„Ihre Schuhe können gar nicht drücken, sie haben ja Sandalen an“, war der Running Gag am Dienstagmittag in der Grevenmacher Fußgängerzone. Dort hatten die Christlich-Sozialen ihren Stand aufgebaut, um im Rahmen ihrer Nolauschter-Tour Wou dréckt de Schong? Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Doch statt den angereisten Politikern Fragen zu stellen, hasteten die meisten in der Mittagshitze wortlos weiter.
„Es ist schade, wenn man viel arbeitet und dann hört, ihr macht ja gar nichts“, sagt Françoise Hetto-Gaasch. Die CSV-Abgeordnete war mit auf Tour gewesen. Frustriert ist sie aber nicht. Die Stimmung in Fraktion und Partei sei gut. Mit der Datenschutzaffäre und der Kehrtwende in punkto Verfassungsreform ist der CSV die mediale Aufmerksamkeit sicher. Parteipräsident Frank Engel hatte die alte Position der CSV, die Reform mitzutragen, mit seiner Forderung revidiert, bevor die Verfassungsreform im Parlament gestimmt werden könne, müssten noch einmal die Bürger befragt werden. „Wir machen unsere Arbeit“, findet Hetto-Gaasch.
Andere aber auch. Spitzenreiter bei den parlamentarischen Anfragen, beliebtestes Instrument der Opposition neben Interpellationen, Motionen, Resolutionen und Konsultationsdebatte, sind die Piraten mit über 150 Anfragen. Aber immerhin vier CSV-Abgeordnete schafften es in die Top Ten der Liste der Fragesteller. Justizminister Félix Braz und Polizeiminister François Bausch (Déi Gréng) gab die CSV als Hausaufgabe einen 50-Fragenkatalog zur Datenschutzaffäre mit in die Ferien.
Dass Premier Xavier Bettel (DP) vor zwei Wochen der Chamber seine Aufwartung machte und alle Parteien zur konstruktiven Zusammenarbeit aufforderte, ist ebenfalls ein Erfolg der Opposition: Ursprünglich wollte die CSV den Premier selbst vor die Abgeordneten zitieren. Ein Manöver von Chamber-Präsident Fernand Etgen (DP) verhinderte zunächst, dass ihr Änderungsvorschlag zur Tagesordnung abgestimmt wurde. Es kam zum Eklat, die Opposition verließ geschlossen den Saal.
Das sei einer Demokratie nicht würdig, so die CSV hinterher. Man habe sich eine „sachliche Debatte gewünscht“, so die Piraten auf Twitter. Weil die Mehrheit im Parlament diese verweigert habe, habe man „zesummen mat der Oppositioun“ den Saal verlassen. „Wir waren überrascht“, gibt David Wagner, Abgeordneter von Déi Lénk, zu. Man habe sich dem Protest angeschlossen, „weil das der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Die Arroganz der Regierung ist ein Problem“.
In den sozialen Netzwerken waren die Meinungen geteilt: Gambia-Befürworter vermuteten ein abgekartetes Spiel bei der CSV, andere schimpften über eine Regierung, die über Transparenz redet, sie aber ungenügend einlöst, obwohl sie selbst durch eine Datenschutzproblem, den Schnüffelskandal des Srel, an die Macht gelangt war. Doch wie immer die Bewertung ausfiel: Die Aktion brachte den sonst routiniert abgespulten parlamentarischen Ablauf ins Stocken. Obwohl die Datenschutzaffäre beweist, wie die Opposition trotz Minderzahl politisch Druck erzeugen kann, wurde zugleich deutlich, wie schwer es ist, als Minderheit die Tagesordnung im Parlament, die von den FraktionspräsidentInnen bestimmt wird, zu ändern, und welche Kraftanstrengungen es braucht, um mit den eigenen Inhalten und Positionen wahrgenommen zu werden.
„Unser Einfluss als Opposition ist klein“, sagt David Wagner von Déi Lénk. Die Partei zog 1999 erstmals ins Parlament und sitzt seitdem mit ein bis zwei Abgeordneten auf der Oppositionsbank. Entsprechend nüchtern betrachtet Wagner seinen Gestaltungsspielraum: „Ich mache mir keine Illusionen. Die Richtung bestimmt die politische Mehrheit. Dass wir mit Vorschlägen durchdringen, ist äußerst selten.“ Um bei begrenzten Ressourcen keine Energie zu verschwenden, konzentrieren sich déi Lénk auf einige Schlüsselthemen, wie die Wohnungsnot: Zwei eigene Gesetzesvorschläge hat die Partei hierzu eingebracht, zur Mietpreisbremse und zu den Immobilienagenturen. Die Lohnabhängigenkammer hat den Vorstoß wohlwollend begutachtet, aber seitdem steckt der Vorschlag fest: „Immerhin hat die Presse über unsere Idee ausgiebig berichtet“, freut sich Wagner.
Dass die Regierung kaum Änderungsvorschläge, die nicht aus den eigenen Reihen stammen, annimmt, kritisiert auch die CSV-Fraktionsvorsitzende Martine Hansen. „Uns wird vorgeworfen, dass wir nicht konstruktiv mitarbeiten. Aber ich habe im Bildungsressort immer wieder versucht, Änderungen einzubringen, ohne Erfolg“, so ihr ernüchtertes Fazit. Delikate parlamentarische Anfragen würden von Blau-Rot-Grün ausgesessen, dürftig oder gar nicht beantwortet: „Bei Google in Bissen haben wir mehrfach Erläuterungen gefordert und sie bis heute nicht erhalten.“
In der Datenschutzaffäre mahnte LSAP-Fraktionspräsident Alex Bodry angesichts der Kritik an der wackeligen Rechtsbasis der Datenbanken bei Polizei und Justiz (und angesichts des Drucks auf die Regierung), es sei an der Chamber, schlechte Gesetze zu verbessern. Ebenso richtig ist aber, dass Gesetzesinitiativen in der Regel von der Regierung kommen und aufgrund des Mehrheitsverhältnisses angenommen werden. Dafür sorgen Fraktionszwang und Koalitionsdisziplin. „Das Ergebnis steht vorher fest: Mit 31 Stimmen zu ...“, beschreibt Hetto-Gaasch von der CSV das vorhersehbare Abstimmungsritual. „So sind die politischen Kräfteverhältnisse.“ Chamber-Präsident Fernand Etgen (DP) beschrieb es so: Das Parlament sei der Ort, „wo die großen politischen Debatten geführt werden, und nicht nur eine Abstimmungsmaschine“. Nicht nur, aber eben: auch.
Abweichungen von der Regel sind selten; das ist bei der liberalen Koalition, die angetreten war, die „Fenster ganz weit“ aufzureißen, nicht anders. Zu sehen an den Reaktionen im Juli 2018 zur Umgehungsstraße Käerjeng, als die beiden Sassenheimer Abgeordneten Georges Engel und Simone Asselborn-Bintz der Abstimmung in der Chamber lieber fernblieben, um nicht gegen den Koalitionspartner stimmen zu müssen. Oder am Spagat der grünen Fraktionschefin Josée Lorsché, die als Bettemburger Schöffin gegen die Niederlassung des Joghurt-Herstellers Fage ist, als Abgeordnete in der Chamber das Industrieprojekt des roten Koalitionspartners jedoch mitträgt.
Tatsächlich sorgt eine strenge Choreografie und Arbeitsaufteilung dafür, dass das politische Kräfteverhältnis im legislativen Prozess gewahrt bleibt. Der/die Berichterstatter/in ist, außer beim Kontrollausschuss des Geheimdienstes, der Budgetkontrollkommission und dem Petitionenausschuss, die von der Opposition geleitet werden, ein Mitglied der Partei des jeweiligen Ressortministers. Er oder sie hält die Fäden über die Beratungen in der Hand. Kommt ein Gesetzentwurf ins Plenum vor, sind die Vorarbeiten abgeschlossen. Von den Kontroversen im Auschuss bekommen Bürger, außer in den Medien, nur etwas über die Sitzungsberichte mit – die in der Regel Wochen später veröffentlicht werden. „Unsere Rede halten wir für die Basis und potenzielle Sympathisanten“, sagt David Wagner. „Da können wir noch einmal Widerspruch erheben und unsere Alternativen zumindest ansatzweise vorstellen.“
Dass eine Rede, ein Thema, ein Gesetzentwurf die starren Mehrheitsverhältnisse in der Chamber durcheinanderwirbelt oder gar Parteilinien aufbricht, ist nicht vorgesehen – und sorgt entsprechend für Furore, sollte es doch einmal geschehen. Eine berühmte Ausnahme bildete der gemeinsam mit dem grünen Oppositionspolitiker Jean Huss erarbeitete Gesetzentwurf zur Euthanasie der LSAP-Abgeordneten Lydie Err: Er wurde nach vielen Stunden emotionaler Debatte in den zuständigen Ausschüssen und im Plenum mit den Stimmen der LSAP, DP und der Grünen gegen die Regierungspartei CSV durchgebracht. Die CSV-Abgeordnete Nancy Kemp-Arendt stimmte damals als einzige ihrer Partei für die Straffreiheit von Sterbehilfe. Über das Votum wäre die schwarz-rote Koalition fast zerbrochen, mit der anschließenden Weigerung des Großherzogs, das Sterbehilfe-Gesetz zu unterschreiben, rutschte mit einem Mal der Staat in die Krise.
Nicht nur Politiker diskutierten teils sehr persönlich und jenseits des Fraktionszwang: In den Medien kamen Stimmen aus allen Bereichen der Gesellschaft zu Wort, von der Kirche bis hin zu Betroffenen und besorgten Bürgern. Es gab Informationsabende und Diskussionsrunden in Radio und Fernsehen; so gesehen, war die rot-grüne Gesetzesinitiative zur Strafbefreiung der Sterbehilfe eine Sternstunde der luxemburgischen parlamentarischen Demokratie.
Ansonsten fällt die Einbindung der Bürger dem Parlament, auch der Opposition, eher schwer. Es ist bezeichnend, dass im Informationsfilm zur Chamber des Zentrums für politische Bildung außerparlamentarische Kräfte so gut wie keine Rolle spielen. In Luxemburg sind soziale Bewegungen wie in Frankreich selten, der letzte große Streik mit kontroverser gesellschaftlicher Debatte drehte sich um die Sekundarschulreform. Dass Bürger politisch eingebunden und mitentscheiden wollen, zeigt sich indes an den zahlreichen Petitionen, die alljährlich bei der Chamber eingereicht werden. Manche greifen Impulse von Parteien auf, oder vice versa: Die Strafbefreiung von freizeitlichem Cannabis-Konsum forderten zunächst Jugendorganisationen, aber erst nachdem eine entsprechende Petition viel Zustimmung fand, trauten sich DP und LSAP den straffreien Cannabis-Konsum in ihr Wahlprogramm und dann ins Koalitionsabkommen aufzunehmen.
Der erfolgreichen Petition für eine kostenlose Nutzung der Adapto-Busse für Menschen mit Behinderungen war eine Anfrage des CSV-Abgeordneten Marc Spautz vorausgegangen. In seiner Antwort hatte Mobilitätsminister François Bausch betont, das Transportmittel sei für behinderte Personen auf dem Weg zur Arbeit kostenlos und nicht für Privatzwecke. Die CSV legte mit einer Motion nach, die Anfang Juli mit den Stimmen der Mehrheit abgelehnt wurde. Als jetzt eine Petition binnen weniger als fünf Tagen das nötige Quorum vun 4 500 Unterschriften erreichte, sagte Minister Bausch zu, das Anliegen zu prüfen.
Für Déi Lénk kommt es auf die außerparlamentarische Wirkung an: „Wenn es uns gelingt, die Bevölkerung mitzunehmen, dass sie sich organisiert, haben wir gut gearbeitet“, findet David Wagner. Bei Luxleaks sei das „einigermaßen gelungen“. Der Ex-Déi-Lénk-Abgeordnete Justin Turpel hatte beim Thema Steuer-Rulings mit europäischen Linken, aber auch mit gesellschaftlichen Gruppen, wie Journalisten, Gewerkschaften, zusammengearbeitet: „Vorher wurden wir angefeindet und als Landesverräter verunglimpft. Inzwischen hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass dubiose Steuerpraktiken für das Image des Lands schädlich sind“, sagt Wagner.