Der liberale Rechtsstaat und die Pandemie

Zeitenwende

d'Lëtzebuerger Land vom 08.01.2021

Krisen sind für das Leben der anderen. Jedoch nicht dieses Mal, nicht in Corona-Zeiten. Niemand ist unbeteiligt. Gewohnt an einen Status von Voyeuren, die Problemlagen anderer aus der Ferne mit Schaudern, mit Berührung oder mit Indifferenz beobachten und kommentieren, sind wir selbst zum Träger des Problems, zu seinem Opfer, zum Risiko für alle geworden. Auf diese allgemeine und konkrete Jedermann-Betroffenheit, die sich tief in Systemrealitäten von Politik und Gesellschaft, der Wirtschaft, der Gesundheit und – nicht zuletzt – des Rechts eingräbt, haben die Gesellschaften des Westens noch keine nachhaltige Antwort gefunden. Das mag daran liegen, dass trotz aller vor allem zu Beginn der Pandemie geäußerten Bekenntnisse, unsere soziokulturellen und ökonomischen Konstanten gesellschaftlichen Zusammenlebens reflektieren zu wollen, ein tiefergehendes Nachdenken über Paradigmen westlicher Gesellschaften kaum stattfindet. Allerdings: die Pandemie wirkt wie ein Brennglas, das die Defizite dieser Paradigmen ungnädig ins Licht rückt. Das betrifft nicht zuletzt das Koordinatensystem des liberalen Rechtsstaats und seines Verhältnisses zur Politik: Wir haben ein Problem in der ausgewogenen Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft.

Krisen stellen die politische Handlungsfähigkeit von Staat und Gesellschaft auf die Probe. Das Konzept des liberalen Rechtsstaats bindet die Souveränität, verstanden als Möglichkeit zu autonomer politischer Gestaltung, an die normative Möglichkeit zur Ausübung einer gemeinsamen, in reziproker Anerkennung fundierten Freiheit. Der Staat legitimiert sich nur soweit er politisches Handeln, insbesondere die angemessene Krisenreaktion, als „res publica“ begreift und so Freiheitsrechte vernünftig ausgeübt und gegeneinander abgewogen werden. Eingriffe in Grundrechte bedürfen daher der Begründung und unterliegen Beschränkungen. Prinzipien der Gesetzlichkeit und der Verhältnismäßigkeit bilden dabei Grenzen und Bedingungen souveränen Handelns. Kann es sein, dass diese Grundüberzeugungen liberaler Demokratien angesichts der Pandemie selbst an Grenzen stoßen? Das Virus ist maßlos und außer Kontrolle – ein traumatisches Szenario politischer Souveränität. Steigende Infektions- und Opferzahlen in Europa und den USA stehen mittlerweile gar im Kontrast zu einem – vermeintlich – kontrollierten Infektionsgeschehen in China. Chinas geopolitische Strategie, die Macht seines autoritären Modells politischer Herrschaft international zu expandieren, macht sich die scheinbare Differenz in der Wirksamkeit staatlichen Handelns argumentativ zu Nutze. Es scheint vordergründig, als sei die liberale Demokratie in ihren Versuchen ausgleichender Regulierung der mit der Pandemiebekämpfung verbundenen Konflikte zwischen divergierenden Grundrechten nicht mehr gewachsen.

Dabei scheint es trivial, allgemeine Regeln zum Schutz vor Infektionen wie Abstand halten, Masken tragen, Hygienevorschriften beachten, Kontaktvermeidung, zu internalisieren. Es entpuppt sich aber: Es ist eben nicht leicht – im Gegenteil. Das hat Gründe. Sie liegen in der Erosion der Prinzipien, die eine rechtsstaatliche Begründung politischer Souveränität ausmachen. Krisen der letzten Jahre – und darüber hinaus – sei es Terrorismus, sei es Migration, seien es die Kapitalmärkte, löst der Staat durch das populäre Versprechen an Sicherheit, dem er Grundrechte stückweise opfert. Die Gesellschaft bezahlt diese Sicherheitswährung gerne, weil Krisen dann außerhalb der eigenen persönlichen Freiheiten zu verbleiben scheinen. Die Sicherheitspolitik des Staates entfesselt damit eine merkwürdige Dialektik von Freiheitsverlusten einerseits und der Förderung eines Freiheitsbegriffs, der sich auf die fast ungebremste Wahrnehmung subjektiver Rechte konzentrieren kann. Während Grundrechte geschliffen werden, nicht zuletzt durch den Ausbau und die Erweiterung exekutivischer Ermittlungsbefugnisse und des materiellen Strafrechts, entfaltet sich gleichzeitig ein gesellschaftlicher Freiheitsbegriff, der sich vor allem als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung zelebriert. Der Soziologe Andreas Reckwitz fasst diesen Freiheitsbegriff als Ausdruck einer „Gesellschaft der Singularitäten“ zusammen. Schärfer formuliert, liegt darin kein – anspruchsvoller – Begriff von Freiheit, die sich nur aus gegenseitiger Anerkennung ergeben kann, sondern ein vulgärliberales Modell eines spätmodernen Individualismus, der weniger um die Rechte der anderen als vielmehr um den ungehinderten eigenen Zugang zu Louis-Vuitton-Filialen besorgt ist. Beides, sicherheitspolitischer Abbau von Grundrechten einerseits und die damit unmittelbar zusammenhängende, ja dadurch verursachte Entfaltung eines inhaltlich verarmten Freiheitsbegriffs, spiegeln sich in den normativen Defiziten des regulatorischen Rahmens der Pandemiebekämpfung wider. Nicht der liberale Rechtsstaat ist dem Virus nicht gewachsen, sondern nur die verkümmerte Version dessen, was aus ihm wurde.

Mag Chinas geo- und machtpolitische Funktionalisierung der Pandemie – unmittelbar einleuchtend – durch einen universalen Begriff von Freiheit und Menschenrechten a priori delegitimiert sein, so werden auch in anderen Staaten Südostasiens Kontraste bei der Pandemiekontrolle sichtbar, die näherer Betrachtung wert sind. Im Rahmen eines durch den Fonds national de la recherche geförderten Forschungsprojekts hat die Universität Luxemburg rechtsvergleichend verschiedene Modelle regulatorischer Eindämmung des Virus in den Blick genommen, darunter Singapur. Bisherige vorläufige Erkenntnisse der Studie dokumentieren signifikante rechtskulturelle Unterschiede, zugleich eine Verformung rechtsstaatlicher Prinzipien und nicht zuletzt Qualitätsunterschiede in regulatorischer Nachhaltigkeit bei der Bekämpfung der Pandemie. Der 6-Millionen Einwohner Staat Singapur ist durch relativ niedrige Infektions- und Opferzahlen gekennzeichnet. Mehrere Gründe lassen sich zur Erklärung anführen. Während westliche Gesellschaften die Corona-Regeln nur mühsam internalisieren, erweisen sie sich in den Ländern Südostasiens als fest implementierter Bestandteil alltäglichen Zusammenlebens. Sie sind Resultat einer soziokulturell verankerten Rechtskultur des Kommunitarismus. Begrenzungen des Individuums durch öffentliche Interessen ist Teil gesellschaftspolitischer Genetik. Jedoch bedeutet dies zugleich auch, dass das Prinzip des Rechtsstaats rein instrumentell als Durchsetzung wirksamer Regierungspolitik verstanden wird. Normativ kann dies nur schwerlich ein nachahmenswertes Modell darstellen. Aus südostasiatischer Erfahrung lassen sich aber gleichwohl Strategien ableiten, die Resilienz des Gesundheitssystems durch Spezialisierung auf den Gebieten der Virologie und Epidemiologie zu stärken, statt es weiter zu deregulieren, und den Einzelnen zu ermächtigen, Verantwortung gegenüber sich und anderen zu übernehmen.

Was sich in Europa, gerade auch in Luxemburg dagegen abzeichnet, ist experimentelles Recht. Der Gesetzgeber verschafft sich, gleichsam ad-hoc, die Regeln, die er für den Moment glaubt, rechtfertigen zu können. Das hat vor allem zwei Folgen: Zum einen verliert die Bestimmtheit des Gesetzes, die gerade dann unverzichtbar ist, wenn Sanktionen für Regelverletzungen angedroht werden, weiter an normativer Überzeugungskraft. Wenn Regeln für den Tag geschrieben sind, sich Sanktionsumfang und -höhe nur akzessorisch, das heißt mittels Verweisungstechnik aus der Verbindung mehrerer Normen ergeben, ist deren Inhalt für den Normadressaten weder vorhersehbar noch nachzuvollziehen. Zum anderen steht die grundrechtssichernde Funktion des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch langfristig in Frage.

In jeder seiner Stellungnahmen zu den Covid-Gesetzen mahnte der Staatsrat an, dass der Gesetzgeber seine Maßnahmen anhand der Kriterien der Verhältnismäßigkeit besser begründen müsse. Jedoch sind die Merkmale der Verhältnismäßigkeit auf empirische Klarheit angewiesen. Angesichts sich verändernden Wissens um Verlauf und Ausmaß der Pandemie, scheinen auch rechtliche Erwägungen wie Knetmasse, die der jeweiligen Pandemielage irgendwie angepasst werden muss. Französische und deutsche Gerichtsurteile begegnen diesem Problem, indem sie bei der Geeignetheit und Erforderlichkeit gesetzlicher Maßnahmen nicht auf starre Regeln Bezug nehmen, sondern Risiken abwägen. Diese Abwägung bewegt sich indes auf einer roten Linie, an deren Enden die subjektiven Rechte des Einzelnen einerseits und der in das Drama von Triage-Entscheidungen zwischen Leben und Tod mündende Zusammenbruch des Gesundheitssystems andererseits liegen. In der politischen Diskussion 2020 bewegte man sich auf dieser Linie zugleich an der Grenze zum politischen Zynismus, wenn die Politik eines inhaltlich entleerten Freiheitsbegriffs noch Einladungen zum fröhlichen Konsum zwitschert, während die harte Realität in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen durch Krankheit und Tod geprägt wird.

An der normativen Regulierung der Pandemie wird sich am Ende die Resilienz des liberalen Rechtsstaats selbst erweisen müssen. Er steht zwischen autoritärer Versuchung und eines vulgärliberalen Modells von Freiheit, in dem jedes individuelle Interesse auch seinen Anspruch als subjektives Recht behauptet. Ein Ausweg daraus ist nicht leicht zu finden. Er führt durch die Tür einer reziproken Idee von Freiheit und allgemeiner Gesetzgebung bei gleichzeitiger öffentlicher Stärkung der Institutionen der Daseinsvorsorge. Das verlangt zunächst einmal zumindest den Versuch, Pandemieschutz durch ein allgemeines Gesetz zu regeln, das Kriterien von Grundrechtseingriffen – auch wenn es nur Risikokriterien sein mögen – über den Tag hinaus festlegt, einen nachhaltigen Rahmen digitalen Informationsaustausches vorgibt und nicht zuletzt kohärente und allgemein verbindliche Kriterien bei der Verteilung von Impfstoffen statuiert. Liberale Rechtsstaaten stehen vor eine Zeitenwende. Sie bedürfen der Neujustierung, wollen sie nicht nur als Form, sondern als Ort inhaltlich gelebter, in gegenseitiger Anerkennung definierter Freiheit weiterbestehen..

Stefan Braum
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