225 der 226 Delegierten stimmten am Sonntag beim LSAP-Landeskongress für Paulette Lenert als nationale Spitzenkandidatin für die Kammerwahlen am 8. Oktober. Der Saal des Leudelinger Kulturzentrums An der Eech war abgedunkelt, dramatisch anschwellende Musik drang aus den Lautsprechern. Auf die Bühne wurde ein Film projiziert, der Lenert mit gewinnendem Lächeln ihrem Publikum entgegengehen ließ. „Paulette! Paulette! Paulette!“ begann der Kongress zu rufen. Wie um die Gesundheitsministerin auf der „dernière ligne droite“ anzufeuern, von der sie bei ihren Corona-Pressekonferenzen oft erzählt hatte. Um den Leuten Mut zu machen, dass sie bei ihr in guten Händen seien, bis irgendwann alles wieder normal sein würde.
Gut möglich, dass diese Inszenierung mithalf, ihr so viel Zuspruch zu sichern. 225 von 226 macht 99,55 Prozent. Mehr als die 99,2 Prozent, die vor zehn Jahren Etienne Schneider erhielt, als er so unverfroren war, gegen Jean-Claude Juncker antreten zu wollen und mit diesem Ende der Bescheidenheit die Partei mobilisierte. Bei der Abstimmung um Schneiders Kandidatur am 16. Juli 2013 enthielten 55 Delegierte sich. Zu Paulette Lenert enthielt sich niemand.
Um möglichst viel Zuspruch für sie ging es auf dem Kongress vor allem. Weniger als 90 Prozent wären kein gutes Zeichen gewesen. Die Parteispitze hofft, dass das Sympathiekapital, das die Gesundheitsministerin in der Covid-Pandemie sammeln konnte, in ihr als Spitzenkandidatin nach wie vor gut angelegt ist. Mag Außenminister Jean Asselborn sie in der jüngsten Politmonitor-Umfrage auch auf dem ersten Rang der Beliebtheitsskala abgelöst haben. „Paulette, bleif, wéi s de bass, du bass anescht! Mat dengem Charme…“, fasste der emotional sichtlich bewegte Alex Bodry nach der Abstimmung am Sonntag gut zusammen, was für Erwartungen in sie gesetzt werden. Etienne Schneider war der Draufgänger gewesen, der 2013 den CSV-Staat zu modernisieren versprach und es nicht schlimm fand, dass der damalige DP-Präsident Xavier Bettel ihm bescheinigte, ein „Sozialliberaler“ zu sein, der genauso gut Mitglied der DP sein könnte (d’Land, 20.9.2013). Der 2018 einer taktischen Kurskorrektur zustimmte, die von den Parteilinken ausging und den sozialen Fortschritt als politisches Programm für die LSAP wiederbelebte. Paulette Lenert dagegen stand bisher vor allem für sich selbst, „anescht“ eben. Am 8. Oktober soll sie mit der LSAP um die Mittelschichten werben und mit mütterlicher Empathie auch auf den Premier-Posten zielen.
Dabei wird an der Parteibasis durchaus gefragt, für welche Politik sie steht. Spätestens seit sie RTL am 4. Januar erklärte, sie sei „oppe fir eng Diskussioun doriwwer, ob a wéi een d’Instrument vum Index iwwerdenke kann“. Dabei war sie gerade erst Vizepremierministerin der Partei geworden, die sich seit 50 Jahren als Garantin des Index versteht. Vielleicht wollte die Parteispitze am Sonntag Fehltritten vorbeugen, als sie entschied, die Wahlkampfprogrammatik auf dem Kongress überwiegend von anderen vortragen zu lassen. In diesen politischen Argumentationsrahmen trat Paulette Lenert erst in den letzten 40 Minuten ein. Noch wahrscheinlicher ist, dass alles Dramaturgie war. Die Parteiführung hatte es in den letzten zwei Jahren nicht gestört, dass Lenert sich zierte zu erklären, ob sie als Spitzenkandidatin zur Verfügung stünde oder nicht. Solange sie die beliebteste Politikerin des Landes war, hielt das die Spannung beim Wahlvolk aufrecht. Ihr „ech si prett“ beim LSAP-Neujahrsempfang am 20. Januar musste sein, weil das Superwahljahr begonnen und Xavier Bettel sich drei Wochen zuvor als DP-Spitzenkandidat ins Spiel gebracht hatte. Eine Entscheidung der CSV war ebenfalls zu erwarten. Nach dem 20. Januar war von ihr politisch nicht mehr viel zu vernehmen. Der OGBL sah ihr die Aussagen zum Index nach und hoffte, sie werde „in sich gehen, um ihre Positionen zu überdenken“ (d’Land, 3.2.2023). Tatsächlich ging sie weitgehend auf Tauchstation. Was sie zuletzt lediglich vier Beliebtheitspunkte kostete. Dieses fortgesetzte Zögern wurde am Sonntag einer emotional befreienden Lösung zugeführt. Bis dahin wurde auf der Bühne des Leudelinger Kulturzentrums immer wieder eingeblendet „Eis designéiert Spëtzekandidatin“. Ein wenig albern war das schon.
Wo es langgehen soll, machte das Parteipräsidenten-Tandem Francine Closener und Dan Biancalana klar. „Ohne die LSAP gäbe es keinen sozialen Fortschritt!“, rief Closener in den Saal und eröffnete den Kongress damit. Biancalana ergänzte: „Während andere meinen, sich um die Patrons sorgen zu müssen, sorgen wir uns ëm déi schaffend Leit.“ Keine Zweiklassen-Medizin, kein Zweiklassen-Schulsystem. „Keen Ofbau beim Index.“ Wohnen sei ein Grundrecht; es müsse massiv in soziale Mietwohnungen investiert werden. Biancalana nahm Luc Friedens Steuerversprechen auseinander. „Die letzten, die Luc Friedens Rezept ausprobiert haben, waren die Engländer. Ihr erinnert euch, Liz Truss!“ Mit der LSAP werde es so etwas nicht geben. Biancalana versprach: „Mir sinn esou eppes vu prett!“
Dabei stellt das Wahlprogramm der LSAP nicht ihren traditionellen Politikfundus an erste Stelle. Sondern ein transversales Konzept von Chancengleichheit, Inklusion und Mitbestimmung in einer modernen und multikulturellen Gesellschaft, die der jungen Generation eine lebenswerte Zukunft verspricht (siehe den nebenstehenden Artikel). Dennoch hoben auch Flore Schank, Nord-Spitzenkandidatin neben Claude Haagen, und Ben Streff, Ost-Spitzenkandidat neben Paulette Lenert und Wahlkampfmanager der Partei, das Soziale besonders hervor, als sie Schwerpunkte des Programms aufzählten: „Finger weg vom Index und vom Streikrecht.“ Das Kollektivvertragswesen müsse gestärkt und ausgebaut werden, der Mindestlohn zum 1. Juli 2024 um 100 Euro netto steigen, wie er schon zum 1. Juli 2019 auf Betreiben Etienne Schneiders gestiegen war. Sie erwähnten auch, dass die LSAP für eine Senkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre bei Freiwilligkeit eintritt, das CGDIS ausbauen und „endlich eine richtige Vision“ für die Mobilität haben würde. Doch Ankündigungen dieser Art waren in der Minderzahl gegenüber den eindeutiger sozialen. Einer „Robotersteuer“, die in die Rentenkasse fließen soll. Der Steuerreform, die „von dort, wo Geld ist, nach unten und in die Mitte umverteilt“, wie Streff sich ausdrückte. Und der Arbeitszeitverkürzung: „Entweder, wir warten noch 20 bis 30 Jahre, bis sie von alleine kommt, oder wir gestalten das. Deshalb: 38-Stundenwoche und sechs Urlaubswochen im Privatsektor.“
Dass die Parteiführung auf dem Kongress das Soziale hervorstrich, sollte skeptische Delegierte überzeugen. Ohne dass daraus allzu offensive Vorsätze geworden wären. Die Jungsozialisten rangen dem Kongress die Änderung am Wahlprogramm ab, dass die LSAP sich „der Analyse“ einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer „nicht widersetzt“. Der Parteilinke Dan Kersch, der der Resolutionskommission zum Wahlprogramm vorstand, begründete die defensive Position so: „Mir lafen hei net virun de Won, mir kommen net mat fäerdege Rezepter.“
Denn auch für die LSAP geht es um Koalitionsfähigkeit nach dem 8. Oktober. Ihre „roten Linien“ scheinen der Index zu sein und die solidarisch finanzierte Gesundheitsversorgung, mit der Pflichtbindung der Dienstleister an die CNS und demselben Leistungskatalog für alle. Explizit rote Linien trug in Leudelingen aber niemand vor. Und wenn es, wie die Lage der Grünen zeigt, offenbar unklug ist, sich auch nur den Anschein zu geben, eine „Verbotspartei“ zu sein, will dieses Risiko auch die LSAP nicht eingehen: Der Kongress verwarf den Vorschlag der Jungsozialisten, die Vermietung von Wohnungen mit schlechter Wärmedämmung zu verbieten, wie das in Frankreich geschehen soll. Stattdessen soll es für die Vermieter Anreize zum Renovieren geben. Verbieten will die LSAP dagegen Privatflüge zu Destinationen, die sich in drei Stunden auch mit der Bahn erreichen lassen. Der politische Preis dafür dürfte überschaubar sein, Privatflugzeugbesitzer eher nicht der LSAP zuneigen.
Der designierten Spitzenkandidatin blieb in ihrer Bewerbungsrede an den Kongress kaum mehr, als verschiedene Stichworte zu einem Ganzen zu verbinden. Sie trug es bisweilen sehr sozialistisch vor. Die Arbeitszeit gehöre verkürzt, weil „déi schaffend Leit net méi genuch vun de Benefisser kréien“. Der Wohlstand müsse „verteilt“, also nicht nur umverteilt werden. Längeren Applaus erhielt sie für ihr Versprechen, dass es mit den Sozialisten keine Zweiklassen-Medizin geben, die LSAP „unser System nicht wegwerfen“ und sich nicht „von Lobbyisten blenden lassen“ werde. Lenert war auch die Ankündigung vorbehalten, weil der Wohnungsbau eine „nationale Priorität“ sei, werde die LSAP dafür sorgen, „dass 25 Prozent der Mietwohnungen in die öffentliche Hand übergehen“.
Ehe Lenert und die anderen Kandidat/innen sich mit roten Päckchen fotografieren ließen, auf denen der Slogan stand, „Mir si prett, mir liwweren“, versicherte der deutsche SPD-Kanzler Olaf Scholz in einem Video, „das stimmt auch, das macht die LSAP“. Allerdings kostete es ihre Spitzenkandidatin am Dienstag wieder nur ein Radiointerview, um an ihren sozialistischen Motiven und denen ihrer Partei zweifeln zu lassen. Im 100,7 brachte sie die Arbeitszeitverkürzung nicht mehr mit der Verteilung von Produktivitätsgewinnen zusammen, sondern mit der Prävention von Arbeitsüberlastung und der Wettbewerbsfähigkeit Luxemburgs bei der „talent attraction“. Auf die Frage, ob eine 38-Stundenwoche gesetzlich verankert werden soll, meinte sie, „generell ja“, doch „die automatische Logik ist eine Scheinlogik“. Das Arbeitsrecht biete bereits „ganz viel Flexibilität“ für eine Senkung um zwei Stunden. Sie sei „vor allem daran interessiert, über Pilotprojekte eine Beweislast zu schaffen, dass man auch darüber hinausgehen kann“. Eine rote Linie sei für die LSAP, „dass es weitergeht in dem Dossier“.
An der Arbeitszeitverkürzung wird demnach keine Koalition mit der LSAP scheitern.