ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Offene Türen

d'Lëtzebuerger Land du 07.10.2022

Am Mittwoch will DP-Finanzministerin Yuriko Backes den Entwurf des nächsten Staatshaushalts einreichen. LSAP-Staatsrat Alex Bodry sorgte schon für gekünstelte Aufregung. Am Rande der Tripartite empfahl er, auch das zweite Haushaltsdogma der liberalen Koalition zu kippen.

Zum „Seuil vun 30% vum PIB fir Staatsschold“ empfahl Bodry am
17. September über Twitter: „Aussergewéinlech Situatiounen verlangen och emol aussergewéinlech an temporär budgetär Efforts.“ LSAP-Minister Claude Haagen schloss sich an. Er lehnte „budgétairen Dogmatismus“ ab. Die LSAP wird von Lohnabhängigen, Beamtinnen und Rentnern gewählt, die auf staatliche Sozialleistungen und Gehälter angewiesen sind.

Der Mut der Sozialdemokratie reicht zum Einrennen offener Türen. DP-Finanzminister Pierre Gramegna hatte schon ein Jahr zuvor in seiner Haushaltsrede nichts dabei gefunden, wenn die Staatsschuld „während e puer Joer ronderëm déi Limite vun 30% oszilléiert“. Auch er rannte offene Türen ein. Die Europäische Union hatte ihre Maastricht-Kriterien außer Kraft gesetzt.

Am 10. Dezember 2013 hatte Premier Xavier Bettel die erste Regierungserklärung von DP, LSAP und Grünen verlesen: „Mir wëlle bis un d’Enn vun der Legislaturperiod e Solde structurel vu plus 0,5 Prozent vum PIB erreechen an zu all Moment en ëffentleche Scholdestand vun ënner 30 Prozent.“ Ein halbes Jahr später trat das Parlament in der Loi relative à la coordination et à la gouvernance des finances publiques seine Budgethoheit an die Maastricht-Kriterien ab.

Unternehmerlobbys und ihre Politiker nutzten den Bankenkrach von 2008, um die Haushaltsdisziplin zu verschärfen. Gemeint ist die ökonomische Disziplinierung der besitzlosen Haushalte. Mit Steuererhöhungen, Lohnmäßigung und Kürzungen der Sozialausgaben.

Doch der „Zukunftspak“ stieß auf Widerstand. Die liberale Offensive versandete. Im April 2016 strich die Regierung den „solde structurel vu plus 0,5 Prozent“ aus ihrem Programm. In seiner zweiten Regierungserklärung versprach Xavier Bettel am 11. Dezember 2018 nur noch, „d’Schold ënner 30% vum PIB ze halen“.

Seither verhindern die Covid-Seuche und die Energiekrise die Rückkehr zur Haushaltsdisziplin. Mehrheitspolitiker bereiten das Publikum darauf vor: Auch der „ëffentleche Scholdestand vun ënner 30 Prozent“ könnte bald aus dem Regierungsprogramm gestrichen werden. Das erregt gewerbliche Sparapostel. Aber sie möchten Covid-Hilfen und subventioniertes Gas.

Vergangenes Jahr lag die französische Staatsschuld bei 113 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die belgische bei 108 Prozent, die deutsche bei 69 Prozent, die Luxemburger bei 24 Prozent. Die Maastricht-Kriterien erlaubten 60 Prozent. Die Willkür der 30-prozentigen Schuldengrenze ist nicht zu verheimlichen. Xavier Bettel rechtfertigte sie am 14. September holprig. Mit dem „Triple A, deen awer d’Bonitéit an eben och d’Marchéen an d’Credibilitéit vun enger Finanzplaz bestätegt. Et wier geféierlech elo, wa mer géifen den Triple A elo direkt an d’Spill setzen.“

Firmen und Staaten, die Geld leihen wollen, lassen sich von den New Yorker Firmen Moody’s, Standard & Poor’s oder Fitch ihre Kreditwürdigkeit bescheinigen. Je höher ihre Kreditwürdigkeit, umso niedriger die Zinsen, die sie zahlen müssen.

Steueroasen pflegen eine globale Arbeitsteilung. Die Rating-Firmen empfehlen die Schweiz, die Niederlande und Luxemburg mit der Güteklasse AAA. Die Bahamas bekommen Ba3 bis B+, Zypern Ba1 bis BBB-, Honkong Aa3 bis AA-, Malta A2 bis A- und Panama Baa2 bis BBB-. Irische Staatsanleihen galten 2011 als „junk bonds“. Das tat den Geschäften keinen Abbruch. Wer fiktives Kapital um die Welt pumpt, will zuvörderst niedrige Steuersätze.

AAA bekommen jene Staaten, deren Politik „den Märkten“ am wärmsten aus dem Herzen spricht. „Que veulent LesMarchés? C’est tout simple: ils veulent la félicité des patrimoines“ (Sandra Lucbert, Le Ministère des contes publics, Paris, 2021).

Romain Hilgert
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