Der 30. November 2021 wird in Luxemburg in die Geschichte eingehen. Kurz nachdem der sozialistische Vizepremier Dan Kersch und sein Parteikollege, der Minister für Landwirtschaft und soziale Sicherheit, Romain Schneider, ihren bereits im Vorfeld angekündigten Rücktritt aus der Regierung offiziell auf einer Pressekonferenz bekannt geben wollten, stahl ihnen der liberale Finanzminister Pierre Gramegna die Show und ließ überraschend seinen eigenen Rücktritt per Communiqué von der DP mitteilen. Alle drei Politiker wollen künftig mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen und sich die Belastungen des Ministeramts nicht mehr antun. Das passt in die Diskussionen um die Work-Life-Balance, deren Verbesserung DP-Generalsekretär Claude Lamberty in dieser Woche bei RTL als eines der noch ausstehenden wichtigen Projekte der Regierung bezeichnete.
Die Rücktritte passen aber auch in ein relativ neues Selbstverständnis, das ein politisches Amt nicht mehr als Folge gesellschaftlichen Engagements, sondern als anspruchsvollen und (manchmal nicht allzu) gut bezahlten Beruf ansieht. Ein Musterbeispiel für die Technokratisierung des politischen Systems ist Paulette Lenert, die als politisch unvorbelastete Quereinsteigerin über den Staatsdienst in die Regierung kam und innerhalb von nur drei Jahren zur Vizepremierministerin avanciert ist. Offiziell hat sie sich zwar immer noch nicht entschieden, ob sie in diesem Metier bleiben will, auch wenn inzwischen vieles darauf hindeutet, dass sie bald zur neuen Ko-Präsidentin der LSAP gewählt wird und 2023 als nationale (Ko-) Spitzenkandidatin antreten wird. Doch auch Pierre Gramegna hatte keine politische Erfahrung, als die DP ihn 2013 als Finanzminister nominierte. Trotzdem stieg er in den vergangenen Jahren zum beliebtesten DP-Politiker hinter Xavier Bettel auf.
Die Rücktritte lassen sich aber auch anders deuten. Zum Beispiel aus machtpolitischer Perspektive: Kerschs Rücktritt ist eine Trotzreaktion, weil seine Partei Paulette Lenert als Spitzenkandidatin bevorzugt; bei Gramegna könnte die Frustration daher rühren, dass seine Pläne, Vorsitzender der Eurogruppe zu werden, 2020 gescheitert sind. Oder in einem nationalpolitischen Kontext: Die von Gramegna groß angekündigte Steuerreform wird nicht umgesetzt. Kerschs Forderung nach einer Coronasteuer wurde sogar von der eigenen Partei belächelt, sein gewerkschaftsnaher Kurs entspricht nicht mehr den Vorstellungen einer postmodernen Sozialdemokratie.
Tatsächlich hat die Dreierkoalition spätestens seit Beginn der Coronakrise kein gemeinsames Projekt mehr. Seit fast zwei Jahren dreht sich fast alles um das Virus, für strukturelle Reformen fehlen Wille und Zeit. Deshalb sollte es auch nicht verwundern, dass ältere Minister, deren Ressorts nur indirekt mit dem Pandemiegeschehen zu tun haben, sich etwas überflüssig vorkommen. Die Parteien können die Zeit nutzen, um sich schon auf die Wahlen vorzubereiten. Die LSAP positioniert die etwas farblosen Georges Engel (53) und Claude Haagen (59) als starke Männer im Süden und Norden. Wen die DP für die Nachfolge von Gramegna (63) nominiert, bleibt noch offen. Muss es ein Finanzexperte sein? Oder reicht in der aktuellen Situation ein halbwegs beliebter Politiker aus der zweiten Reihe, den die Partei bis 2023 als Spitzenkandidat/in im Südbezirk aufbauen kann?
Ist es aber legitim, wenn gewählte Volksvertreter sich mitten in einer Mandatsperiode zurückziehen? Diese Frage hat sich bereits gestellt, als Etienne Schneider sein Leben zurück wollte. Während Romain Schneider mit 59 Jahren in Rente geht, verbringt der bald 60-jährige Kersch die Zeit bis zu seiner Pensionierung in den Hinterbänken der Kammer. Dort wird er einem Dutzend anderer früherer Regierungsmitglieder begegnen, die meisten sind von der CSV. Einige von denen spielen eine wichtige Rolle in ihrer Fraktion, andere füllen die Reihen. Oder wie die Jugendorganisationen es ausdrücken: Sie verhindern geschickt und ohne großen Aufwand, dass eine inhaltliche und personelle Erneuerung in ihrer Partei stattfinden kann. Damit untermauern sie gleichzeitig die sich immer weiter verbreitende Vorstellung, dass parteipolitisches Engagement insbesondere in den traditionellen Volksparteien nichts bewirken kann und zu nichts führt.