ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Bereit und motiviert

d'Lëtzebuerger Land du 16.09.2022

Der Höhepunkt einer Luxemburger Politikerkarriere ist der Aufstieg aus dem kleinen Land in das große Europa. Vergangene Woche blitzte Pierre Gramegna beim Treffen der europäischen Finanzminister zum vierten Mal ab. Für die Besetzung eines zweitrangigen Postens.

Nach den Wahlen 2013 suchte die DP einen Finanzminister. Wunschkandidat Claude Meisch winkte ab. Die liberalen Partner von Ernst and Young oder KPMG hätten das Ansehen der Partei gefährdet. Xavier Bettel kam auf den Direktor der Handelskammer, Pierre Gramegna.

Gramegna wurde DP-Mitglied. Er gab den Technokraten, der ohne Angst vor der Wählerschaft einen „Zukunftspak“ mit Austerität und Steuererhöhungen durchsetzte. Nach den Niederlagen beim Referendum und den Europawahlen betete der Finanzminister an, was er als Handelskammerdirektor verdammt hatte.

Der Wendige wollte höher hinaus. Im Juni 2020 kandidierte er für den Vorsitz der Euro-Gruppe. In seinem Bewerbungsschreiben versprach er: „I am ready and motivated to dedicate the necessary energy and time to this ambitious task.“ Seine Kollegen in der Euro-Gruppe bevorzugten Paschal Donohoe aus der konkurrierenden Steueroase Irland.

Ein Jahr später hatte Gramegna seine Bereitschaft und Motivation verloren. Er verließ die Regierung. Er rührte die Fernsehzuschauer zu Tränen: „Ech hunn d’Prioritéit ëmmer op mäi Land gesat, an d’Famill ass ëmmer hannendru komm. Ech ginn elo d’nächst Woch Grousspapp an ech géing gäre ménger Famill, ménge Kanner, déi wäit ewech an der Welt wunnen, méi Zäit schenken“ (1.12.21).

Fünf Monate später kandidierte Gramegna für den Vorsitz des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Der war gegründet worden, als der deutsche Außenhandelsüberschuss die Peripherie der Europäischen Union ruinierte. Der Stabilitätsmechanismus lieh Irland, Portugal, Spanien, Zypern und Griechenland Geld. Damit sie den Banken und Fonds ihre Schulden zurückzahlten. Dafür mussten sich die Staaten ohne eigene Währung zu inneren Abwertungen verpflichten: Senkung des Lohnniveaus, Streichung der Sozialausgaben, Kommerzialisierung und Privatisierung öffentlicher Infrastrukturen und Dienstleistungen. Die Ärmsten und Schwächsten bezahlten die Stabilisierung der Euro-Zone.

Die Luxemburger Regierung unterstützt Gramegnas Kandidatur. Sie hat 0,2 Prozent Stimmrecht. Am 2. Mai betonte sie in einer Erklärung: „Pierre Gramegna a été sollicité par plusieurs États membres et parties prenantes pour briguer ce poste.“ Zwei Tage später berichtete das Handelsblatt: „Der Politiker soll von mehreren Mitgliedstaaten zur Kandidatur gedrängt worden sein, um andere Bewerber zu verhindern.“

Gramegna wurde vorgeworfen, der Rolle als Familienmensch schnell überdrüssig geworden zu sein. So als bliebe einem Direktor des Stabilitätsmechanismus nicht genügend Zeit für die Familie. Vom Kirchberg bis nach Esch ist es nicht weit. Das Amt ist gemütlich: Seit Jahren wartet der Stabilitätsmechanismus auf die nächste Euro-Krise oder sonst eine Daseinsberechtigung.

Direktor des Stabilitätsmechanismus ist derzeit der deutsche Finanzbeamte Klaus Regling. Seine Nachfolge ist Teil des üblichen Postenhandels zwischen den EU-Staaten. Sie ist auch Teil des Machtkampfs zwischen Nord und Süd, entlang des Produktivitätsgefälles in der Europäischen Union.

Als Botschafter, als Lobbyist, als Finanzminister vertrat Pierre Gramegna stets die Interessen des durch Luxemburg geschleusten Finanzkapitals. Die deutsche Regierung vertraut ihm, dass er weiter die auswärtige Rendite des in Deutschland überakkumulierten Kapitals schützt. Sie unterstützte seine Bewerbung für den Stabilitätsmechanismus.

Das machte Gramegna für Südeuropäer verdächtig. Italien pfiff auf seine italienische Abstammung. Auch Frankreich bevorzugte seinen portugiesischen Konkurrenten João Leão. Als Nachfolger Reglings wollen sie keinen neuen Regling.

Romain Hilgert
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