgendlichen Pause. Wir saßen am Tisch im Schatten ehemals stattlicher Fichten. „Die Zahl der Todesfälle durch Hautkrebs stieg in den vergangenen 20 Jahren in Deutschland um 55 Prozent“, lautete eine vom Smartphone zitierte, rezente Meldung des statistischen Bundesamts in Wiesbaden. „Ozonarme Luftmassen, mitverursacht durch Treibhausgase, lassen vermehrt UV-Strahlung durch“, so die darauffolgende, eine kurze Google-Recherche weiter. „Und die Sonne scheint häufiger“. Klar.
Auch an diesem Tag, Anfang Juni, bot ein aufgerissener Himmel den Sonnenstrahlen keinen Einhalt. Im Radio wurde der sonnige Tag fast gezwungen neutral angekündigt. Vor vier Wochen fiel der letzte Regen in einer Region, die durchschnittlich von circa 70 Liter Niederschlag pro Quadratmeter im Monat geprägt ist. Hinter uns: Reststücke eines mittlerweile zersägten, zehn Meter großen Ahornbaumes. Vor genau zwei Jahren, zu Beginn eines verregneten Sommers, verfehlte er nur knapp unseren Folientunnel zur Jungpflanzenanzucht. Als er fiel, fiel er in die entgegengesetzte Richtung zum Gerüst mit den kletternden Zuckererbsen. Es war die Signatur einer Superzelle, eines rotierenden Gewitters, welches sich über dem Raum Steinfort entlud.
„Mer mussen et huele, wéi et kënnt”. Gerne mal salopp dahingesagt, vermag der Ausspruch jedwede Diskussion über das Wetter am Pausentisch zu beenden. So, als würden die Wörter Zen-mäßig, wahrhaftig und von Panik unbefleckt auf uns einwirken. Ruhe bewahren und den neuen Widrigkeiten der Natur trotzen. Es ist das Anliegen von Politik und landwirtschaftlichen Akteuren: Besonnen handeln, selbst wenn die Diskussion um den Klimawandel und Landwirtschaft auch in Luxemburg eine neue Dringlichkeit erfährt. Exemplarisch ist dabei die Debatte um das neue Agrargesetz, allen voran der Artikel zur Begrenzung des Viehbestandes, um die klimaschädlichen Ammoniakemissionen zu minimieren: Zu groß sei der Eingriff in die betrieblichen Entwicklungsperspektiven.
Wir verließen unseren schattigen Pausenplatz, um Unkraut auf den Beeten zu jäten, auf denen wir seit acht Jahren Gemüse produzieren. Die diesjährige Saison begann eigentlich sehr angenehm: ein regnerischer April, der sich nur langsam erwärmte und dessen frostfreie Nächte die jungen Gemüsepflanzen vor Schäden bewahrten. Auch ohne künstliche Bewässerung konnte man eine Vielzahl an Pilzarten zwischen den Gemüsekulturen wachsen sehen. Nun lief die Bewässerungsanlage regelmäßig in den noch kühlen Morgenstunden. Von der Feuchtigkeit war in der intensiven Vormittagssonne oberflächlich nichts mehr zu sehen. Trockener Kompost als Mulchauf-
lage säumte das Beet. Die Kulturtechnik des Mulchens, das Auftragen einer Schutzschicht aus organischem Material auf dem unbewachsenen Boden, sie dient dem Abfedern von Wetterextremen. Sie schützt vor Verdunstung in Trockenperioden, bremst Regentropfen und lässt Wasser besser versickern als nackter, unbedeckter Ackerboden. Was als einfache Technik erscheint, unterliegt jedoch der Prämisse, den Boden – dessen Gefüge und seine extrem komplexe Lebensgemeinschaft – als zentrale Ressource zu erhalten und zu schützen. Dies in Bezug auf Landwirtschaft zu erwähnen, klingt wie eine Plattitüde. In Bezug auf den Klimawandel wächst jedoch die Bedeutung einer solch inflationär gebrauchten Aussage.
Erdböden sind, genau wie die Ozeane, integraler Bestandteil des Klimasystems. Ähnlich unserem Verdauungstrakt, hat ein gesunder Boden eine charakteristische Zusammensetzung von Bakterien- und Pilzarten, ein Mikrobiom. Er ist lebendig, hat einen Stoffwechsel, er atmet und verdaut. Er tut dies in einer schnelleren oder langsameren Frequenz, abhängig von seiner Textur, Wassersättigung, des Klimas und seiner Nutzung. Der obere Meter des Erdbodens enthält mehr Kohlenstoff als die gesamte Vegetation und die Atmosphäre zusammen. Von Landwirtschaft und der Veränderung der klimatischen Bedingungen zu reden, ohne den Zustand, sowie die Art der Nutzung des Bodens zu betrachten, erscheint so fahrlässig lückenhaft. Die weltweite Entwicklung ist klar: Moderne Bauern, gerne auch Landwirte, leiten immer größer werdende Betriebe. Neben der Betriebswirtschaft managt er in erster Linie biologische Systeme mit dem Ziel, diese in ihrer Funktionalität zu erhalten und zu verstärken. So zumindest eine möglichst ursprüngliche und theoretische Betrachtungsweise des Berufes, der vor mehr als 12 000 Jahren den Grundstein unserer Zivilisation legte. Biologische Aktivität ist die Grundlage fruchtbaren Bodens und diesen so zu erhalten bzw. noch fruchtbarer zu machen, ist deklariertes oberstes Ziel der Landwirtschaft.
Jedoch, wo Industrie, Siedlungen und Umgehungsstraßen den Boden nicht versiegeln, ist bekannt, dass die moderne Mainstream-Bewirtschaftung genau das Gegenteil hervorbringt. Fungizide, Herbizide, Insektizide, intrinsisch ihrer Bezeichnung, sind Antagonisten biologischer Vielfalt, zersetzen das Netz ökologischer Resilienz und damit auch fruchtbaren Bodens. Pflugscharen, Grubber und Spatenmaschinen zerstören Bodengefüge, Kanäle und Poren. Sie wirbeln das Leben im Boden durcheinander und setzen Mikro-, Meso-, Makro-Flora und -Fauna in regelmäßigen Abständen völlig neuen Lebensbedingungen aus. Ein äußerst unübersichtliches und noch weitgehend unerforschtes biologisches Netz von Lebensformen im Boden, ernährt sich gegenseitig und von unbelebter organischer Substanz. Es versorgt auch höhere Pflanzen, darunter unsere Kulturpflanzen, mit Nährstoffen. Sauerstoff, der über die Bodenbearbeitung schlagartig in tiefere Bodenschichten eindringt, regt den Stoffwechsel an. Kohlenstoff, der vorher im Boden als organische Materie vorlag, wird schneller verdaut und findet als Gas seinen Weg in die Atmosphäre. Die dynamische Lebensgemeinschaft ist zumindest für eine begrenzte Zeit geschädigt: In ihrer Funktionalität für den Boden – dessen Porosität und Stabilität zu gewährleisten und vor Erosion zu schützen, sowie in ihrer Dienstleistung der Nährstoffversorgung für Pflanzen. Denn auch hier gibt es, wie überall in der Natur, Sukzessionsstadien. Entwicklungsstadien der natürlichen Lebensgemeinschaft, die sich im Verlauf der Zeit ohne jegliches Zutun einstellen.
Myzel, das weiße Pilzgeflecht, welches giftige oder schmackhafte Pilze als Fruchtkörper hervorbringen kann, entwickelt sich auf möglichst ungestörten Böden, in der Nähe von mehrjähriger Vegetation wie Waldgebieten oder Wiesen und Weiden. Myzel ebnete nicht nur den Weg für neue Lebensformen, sondern ging im Laufe der Evolution eine direkte Partnerschaft zu den Pflanzen ein. 80-95 Prozent aller bekannten Pflanzenarten können in einer Symbiose mit einem oder mehreren Pilzarten leben. Das weitverflechtete Pilzmyzel erreicht weit mehr Nährstoffe in tiefer gelegenen Bodenschichten und stellt den Pflanzen diese im Austausch gegen Kohlenstoffverbindungen zur Verfügung. Schätzungsweise lagern Pilze und ihr Mycelium vier Mal mehr Kohlenstoff im Boden ein, als der Mensch seit der Industrialisierung in die Atmosphäre blies. Pilze sind ein lückenhaftes Forschungsgebiet, da viele Pilzarten unter Labormethoden nur schwer oder gar nicht zu züchten sind und sich dort zum Teil anders verhalten als in freier Natur.
Sommerurlaub in Italien, südliches Umbrien: Wir fahren durch die Po-Ebene, wo die Ablagerung alpiner Flüsse tiefreichenden und fruchtbarsten Boden hervorbrachte. Gemüse- und Obsternten der Region füllen heute europäische Supermarktregale. Spätestens seit 2022 durch zu niedrige Wasserstände des Hauptflusses Po und seiner Seen hat die Region einen Platz in den Schlagzeilen gefunden. Wir fahren vorbei an endlosen Maisfeldern und einer Mozzarella-Fabrik der weltweit größten Milchverarbeitungsgruppe. Die Landschaft ist gesäumt von unterschiedlicher Bewässerungstechnik. Roberto, Mitte 30, leitet mit seiner Familie eine Touristenunterkunft auf einem kleinen Weingut auf einem Hügel eine Stunde nördlich von Rom. Neben der Unterbringung von Besuchern verdient er sein Geld mit biologisch produziertem Olivenöl und Wein. In seinem Pick-up geht es zu seinen neu angelegten Olivenbäumen. Er pflanzte sie vor drei Jahren auf einem vorher extensiv genutzten Acker. Über 700 Olivenbäume verschiedener Sorten, auf 2,6 Hektar, angelegt im sogenannten Keyline-Design. Eine Methode, deren parallele Anbaumuster sich an den topografischen Höhenlinien orientiert.
Roberto steht am Rande des Hanges, wo vor drei Jahren Weizen wuchs, und zeigt auf eine Hangmulde: Bei Starkregen entstanden hier öfters mehrere Rinnsale. Die kleinen Wasserläufe trugen den Boden ab. Nun, so die Absicht, wird ober- und unterirdisch fließendes Wasser durch den Stamm, den Wurzelstock und die angesammelte organische Materie der Olivenbäume gebremst und aus der Hangmulde hinab, in Richtung des nächsten Grates in der Landschaft geleitet und verteilt. Das System, das im ariden Klima Australiens in den 1950-er Jahren erprobt wurde, verlangsamt den Lauf des Niederschlagswassers und lässt es in höheren Lagen im Boden versickern. Das Ergebnis ist ein selbstverstärkender Effekt: Das Wasser lässt die Bäume wachsen, welche wiederum eine größere Barriere für weiteren Niederschlag bieten. Niederschlag in der genutzten Fläche versickern zu lassen, es den Bodenorganismen und den angebauten Pflanzen zuzuführen, ist eines der wichtigsten Prinzipien der sogenannten regenerativen Landwirtschaft. Sie will in ihrer Funktion geschädigte Böden wieder aufbauen, mithilfe biologischer Werkzeuge, wie der Wiederherstellung des kleinen Wasserzyklus.
Es sind natürliche Lösungen oder im Polit-Jargon ausgedrückt: nature-based solutions. Im regenerativen Landbau wird die Bepflanzung anhand des Keyline-Designs häufig mit der Beweidung von Wiederkäuern zwischen den Baumreihen kombiniert. Beweidung, je nach Management, vermag es Kohlenstoff im Boden zu speichern. Es klingt wie die Ehrenrettung der Kuh, müsste diese denn wirklich gerettet werden und würde das Tier nicht bereits hochwertigen Mist, Nahrungsgrundlage unzähliger Organismen und Pflanzen liefern. Zusammen mit Einhufern prägten Wiederkäuer die Böden riesiger Graslandschaften. In großen und vor Prädatoren geschützten, dichten Herden beweideten sie die Flächen, kurz aber intensiv, bevor sie weiterzogen. Die Graspflanze wird in dieser kurzen Zeit in der Regel nicht komplett verbissen und zum Teil niedergetrampelt. So kann sie weiter Fotosynthese betreiben und muss ihre in der Wurzel gespeicherten Reserven nicht aufbrauchen, um wieder neu auszutreiben. Trotzdem stirbt ein Teil der Wurzeln ab, ernährt Bodenorganismen und lässt Humus entstehen. Fruchtbarste Bodenhorizonte entstanden unter anderem durch diesen tierischen Einfluss in den Steppen, Prärien, Pampas und Savannen der Erde. Die Böden der weltweiten Graslandschaften binden Kohlenstoff aus der Atmosphäre und lagern schätzungsweise 50 Prozent mehr Kohlenstoff als in den Böden der Wälder. Graslandschaften bedecken die Hälfte der Agrarflächen Luxemburgs und bieten großes Potential zur Kohlenstoffbindung in einem unbeständigen Klima.
Seine Faszination für biologische Systeme brachte Roberto nach seinem Studium zur Landwirtschaft. Trotz aller Anstrengungen und Motivation, denen ein natürlicher Optimismus zu Grunde liegt, ist eine große Portion Realismus aus seinen Aussagen nicht zu überhören: „We do what we can, until a certain point…“ An diesem Tag wird in Rom ein neuer Temperaturallzeitrekord von 41,8°C registriert.
Seit 2016 produzieren wir Gemüse. In diesem Zeitraum wurden im globalen Mittel die sechs wärmsten, je gemessenen Jahre registriert. Im einzig regenreichen Sommer – als der Ahornbaum fiel und einen Monat später ganze Gebiete im Osten des Landes und der Großregion geflutet wurden – wurde ein Großteil unserer Tomaten im Folientunnel durch eine Pilzerkrankung, die Braunfäule, dahingerafft. „Das Wetter nehmen, wie es kommt.“ Angesichts der spürbaren meteorologischen Veränderungen der letzten Jahre klingt die Redensart mit Robertos Portion Realismus betrachtet nach Resignation. Unverantwortbar, da Anpassung und Klimaschutz in der Landwirtschaft, welche auf natürlichen Kreisläufen fußt und sich diese zu Nutzen macht, die gleiche Bedeutung haben. Anpassen und gleichzeitig gegensteuern ist damit alles, was bleibt. An der Stelle des Ahornbaumes haben wir einen Haselnussstrauch gepflanzt. Er wird nicht die stattliche Größe seines Vorgängers erreichen. Er bleibt allerdings bis ins Alter flexibel und kann, einer Graspflanze ähnlich, stark zurückgeschnitten werden – und treibt trotzdem immer wieder neu aus.