Strange Am Samstag, als die CSV ihre 60 Kandidat/innen für die Kammerwahlen auf einem Konvent im Tramsschapp auf Limpertsberg vorstellte, jährte sich zum zehnten Mal die Regierungskrise, die 2013 zu vorgezogenen Neuwahlen geführt hatte. Das Wort erinnerte daran, dass Luc Frieden 2012 als Finanzminister wegen des Cargolux-Qatar Airways-Deals und wegen seines zu strengen Sparkurses in die Kritik geraten war; weitaus schwerer aber hätten die Vorwürfe von Generalstaatsanwalt Robert Biever gewogen, der Frieden vorwarf, als Justizminister die Ermittlungen in der Bommeleeër-Affäre behindert und Druck auf die Justiz ausgeübt zu haben. Das Tageblatt ergänzte, die Opposition im Parlament habe zwei Misstrauensanträge gegen die Regierung und Frieden gestellt, die nur dank des Koalitionspartners LSAP abgelehnt wurden.
Davon will Frieden heute nichts mehr wissen. „Ch-ch-ch-ch-changes, turn and face the strange“, schallt es am Samstagmorgen aus den Lautsprecherboxen, als der Spitzenkandidat die Bühne betritt, um die zehn Prioritäten der CSV im Wahlkampf vorzustellen. Die 372 Delegierten feiern ihn wie einen Star. Die deutsche Kommunikationsagentur Guru, die sowohl die Wahlkampagne der CSV gestaltet, als auch den Ablauf des Konvents inszeniert hat, hatte sich vermutlich etwas dabei gedacht, als sie für das luxemburgische Pendant zu Friedrich Merz ausgerechnet den Song aussuchte, mit dem der hinsichtlich seiner Geschlechtszugehörigkeit und seiner sexuellen Orientierung ambivalente David Bowie sich 1971 auf die Suche nach „strange fascinations“ begab. Damals war Luc Frieden acht Jahre alt und träumte davon, Müllmann zu werden, wie er vergangene Woche im Youtube-Podcast Gëlle Fro verriet. Schulfreunde aus Esch/Alzette behaupten, der Berufswunsch des kleinen Luc sei Notaire gewesen.
Für die CSV kann Changes vieles bedeuten. Die Partei möchte den politischen Wechsel, nach zehn Jahren Opposition will sie unbedingt wieder in die Regierung. Changes kann auch als Symbol für die Erneuerung gedeutet werden, die sie nach dem Rücktritt von Frank Engel als CSV-Präsident einleitete, als sie ihre Parteispitze verjüngte, sich eine neue Corporate Identity zulegte. Oder als Anspielung auf Friedens vermeintlichen persönlichen Wandel, mit dem er seine Rückkehr in die Politik legitimiert. Weil er sich eigenen Aussagen zufolge als Oppositionsführer im Parlament gelangweilt hatte, ging er im Juli 2014 nach London, wo die Deutsche Bank ihn als Berater einstellte. Kurz zuvor hatte Katar sich als Großaktionär bei der Deutschen Bank eingekauft. Zu dem Emirat hatte Frieden als Finanzminister Handelsbeziehungen aufgebaut, ihre Staatsfonds ins Aktionariat von Cargolux, Bil und KBL geholt. „Et war mega cool an enger Rise-Stad ze wunnen“, erzählte er den beiden Moderatoren von Gëlle Fro. Seine Frau und die beiden Kinder seien in Luxemburg geblieben, er habe wie ein Junggeselle gelebt. Über die Interessenskonflikte, die mit seinem Wechsel einhergingen, sagte er nichts.
Nach nur zwei Jahren hatte Luc Frieden genug von London. Kurz nach dem Tod von David Bowie im Januar 2016 kehrte er nach Luxemburg zurück, wurde Präsident der Bil, Partner der Geschäftsanwaltskanzlei Elvinger Hoss Prussen, als Vorstandsvorsitzender von Saint Paul legte er die Weichen für den Verkauf des katholischen Verlagshauses an den internationalen Konzern Mediahuis. Schon damals brachte er sich als Spitzenkandidat für die Nationalwahlen 2018 ins Gespräch, schließlich setzte sich Claude Wiseler durch. Zum Trost versprach er Frieden einen Posten als EU-Kommissar, falls die CSV in die Regierung komme. Doch sie musste erneut in die Opposition und Frieden kandidierte 2019 nicht bei den Europawahlen, sondern wurde Präsident der Handelskammer.
Luc Frieden fühlte sich stets zu Höherem berufen. Es liege vor allem an seiner Erziehung, seine Mutter habe ihn gestriezt, damit er gute Noten schreibe, manchmal sei es ihm zu viel geworden, erzählte er den Youtubern. Nach dem Abitur im Athenäum studierte er an Eliteuniversitäten: an der Sorbonne, in Cambridge und an der Harvard Law School. Gekifft oder geraucht habe er nie, nicht einmal in Paris, um die Frauen zu beeindrucken; ein einziges Mal habe er an einer Shisha-Pfeife gezogen. „De Fait, datt ech zéng Joer dobausse war, ass quasi wéi wann ech géif nei ufänken. Ech spiere mech och e bëssen esou“, meinte Luc Frieden in Gëlle Fro. Wenn er so auf sein „cooles“ Leben zurückblickt, wirkt der 59-Jährige wie ein alter weißer Mann, dessen kurze Karriere im Big Business ihm zu anstrengend wurde und der nun seinen alten Job zurückhaben möchte, bevor er definitiv in Rente geht. Weil bei den letzten Umfragen weder die Werte der Partei noch die ihres Spitzenkandidaten berauschend waren, redet auf dem Konvent am Samstag keiner mehr vom Premierministerposten. Die CSV ist inzwischen schon froh, wenn sie überhaupt in die Regierung kommt und Frieden irgendein Minister wird.
Die von Guru geschaffene Erzählung vom „neie Luc“ ist nicht schlüssig. Zumindest nicht in der Version, in der er sie verkaufen will. Über Xavier Bettel macht Luc Frieden sich lustig, weil der gerne in der Menge badet und dabei Selfies schießt. Frieden ist der Anti-Bettel: Wenn er Hände schüttelt und winkt, wirkt er hölzern und unbeholfen. Wenn er erzählt, er treffe viele Menschen, klingt es unglaubwürdig. Auf seinen Facebook-Fotos von der Foire agricole und anderen Veranstaltungen mit Volksfestcharakter lächelt er und diskutiert gestikulierend, doch man nimmt es ihm nicht ab – wie das eben so ist, wenn ein ehemaliger Finanzminister und Bankenvorstand, der jahrzehntelang fast ausschließlich in höheren gesellschaftlichen Kreisen verkehrte, sich plötzlich unter das gemeine Volk mischen muss.
Lacke Schong Der „neue“ Frieden tritt seit seiner einstimmigen Nominierung zum Spitzenkandidaten der CSV als ideologischer Patriarch auf. Die Listen für die Kammerwahlen hat er nach seinen Vorstellungen zusammengestellt. Den sozialen Flügel hat er kleingehalten, den wirtschaftsliberalen in die Vitrine gestellt. Die „sozio-professionelle Diversität“ der Kandidat/innen, die er auf dem Konvent hervorhebt, beschränkt sich auf die oberen sozialen Schichten: Ärzt/innen, Ingenieur/innen, Unternehmer/innen, Wirtschaftswissenschaftler/innen, Lehrer/innen; nur die wenigsten haben keinen Hochschulabschluss. Ein Viertel der 60 CSV-Kandidat/innen und die Hälfte der acht Spitzenkandidat/innen sind Jurist/innen, alleine im Zentrum treten sechs Avocat(e)s à la Cour an.
Im Osten führen die Liste Léon Gloden und Max Hengel an. Gloden ist wie Frieden Partner bei Elvinger Hoss Prussen, der Parteisoldat Hengel war 16 Jahre lang stellvertretender Sekretär und politischer Koordinator der CSV-Fraktion im Parlament. Mit der Zweitgewählten von 2018, der Ex-Ministerin und Abgeordneten Octavie Modert, oder mit Stéphanie Weydert, Geschäftsanwältin bei Arendt & Medernach und Ko-CSV-Generalsekretärin mit Landjugend-Flair, hätte im Osten problemlos Parität erreicht werden können, doch ihnen hat Frieden offensichtlich keine Führungsrolle zugetraut. Gleichstellung zwischen den Geschlechtern gehört nicht zu seinen zehn Prioritäten. Im Süden hat er den wirtschaftsliberalen Fraktionspräsidenten und Mamer Bürgermeister Gilles Roth und den profillosen, doch populären Sportlehrer und Escher Bürgermeister Georges Mischo dem Erstgewählten von 2018, dem früheren LCGB-Generalsekretär und Parteipräsidenten Marc Spautz, vorgezogen. Hätte Frieden Parität gewollt, hätte er die Sanemer Schöffin und CET-Direktorin Nathalie Morgenthaler oder die Ko-Parteivizepräsidentin und Lehrerin Anne Logelin nominieren können; die Monnericher Sektion kritisierte öffentlich, dass ihre Gemeinderatsmitglieder überhaupt nicht berücksichtigt wurden. Im mit der Ko-Fraktionsvorsitzenden Martine und dem EU-Abgeordneten Christophe Hansen paritätisch mit Spitzenkandidat/innen besetzten Nordbezirk beklagte sich der frühere LCGB-Gewerkschafter Aly Kaes, dass nicht einmal mit ihm geredet wurde, gegenüber RTL bezeichnete er die CSV als „d’Partei vun de lacke Schong“. Sich selbst hat Frieden im Zentrum die junge Ko-Parteipräsidentin und Stater Gemeinderätin Elisabeth Margue zur Seite gestellt, die vor neun Monaten für Viviane Reding in die Kammer nachrückte. Die Geschäftsanwältin von Arendt & Medernach gehört dem wirtschaftsliberalen Flügel der CSV an, in ihrer Jugend hütete sie Friedens Kinder. Am Samstag votierten rund 92 Prozent der Delegierten für die vier Listen, die geringste Zustimmung erhielt Friedens Zentrumsliste mit 89 Prozent.
Die CSV von Luc Frieden hat kein Verständnis für und kein Vertrauen in Menschen, die nicht ihr ganzes Leben in den Dienst der Wirtschaft stellen; die keinen Universitätsabschluss haben und doch hart arbeiten müssen, ohne viel zu verdienen; die keine Aussicht oder vielleicht auch keine Lust auf den sozialen Aufstieg haben und trotzdem ordentlich leben möchten. Gëlle Fro verriet Frieden seine Bewunderung für „flott Geschäftsleit, déi och eppes fäerdeg bréngen“. Besonders hervor hob er den früheren Radprofi Andy Schleck, der letztes Jahr seinen zweiten Fahrradladen eröffnet hat, und seinen Schulfreund aus dem Athenäum, Philippe Schaus, Enkel des früheren DP-Vizepremierministers Eugène Schaus, der es bis zum CEO der Holdinggesellschaft Moët Hennessy des in der Produktion von überteuerten Luxusgütern tätigen Global Players LVMH geschafft hat (dessen konservativer PDG Bernard Arnault bereits mehrmals wegen Medienbeeinflussung und massiver Offshore-Steuerhinterziehung, auch über Luxemburg, in die Schlagzeilen geraten ist).
Klima Diese Haltung spiegelt sich auch im Wahlprogramm wider, das Luc Frieden sich für die CSV ausgedacht hat (zumindest in den zehn Prioritäten, die er am Samstag vorgestellt hat). Fast sämtliche Bereiche werden in den Dienst der Wirtschaft gestellt, haben sich ihr unterzuordnen: „Mir hätten also gären eng Wirtschaft, déi dréint, déi flott a gutt bezuelten Aarbechtsplaze schaaft, awer dofir musse mer d’Rahmebedingungen esou maachen, datt dat och geet, an datt déi Betriber sech och kënnen erweideren, wann se Terraine brauchen, wann se wëllen nei Aarbechtsplazen (...) schafen, an datt an eisem Land e Klima entsteet, wou et Loscht mécht, schaffen ze goen“, verkündet er. Oberste Priorität habe die Erhöhung der Kaufkraft für die breite Mittelschicht. Dazu möchte Luc Frieden (wie LSAP und Gewerkschaften) eine Erweiterung der Lohntranchen in der Steuertabelle, damit für die Beschäftigten nicht bei jeder zweiten Indextranche gleich der Steuersatz steigt. Im Gegensatz zur politischen Linken will Frieden aber auch die Körperschaftsteuer senken. Zu hohe Steuern auf Kapitaleinkommen führten dazu, dass Unternehmen in andere Länder abwandern.
Steuersenkungen für alle seien nicht zu finanzieren, hielten ihm seine politischen Konkurrent/innen in den vergangenen Wochen vor, besonders wenn man, wie die CSV, die Schuldengrenze niedrig halten wolle. Doch Frieden entgegnet ihnen, dass geringe Steuern das Wirtschaftswachstum ankurbeln, was wiederum die Staatskasse fülle. Der CSV geht es nur vordergründig um Kaufkraft für die Mittelschicht. In dem Buch Europa 5.0, das Frieden 2016 zusammen mit zwei Deutsche-Börse-Vorständen verfasste, mit denen er bei der Deutschen Bank zusammenarbeitete, wird erklärt, welchen Zweck niedrige Lohnsteuern tatsächlich erfüllen: Sie sollen die Nachfrage der Unternehmen auf den Arbeitsmärkten und nach Investitionen in den Kapitalstock fördern (S.111). Würden Lohnsteuern erhöht, sinke das Interesse von Arbeitnehmern an Mehrarbeit und die Bereitschaft dazu. Auch das zu rigide Arbeitsrecht (S.99) könne dazu beitragen, stellen die Autoren fest: Zu strenge Kündigungsschutzregelungen (S.35) und hohe Mindestlöhne (S.101) behinderten das Wirtschaftswachstum, es brauche Flexibilität in der Arbeitszeitregelung (S.101). So deutlich wie in seinem Buch drückt Luc Frieden es im Wahlkampf nicht aus. Er will den sozialen Flügel seiner Partei nicht zu sehr verärgern. Deshalb sagt er am Samstag, die CSV wolle Arbeitszeiten und Homeoffice nicht per Gesetz, sondern auf Betriebsebene regeln, den Sozialdialog in den Unternehmen wolle sie unterstützen.
Die aus der nationalsozialistischen Besatzungszeit stammenden Steuerklassen, die dazu führen, dass Ledige, getrennt Lebende und Verwitwete mehr Steuern zahlen als Verheiratete oder eingetragene Partner/innen, will die CSV – im Gegensatz zu „Gambia“ – nicht abschaffen. Sie will lediglich die Zeitspanne (von drei auf sechs Jahre) verdoppeln, nach der Witwen und Witwer von der Steuerklasse zwei in die ungünstigere Steuerklasse 1a fallen. Neben ihrer Wirtschaftsfreundlichkeit zeichnet die CSV von Luc Frieden vor allem ihr reaktionäres, heteronormatives Familienbild aus. „Jonk Familljen“, die am Anfang ihrer Karriere stehen, sollen einen Starter Kit erhalten, der ihnen drei Jahre lang Steuererleichterungen garantiert. Jungen Eltern will die CSV ein Recht auf Teilzeitarbeit gewähren, „wou se da kënne Famill a Beruff op eng flott Aart a Weis matenee kombinéieren“. Eltern, die ihre Kinder zuhause betreuen, sollen doppeltes Kindergeld bekommen, bis ihre Kinder im schulpflichtigen Alter sind. „Ech nennen dat léiwer Work-Kids-Balance ewéi Work-Life-Balance, well Schaffen ass jo Deel vum Liewen“, sagt Luc Frieden. Zeit mit seinen Kindern zu verbringen, gehört für ihn offensichtlich nicht zum Leben und junge Menschen, die sich für ein vom Familienbild der Nachkriegszeit abweichendes Lebensmodell entscheiden, haben offenbar gar kein Recht auf Freizeit, dürfen dafür aber weiterhin wesentlich mehr Steuern zahlen.
Schëff „De Klima läit eis alleguer um Häerzen, d’Natur ass eppes esou Wonnerschéines“, schwärmt Luc Frieden am Samstag, bekennt sich zu den europäischen Klimazielen, stellt fest, dass Luxemburg bei den erneuerbaren Energien zu den Schlusslichtern in Europa gehöre, ignoriert den Tanktourismus geflissentlich und verkündet, die CSV werde das Gleichgewicht zwischen Wirtschaft, Sozialem und Klima mit hohen Investitionen in Betriebe und Leute wiederherstellen: „Wa Vëlosweeër net gebaut ginn, (...) well iergendwou e Biotop ass (...), wann am Bauperimeter net ka gebaut ginn, well eng Fliedermaus vun engem Kierchtuerm op e Bam flitt, da soen ech, den Equiliber ass net richteg“, urteilt der Spitzenkandidat und verspricht, Umgehungsstraßen zu bauen, die Tram bis in die Nachbargemeinden der Hauptstadt fahren zu lassen und bessere Zugverbindungen ins Ausland zu erschließen.
Während Luc Frieden referiert, sitzen hinter ihm die 59 anderen Kandidat/innen. Claude Wiseler hat in der ersten Reihe Platz genommen. Bei manchen Passagen muss der Ko-Parteipräsident süffisant lächeln – als ob er sich freue, endlich jemand anderen gefunden zu haben, der den Kopf hinhalten muss, falls die CSV es im Oktober erneut nicht in die Regierung schafft. Vor der Kandidatenvorstellung hält Wiseler seine eigene Konvent-Ansprache. Als Einlaufmusik für den gescheiterten Spitzenkandidaten von 2018 hat Guru den INXS-Hit New Sensation ausgewählt. Wiseler erzählt von der Erneuerung der Parteispitze und der neuen Mannschaft, „déi kuckt, datt mer dat Schëff, dat grousst Schëff, dat Schëff dat scho vill Geschicht huet, datt mer dat duerch déi Gewässer kréien, déi op eis zou kommen“. Rund eine Stunde später wird der Konvent während 15 Minuten unterbrochen, um die Stimmzettel der Delegierten auszuzählen. Für Pausenunterhaltung sorgt neben den Parteimitgliedern Maurizio und Leo Spiridigliozzi mit Akkordeon und Xylophon die junge Musikantin Emilie Beneké. Bevor die 18-jährige Christsoziale aus dem Osten die Polkamelodie der Echternacher Springprozession anstimmt, spielt sie auf ihrem Saxophon Céline Dions Ballade My heart will go on, den Titelsong des romantischen Katastrophenfilms Titanic.