Kies knirscht unter unseren Füßen, als wir die Eierstöcke betreten. „Du bist an der Weggabelung angekommen“, säuselt eine Stimme aus dem Kopfhörer ins Ohr. Die Eierstöcke sind eine Lichtung im Wald, von der vier Wege abzweigen. „Das ist wie eine Uhr“, sagt Mandy Thiery, Autorin des Hörspiels Malleus Maleficarum 2.2. Alle Stationen des Audiowalks sind nach Körperteilen benannt. Die Haare spielen eine große Rolle in der Geschichte, ebenso wie das Herz. Die Stimme an der Eierstock-Lichtung sagt eindringlich: „Der Weg, den du hier wählst, wird dein ganzes Leben beeinflussen. Als Schlangenfrau musst du heiraten. Indem du einen Weg wählst, schreibst du all die anderen ab. Du kannst dich für Kinder entscheiden oder für die Karriere. Du wirst zu deinen Eierstöcken oder reißt sie aus deinem Körper aus. Entscheide schnell, denn ansonsten entscheidet die Natur für dich.“
Die Stimme, die Spaziergänger Waldwege hinauf und hinunter begleitet, ist die Schlangenfrau. Sie ist die Hauptfigur einer alten Düdelinger Sage. Mandy Thiery erklärt: „Sie war ziemlich beliebt, sie wurde verheiratet mit einem französischen Grafen oder König, war unglücklich und musste dann flüchten, in ihre Heimat, auf den Johannisberg. Dort hat sie in einem Klosterhäuschen versteckt gelebt. Sie hat sich immer gut um ihre Mitmenschen gekümmert, bei Problemen geholfen. Das Volk liebte sie und als sie gestorben ist, wollte das keiner glauben.“ Für Mandy stand zunächst eine Frage wie ein greller Stern vor den Augen: „Ich frage mich immer, wie sie sich dabei gefühlt hat. Diese Legenden sind sehr fragmental. Sie hat so schlimme Sachen erlebt, sie wurde zwangsverheiratet, musste flüchten, es war Krieg“, sagt Mandy. „Niemand hat gefragt, wie es ihr ging.“ Die Schlangenfrau kann Mandy das heute nicht mehr fragen. Doch die Düdelinger Frauen schon.
Mandy Thiery ist Schriftstellerin und schreibt vorrangig Theaterstücke. Zurzeit arbeitet sie an einer Produktion fürs Escher Theater. Für das Projekt E roude Fuedem duerch de roude Buedem von Maskénada schrieb sie erstmals ein Hörspiel. Der Audioparcours auf die Haard in Düdelingen war eine Herausforderung für sie. Er verbindet eine alte Sage mit Interviews aus heutiger Zeit, spielt mit dokumentarischen Aufzeichnungen und fantastischen Elementen.
Der Audiospaziergang Malleus Maleficarum 2.2 führt vom CNA in den Wald und hinauf zur Haard. Die App Goh, entwickelt vom Straßburger Sounddesign-Kollektiv Les Ensembles 2.2, führt den Weg entlang. Sobald die Zuhörer einen bestimmten Bereich des Weges betreten, springt der nächste Audiotrack an. Malleus Maleficarum 2.2 ist einer von sechs derartigen Audiowalks, die das Künstlerkollektiv Maskénada im Rahmen ihres Kulturhauptstadt-Projekts E roude Fuedem duerch de roude Buedem entworfen haben. Die sechs Parcours verteilen sich auf die Waldgebiete rund um die Minettgemeinden. Die Basisgeschichten sind lokale Legenden aus Nikolaus Gredts Sammlung Sagenschatz des Luxemburger Landes von 1883. Die Autoren, Regisseure und Künstler von Maskénada haben sie umgedichtet. In den Sagen – oft sind nur ein paar Sätze überliefert – kommen Frauenrollen ihrer Ansicht nach zu kurz. Tammy Reichling, künstlerische Leiterin des Projekts, sagt: „Wenn Frauen vorkommen, sind das oft Hexen, Burgfrauen oder weiße Frauen, oft sind sie gar nicht sichtbar. Wenn sie sichtbar sind, dann werden sie als sehr wild und ausgestoßen dargestellt – oder als angepasste Burgfrauen.“ Bei Maskénadas Neuerzählungen erhalten Frauen die Hauptrollen, die sie in den überlieferten Legenden nicht haben. „Wir geben den Frauen ein neues Narrativ“, sagt Projektleiterin Mirka Costanzi. „Wo kommt die Frau her? War sie schon immer da? Ist sie eine Migrantin? Ist sie eine alleinerziehende Mutter?“ Die beteiligten Autorinnen und Autoren spinnen Hintergründe, Geschichten, Zusammenhänge und Identitäten. Viel fließt auch aus ihren eigenen Lebensgeschichten ein.
Den Anfang unter den Audioparcours machte im April die Sage vom wilden Ritter im Ellergronn. Die Parcours in Bettemburg und der vom Zolwerknapp in Sassenheim folgten. Seit Mitte August ist der Düdelinger Parcours zu laufen. Im Herbst folgen Bergem und Lasauvage. Einige der Parcours sind lineare Erzählungen in Hörspielform, andere sind als Live-Performance konzipiert. Alle Wege sind mit dem Symbol einer roten Fadenspule markiert. Die Einweihung von Malleus Maleficarum 2.0 fand im Rahmen der Acoustic Picnics des Kulturzentrums Opderschmelz statt. Für Mandy Thiery war das eine Gelegenheit, endlich zu sehen, wie ihre Geschichte auf andere wirkt und sich mit dem Publikum auszutauschen. „Viele haben danach Fragen gestellt und wollten ihre eigenen Erfahrungen beisteuern. Es war schön zu sehen, dass das, woran ich die ganze Zeit gearbeitet habe, bei den Leuten ankommt.“
Der Parcours startet am Kulturzentrum Opderschmelz in Düdelingen. Dort im Schaufenster hängt ein Plakat mit QR-Code zum Download. Die Strecke für den Audiowalk habe Maskénada gemeinsam mit Urbanisten ausgearbeitet, erklärt Mandy Thiery. „Die erste Station ist hier auf der Brücke, dann hat man den Blick über Düdelingen.“ Ans ausgeblichene rote Geländer der Brücke gelehnt, fordert die Stimme der Schlangenfrau die Zuhörer auf, sich umzusehen: der Bahnhof Usine, die Dächer der Innenstadt, der Wasserturm. Der Stimme folgend, lassen Spaziergänger die Brücke und das italienische Viertel hinter sich, treten in den Wald ein, folgen einem schmalen Pfad, umsäumt von stacheligen Büschen, von Buchen, Efeu und einem mit Erde bedeckten Steinwall. Die Geräusche des Verkehrs und einer Baustelle dringen durch. Sounds aus Science-Fiction und Mystery verwandeln den Düdelinger Wald in einen düsteren Märchenwald aus einer anderen Welt. Die Stimme der Schlangenfrau im Kopfhörer spricht weiter, leitet durch den Wald und durch die Entscheidungen und Schwierigkeiten, vor denen Frauen im Laufe des Lebens und der Jahrhunderte stehen und standen.
In Maskénadas Parcours ist sie zur stillen Beobachterin geworden, die auch Jahrhunderte später über die Düdelinger Frauen wacht. Der Sage nach wurde die Schlangenfrau auch nach ihrem Tod gesichtet, man erzählte sich, sie habe in einem Schrein weitergelebt, abseits der Gesellschaft. Alle sieben Jahre hat der Legende nach jemand aus dem Dorf versucht, sie zu retten. Dazu müsste jemand einen Schlüssel aus dem Mund einer Schlange holen. Das hat niemand geschafft. Daher sitzt die Schlangenfrau noch heute in diesem Schrein und beobachtet die Düdelinger Frauen, fühlt mit ihnen, will helfen und kann nicht, braucht Hilfe und bekommt sie nicht.
In den 17 Interviews, die die Künstler von Maskénada mit Frauen und einem Mann geführt haben, erzählen diese über ihre Gefühle, ihre Gedanken, ihre Einstellungen. Darunter sind Kinder und alte Menschen, Migrantinnen und Düdelingerinnen. Der Audioparcours verbindet die alte Sage mit den Erfahrungen von Frauen aus den letzten 90 Jahren. Was bedeutete es, eine Frau zu sein in verschiedenen Jahrhunderten? Welche Schwierigkeiten und Rollen hatten Frauen und wie haben sie sich gefühlt? Wie sind sie nach Düdelingen gekommen und wie stehen sie eigentlich zu ihren Haaren?
Korrigierte Fassung des am 2.9. 2022 im Lëtzebuerger Land erschienen Artikels, in welchem es hieß, die Acoustic Picnics, in deren Rahmen Malleus Maleficarum 2.0 eingeweiht wurde, hätten am CNA stattgefunden.