Pfiffe gegen Pflegekräfte und Ärzte: Seit Wochen arbeitet das medizinische Personal in Österreich am Limit. Ab Oktober gingen die Inzidenzen rasant hoch, am Höhepunkt zählte Österreich über 16 000 Neuinfektionen am Tag – bei 8 Millionen Einwohnern. Während in den Spitälern Hunderte Menschen mit einer Covid-19-Erkrankung auf der Intensivstation liegen, demonstrieren Zigtausende gegen die Maßnahmen der türkis-grünen Regierung. An einem Samstag 40 000 Teilnehmer in Wien, Tausende in kleineren Städten, 28 000 in Graz, wo am Mittwoch eine kleine angekündigte Kundgebung erneut zu einer großen Demo auswuchs. Die Bilder von den von unterschiedlichen Seiten getragenen Manifestationen zeigen eine bunte Mischung: Familien mit Kinderwägen und Schildern („Hände weg von unseren Kindern“), esoterische Trommler, Spirituelle, christliche Betkreise, an der Spitze und dazwischen unübersehbare Gruppen mit der deutschen Reichsflagge und anderen Symbolen der Rechtsextremen.
Die Antistimmung hat neue Nahrung bekommen, seitdem der grüne Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein gemeinsam mit den Landeshauptläuten (Ministerpräsidenten) nicht nur einen neuen Lockdown verordnete, sondern eine Impfpflicht ab Februar in Aussicht stellte. Jetzt schließen sich den Protesten auch viele an, die von den rechtsextrem unterwanderten Coronaleugner- und Fundamentalkritiker-Positionen weit entfernt sind. Ihre Vorbehalte gelten den Impfstoffen selbst, die sie für zu wenig erforscht halten, sie fürchten mögliche Spätfolgen, vor allem für Kinder. Auch grundsätzliche Erwägungen treiben viele an: Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das sie verletzt sehen, und der Druck, der nun aufgebaut wird und stark die Kinder in den Fokus nimmt.
Davor ging wertvolle Zeit im koalitionären Gezerre verloren. Noch wenige Tage vor dem vierten Lockdown hatte Wirtschaftsministerin Schramböck dem Gesundheitsminister öffentlich ausgerichtet, er solle doch endlich Medikamente bestellen. Landwirtschafts- und Tourismusministerin Köstinger stemmte sich gegen einen neuerlichen Lockdown von der Wintersaison. Die Kurz-Vertraute beharrte auf der Sichtweise einer „Pandemie der Ungeimpften“, als schon lange klar war, dass kleine Einschnitte wie ein selektiver Lockdown, die 3 G- Pflicht am Arbeitsplatz oder 2 G im öffentlichen Leben nicht mehr reichen würden.
Der grüne Gesundheitsminister selbst ringt nicht nur gegenüber der türkisen Ministerriege um Akzeptanz, sondern auch in den Bundesländern. Der Quereinsteiger bekommt im Konzert der mächtigen Landeshauptläute massiv zu spüren, wie wenig verankert er in den politischen Netzwerken ist und wie sehr er mit den politischen Gebräuchen des Landes, der sprichwörtlichen „Realverfassung“, fremdelt. Die Landeschefs, vor allem in den Fremdenverkehrsregionen häufig mit großen Rücksichten gegenüber den wirtschaftsstarken Touristik-Unternehmern ausgestattet, blockierten zusätzlich die Vorschläge aus Wien zur Eindämmung der vierten Welle. Erst als die in ihrer Coronapolitik erfolgreicheren Kollegen, allen voran der Wiener Landeschef Michael Ludwig, Mückstein zur Seite sprangen, ging es plötzlich schnell: die rasante Ausbreitung und die bei 65 Prozent dümpelnde Impfbereitschaft ließen die Verantwortlichen zu den schärfstmöglichen Maßnahmen greifen – ein vierter Lockdown und eine verpflichtende Impfung.
Geschuldet war die Entwicklung vor allem den Versäumnisse im Frühsommer nach den ersten Erfolgen der Impfkampagne, die gemeinsam mit der saisonalen Entwicklung für ein drastisches Absinken der Infektionszahlen sorgte: Der optimistische Zuruf Mücksteins an die Jungen „Jetzt seid Ihr dran“, das triumphierend selbstzufriedene Motto „Für die Geimpften ist die Pandemie vorbei“ aus dem Kurz’schen Kanzleramt samt Plakatkampagne in türkis, die den damaligen Kanzler in Situationen der Nähe mit verschiedenen Menschengruppen zeigt, garniert von dem Slogan „Gemeinsam die Pandemie gemeistert“ - mit diesem von politischer Seite gestützten Aufatmen war Österreich in den Sommer gegangen. Die Impfkampagne versackte, man wähnte sich in falscher Sicherheit. In Oberösterreich war es die Landtagswahl und die Angst der ÖVP vor den Impfkritikern beim Koalitionspartner FPÖ, die eine offene Auseinandersetzung verhinderte.
Versäumt wurde auch, von Anfang an, die Unsicherheitsfaktoren im gesamten Covid-Management offen zu kommunizieren, das fehlende Wissen um die Dauer der Schutzwirkung durch die Impfung etwa. Versäumt wurde ebenso, das Gespräch zu suchen mit prominenten Skeptikern: Etwa mit dem Olympiasieger Felix Gottwald, Tennisstar Dominic Thiem oder auch der Schauspielerin Nina Proll. Die beliebte Darstellerin äußert sich öffentlich, wo sie kann, gegen Impfungen und die Maßnahmen und erhält dafür auch gerne Plattformen– etwa auf dem privaten Fernsehsender Servus tv des Red-Bull-Milliardärs Didi Mateschitz. Dort versammelt sich jene Sphäre aus Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit, die sich als Gegenpol zum „Mainstream“ versteht und gemeinsam mit den deklarierten Impfgegnern der Freiheitlichen und der neuen Partei MFG eine lautstarke Gegnerschaft zu den Maßnahmen bildet.
Ein erster „runder Tisch“ der Regierung mit Experten, die den Weg zur Impfpflicht bereiten soll, dürfte Mitte der Woche zumindest innerhalb der Regierungsparteien konsensual verlaufen sein. Vor dem zweiten Corona-Winter sieht sich die hinkende und durch türkise Skandale gebeutelte Koalition zum Erfolg verdammt.