Am Waldweg von Düdelingen nach Volmerange steht ein Schild. Zwischen Brennnesseln und Klee, zwischen dem Abhang des Hügels auf der einen Seite und dem Gestrüpp, das den Blick auf das ehemalige Stahlwerk Neischmelz freigibt, auf der anderen. Die beschriftete Beschichtung des Schildes blättert ab, darunter Rost. Nur vage ist noch zu erkennen, dass dort einst „Douane“ stand, darunter „Voie non autorisée“. Irene Portas Vazquez läuft mit uns hier entlang. Sie ist Forscherin am Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History (C2DH) und untersucht dort Schmuggelaktivitäten an der Luxemburger Grenze zu Frankreich zwischen den Weltkriegen. „Für die Schmuggler ist die Region im Süden optimal“, erklärt sie und deutet auf die Büsche und Hügel. „Hier ist überall Wald und sie konnten sich leicht verstecken.“
Die Voie non autorisée war ein Grenzübergang ohne Checkpoint, ein schmaler Waldpfad, nur mit besonderer Befugnis zu betreten. „Normalerweise hätten die Leute an einem Grenzbeamten vorbeigehen müssen, der fragte, ob sie etwas zu deklarieren haben. Wer stattdessen hier die Grenze überquerte, war sofort verdächtig“ erklärt Irene. Heute ist die Nutzung dieses Weges nicht mehr verboten, zwei Spaziergänger mit Hunden laufen an uns vorbei, Anwohner. Ob sie wüssten, wo genau die Grenze verläuft, fragt Irene sie. „Irgendwo hier.“ Das verrostete Schild ist der einzige Hinweis, dass hier überhaupt eine Landesgrenze ist. Grenzsteine wie an anderen Orten finden wir nicht.
Grenzen sind Irenes Forschungsthema und seitdem sie sich am C2DH als Doktorandin damit beschäftigt, stellt sie sie immer wieder in Frage: die Grenze zwischen Luxemburg und Frankreich, die zwischen Legalität und Illegalität, zwischen Richtig und Falsch, zwischen Geschichtswissenschaft und Anthropologie. Irene Portas Vazquez studierte in Utrecht Kulturanthropologie. Während Geschichtswissenschaftler traditionell einen quantitativen Ansatz verfolgen, versucht Irene, die Menschen zu verstehen, die den Alltag ausmachten, ein anthropologischer Ansatz. Sie ist Doktorandin im Rahmen des Forschungsprojekts zur Europäischen Kulturhauptstadt Esch2022 am C2DH der Luxemburger Universität. Das Projekt Remixing Industrial Pasts in the Digital Age bereitet die Industriegeschichte der Region auf, vom späten 19. Jahrhundert bis zum allmählichen Niedergang der Stahlindustrie in den 1970er Jahren. Ein Teil des Projektes ist die virtuelle Ausstellung Minett Stories, 22 persönliche Geschichten einfacher Leute als Akteure der Industrialisierung im Minett. Irene Portas Vazquez konzentriert sich in ihrer Forschung auf gesetzeswidrige Aktivitäten an der Grenze zu Frankreich zwischen den Weltkriegen, vor allem auf Schmuggel. Ihre Recherche brachte sie ins Zollmuseum nach Bordeaux. Dort fand sie Register von Untergrundaktivitäten an der französischen Grenze. Ein Schatz, den sie noch auswertet, 1 700 Seiten. In Luxemburg sei es anfangs schwieriger gewesen, an Daten zu kommen, sagt sie. Viele sind sicher verwahrt in Archiven, Gerichtsfälle in Aktenschränken. Daher fing sie ihre Recherche bei den Menschen an, sprach mit ehemaligen Zollbeamten und machte schließlich die Reise nach Bordeaux. Noch vier Jahre hat sie für die Recherche als Doktorandin Zeit und langsam öffnen sich ihr mehr Türen und Datensätze.
„Schmuggel war Teil des Alltags“, sagt sie. „Die Leute kauften Huhn in Frankreich, denn dort gab es einen Tiermarkt, oder französischen Camembert, den sie in Luxemburg nicht fanden. Die meisten waren keine Kriminellen.“ Wie heute noch, brachten die Leute vor allem Tabak und Alkohol unverzollt über die Grenze, statt eines Päckchens eine Stange, und außerdem Lebensmittel. Oft schmuggelten Frauen. „Sie versteckten Waren unter den weiten Kleidern und spielten mit dem Bild der unschuldigen Frau.“ Außerdem seien die Grenzzöllner alle Männer gewesen. Um einer Frau unter das Kleid zu greifen, hätten sie jemanden rufen müssen, der dazu befugt ist, zu viel Aufwand. „Einige waren vermutlich Witwen, die durch den Tabakverkauf in Frankreich ihren Lebensunterhalt verdient haben.“ Das legen Irenes Daten nahe. „Doch oft haben sie kleine Mengen Butter, Mehl rübergebracht, nur um ein paar Cent zu sparen.“ Für Irene war diese Erkenntnis erstaunlich. Frauen werden im Kontext der Industrie- und Bergbaugeschichte oft in der einzigen Rolle als Hausfrau dargestellt. „In den Registern bin ich immer wieder auf Frauennamen gestoßen. Sie haben dafür gesorgt, dass die Familie über die Runden kommt.“ Irene möchte sich mehr damit beschäftigen, tiefer graben. „Schmuggler sind nicht unbedingt diese Outcasts der Gesellschaft. Sie sind normale Leute, die nicht genug Geld für die Einkäufe der Familie hatten.“
Dafür hat auch Nico Düsseldorf Verständnis. Mehr als 40 Jahre hat in der Zollverwaltung gearbeitet, bevor er 2018 in Rente ging. „Man muss menschlich bleiben“, sagt er. „Das gehört zum kulturellen Austausch. Vieles war hier billiger als drüben. Die Leute wussten das auszunutzen. Vielleicht hat der Metzger in Frankreich auch die bessere Wurst gemacht. Die Grenzgänger, die hier arbeiteten, haben zum Wohlstand des Landes beigetragen, und die dann wegen einer Wurst zu strafen, das wäre übertrieben.“ Diese Einstellung, so Nico Düsseldorf, sei beim Zoll gängig gewesen. Auch wurden die Arbeiter sowieso wenig kontrolliert. „Man kennt sich an den Grenzübergängen. Sie kamen jeden Morgen und Abend da entlang. Jedes Mal zu fragen, ob sie etwas zu verzollen haben, wäre ja bescheuert.“
Ab und zu ist doch jemand aufgeflogen, wenn zum Beispiel der Grenzbeamte wechselte. Dann drohte eine kleine Geldstrafe. „Die Leute kannten das Risiko und das war es ihnen wert. Der Zolldirektor war befugt, mit gegenseitigem Verständnis zu schlichten. Das ist der freiwillige Unterwerfungsakt“, erklärt Nico. „Den gibt es immer noch. Man unterwirft sich der Schlichtung des Zolldirektors.“ Viele Fälle werden so vor Ort geregelt, ohne dass es zu einem Gerichtsverfahren kommt. „Der Zollbeamte konnte die Strafen nach eigenem Ermessen auf bis zu ein Zehntel heruntersetzen, dann haben sie statt 1 000 Franken vielleicht nur 100 zahlen müssen. Der Richter konnte das nicht.“ Auch die schwammigen Regeln, so Nico Düsseldorf, machen es den Schmugglern heute noch leicht. Wer behauptet, er habe nur für den Eigenbedarf zu viele Zigaretten dabei, könne damit unter Umständen auch vor Gericht durchkommen. „Gummiregulierungen“, nennt Nico sie.
Besonders die Grenzgänger seien einfallsreich gewesen, sagt er, und flogen selten auf. „Einige haben mit Hunden geschmuggelt, ihn vollgepackt und losgeschickt. Der lief mit dem Gepäck durch das Gebüsch zurück und wusste genau, wo er hinsollte. Es war schwer, in den ganzen Waldgebieten einen Hund auszumachen. Der Mann lief später über die Grenze und hatte nichts dabei.“
Dabei war der Zoll zu Nicos Zeiten schon besser gerüstet als zuvor. Noch bis in die 1950er Jahre seien die Zöllner mit dem Fahrrad die Grenze abgefahren, um die vielen kleinen Übergänge zu kontrollieren, eine unmachbare Aufgabe, besonders da der Zoll noch immer stark unterbesetzt war. Erst seit dem Ende des Ersten Weltkrieges hat Luxemburg überhaupt eine eigene Zollverwaltung. Zuvor war Luxemburg Teil des Deutschen Zollvereins und der deckte auch die heutige französische Grenzregion ab. Denn seit dem vorangegangenen Krieg, dem deutsch-französischen 1871, war Lothringen Teil des Deutschen Reiches. 1918 fiel es an Frankreich zurück. Irene Portas Vazquez sagt: „Nach dem Ersten Weltkrieg verdoppelte sich die zu kontrollierende Grenze beinahe.“ Außerdem fiel das Personal des Deutschen Zollvereins weg. Luxemburg gründete mit Belgien die Belgisch-Luxemburgische Wirtschaftsunion, musste jedoch eine eigene Zollverwaltung aufbauen, inmitten der Nachkriegskrise. Luxemburg hatte kein Geld und sparte an Staatsbeamten, der Zoll war heillos unterbesetzt, die Beamten schlecht bezahlt und überarbeitet durch viel zu lange Schichten und unregelmäßige Arbeitszeiten. Es war unmöglich, die Grenze flächendeckend zu kontrollieren.
Da Grenzen zuvor kaum eine Rolle gespielt hatten, war der Süden außerdem stark vernetzt, weiß Irene. „Als Lothringen Teil von Deutschland war und Luxemburg im Deutschen Zollverein, wurde die Industrie über die Grenzen hinaus gebaut, ohne Barrieren. Die Industrie war ein grenzübergreifender Teppich. Die Grenzen sind sehr viel fließender, als man denkt.“ Man habe nicht einmal gewusst, wo sie genau verläuft. „Viele Grenzmarken wurden entweder von der Natur verschlungen oder sie mussten der Minen- und Industriearbeit weichen, wurden entfernt. 1938 haben Luxemburg und Frankreich eine Kommission gegründet, um herauszufinden, wo die Grenze exakt verläuft, und sie wiederherzustellen.“
Die Grenzgänger und sonstigen Schmuggler wussten das grenzübergreifende Netz der Minen zu nutzen, sagt Irene. „Die Minen sind Labyrinthe, viele Arbeiter haben durch die Minen geschmuggelt.“ Sie sind in Luxemburg hineingegangen, unterirdisch nach Frankreich gelaufen, haben dort ihre Waren abgeladen und sind durch eine andere Mine nach Luxemburg zurück. „Die Leute, die dort sechs Tage die Woche gearbeitet haben, wussten genau, wann und wo sie gehen konnten und was sie mitnehmen konnten. Das waren perfekte Bedingungen für Schmuggler.“ Zwar wurde ab und zu in den Minen kontrolliert, doch das sprach sich so schnell bei den Arbeitern herum, sodass sie vorgewarnt wurden, und die Zollbeamten durften nicht alle Grubengänge nutzen.
Unterirdisch wurden nicht nur Alltagsdinge, Tabak, Alkohol und Lebensmittel, geschmuggelt. Die kommunistische Arbeiterbewegung nutzte die Minen für den Schmuggel kommunistischer Zeitungen. „Viele der italienischen Gastarbeiter wurden hier politisiert. Sie arbeiteten in einem ausbeuterischen System, das sie wegschickte, sobald sie keine Arbeit mehr hatten.“ Die italienischen Kommunisten konnten hier viele neue Anhänger gewinnen. Sie druckten die Zeitung Il Riscatto in Brüssel und schmuggelten sie von dort nach Frankreich und Luxemburg geschmuggelt. Die Minenarbeiter hier lasen so über Kommunismus in Italien, Luxemburg und Frankreich.
Wo einst die Mine war zwischen Düdelingen und Volmerange war, ist immer noch erkennbar. Große Steinquader am Waldweg, überwuchert von Moos, markieren nicht etwa die Grenze, sondern wahrscheinlich die Mineneingänge, vermutet Irene. Wo die Grenze ist, sieht man heute ebenso wenig wie vor 80 Jahren.