Mal läuft eine ganze Schafherde durch die Straßen von Düdelingen, mal steht sie gemächlich auf dem Lallenger Bierg – und schützt die Natur. Unterwegs mit dem Minetter Wanderschäfer

Mähen mit „Mäh“

d'Lëtzebuerger Land vom 12.08.2022

Es ist kurz nach acht Uhr am Morgen und Pol Kail läuft mit schnellen Schritten auf dem Hof herum. Er lässt den Subaru in der Garage an, parkt aus, springt wieder aus dem Wagen, spannt einen Anhänger ran, holt zwei Gitter, steigt wieder ein. „Fünf Schafe sind entlaufen. Die muss ich wieder einfangen“, sagt er knapp. Nur hundert Meter weiter erwarten ihn die Schafe in einer Ecke am Zauntor der Weide. Sie sind vom Hof gelaufen, über die Straße. Ein Schäfer hält sie in Schach. Ein zwei Monate alter Border Collie hüpft um die Gummistiefel seines Herrchens im Kreis und in die Höhe. Pol Kail stellt ein Gitter neben den Anhänger, sodass die Schafe nicht daran vorbeilaufen können, und fährt sie dann im Anhänger auf den Hof zurück. Die Ausreißer sind einige der wenigen Schafe, die auf dem Hof leben. Sie haben Verletzungen oder stehen kurz vor der Schlachtung. Jede Woche werden etwa fünfzig von ihnen geschlachtet und an die Provençale verkauft.

Pol Kail leitet gemeinsam mit seinem Bruder Guy den Hof in Bergem. Dort stehen Kühe im Stall und in mit Heu ausgelegten Plastikboxen auf wackeligen Beinen kleine Kälber. Während Guy sich um Kühe und Milch kümmert, ist Pol für die Schafe zuständig. Vor fünf Jahren hat er seine Schafherde erheblich vergrößert und einen Wanderschäfer eingestellt. Seine Herde beweidet die ehemaligen Erzabbaugebiete im Süden. Die „Minetter Schof“ mähen das Gras auf natürliche Weise, mit ihren Mäulern. In Absprache mit der Administration de la Nature et des Forêts (ANF) beweidet Pol Kail die Gebiete nach einem Plan, der festlegt, auf welche Wiesen die Schafe wann dürfen. Die ehemaligen Erzabbaugebiete im Süden, der Lallenger Bierg, der Giele Botter in Niederkorn, die Haard in Düdelingen, sind für Luxemburg einzigartige Biotope. Wo der Boden abgetragen wurde, um an das Gestein zu kommen, und auch dort, wo die Schlacke abgelagert wurde, hat sich in den wenigen Jahrzehnten seit dem Ende des Erzabbaus nur eine dünne Humusschicht gebildet. Der Boden ist sehr nährstoffarm. Auf diesen Trockenrasen wachsen viele Orchideenarten und andere Blumen, die sonst in Luxemburg nicht zu finden sind. Die Blüten ziehen eine Vielfalt an Insekten an und die geschützte Heidelerche nutzt die Wiesen als Brutplatz. Den Biologen der ANF ist es wichtig, diese Lebensräume zu erhalten. Die Flächen müssen nährstoffarm bleiben.

Erst nach der Hauptblütezeit im Frühling bringt Pol Kail die Schafe auf die Wiesen, die Brutplätze der Heidelerchen werden umzäunt, ebenso die paar Orchideenansammlungen, die noch in der Blüte stehen. Damit die Schafe den Boden nicht durch ihren Kot überdüngen, bringt der Wanderschäfer sie am Abend zum Übernachten auf eine kleine umzäunte Wiese. „Die Nachtflächen sind komplett überdüngt“, sagt Pol Kail. Um die Anforderungen der Gebiete zu erfüllen, steht er im regelmäßigen Austausch mit der ANF. „Bei mir zu Hause nimmst du eine Weide, machst einen Zaun rum, fertig. Wenn die Weide abgefressen ist, bringst du die Tiere zur nächsten Weide. Hier dagegen muss immer ein Arbeiter da sein. Es gibt keine Zäune. Das ist mehr Arbeit. Auch wenn wir die Schafe durch Esch treiben müssen oder durch Düdelingen, ist das Arbeit.“ Außerdem hatte Pol Kail nur hundert Schafe, bevor er den vorherigen Wanderschäfer im Minett ablöste. Heute sind es 500. „Im Winter haben wir um die zehn Geburten jeden Tag.“ An die besonderen Bodenbedingungen der ehemaligen Tagebaugebiete musste Pol Kail auch die Rasse der Schafe anpassen. Zuvor hielt er hundert Texelschafe auf dem Hof, sie gaben ein gutes Fleisch. Doch sind sie anspruchsvoll bei der Grasauswahl. „Wir sind auf Ardenner Schafe umgestiegen, das ist eine Rasse, die vom Aussterben bedroht ist. Sie passen sich an die Weideverhältnisse an und können mit viel weniger Gras und Nährstoffen leben.“

Vor fünf Jahren hat Pol Kail diese Umstellung gemacht. Obwohl sie mehr Arbeit mit sich brachte, mehr Absprachen und Regeln, sieht er die Entwicklung positiv. „Es passt gut in unser Konzept. Wir stehen ein bisschen am Pranger, weil wir einen intensiven Milchviehbetrieb haben. Das hier dagegen ist absolut extensiv, gut für die Natur. Daher sehe ich das als Ausgleich für den Betrieb.“ In diesem Jahr hat der Betrieb einige Schwierigkeiten, den Routenplan einzuhalten. Mehr als die paar entlaufenen Schafe, die schnell wieder eingefangen waren, macht Pol Kail die Trockenheit zu schaffen. Das Gras ist trocken, die Wiesen sind karg. „Wir sind schneller als unser Plan.“ Denn die Schafe fressen das wenige Gras schnell weg. „Das ist ein Problem, wir können da nicht viel machen. Wir nehmen die Lämmer jetzt weg, die Herde ist zu groß für die Trockenheit.“

Sein Schäfer sieht das nüchterner. „Besser trockenes Gras als kein Gras“, sagt André Sobula, zuckt die Schultern und lässt seinen Blick wieder über die Schafrücken schweifen. „Im Winter kriegen sie nur Heu, das ist auch trockenes Gras.“ André Sobula betreut für Pol Kail die Schafe. Er trägt ein schwarzes T-Shirt, Arbeitsschuhe, schwarze Arbeitshose, ein ausgewaschenes Cappie. Um seinen Kopf schwirren Fliegen. Es ist kurz nach acht Uhr am Morgen und er treibt die Schafherde vom Nachtlager über den Lallenger Bierg. Etwa 2 000 Füßchen rascheln im trockenen Gras, hier und da ist ein Mäh zu hören, ein Pfiff des Schäfers. Nur das Moos schimmert noch gelb-grün, doch seine Fäden sind auch trocken. Dazwischen liegen trockene Blätter, trockene Blumenkelche, trockene Äste, vereinzelt blaue Blüten. Einige wenige Zitronenfalter flattern noch aus den Wiesen auf. Ganz leicht wiegt der Wind die Birken. Ab und an ist das ferne Dröhnen eines Flugzeugs zu hören, Kirchenglocken. André treibt seine Hunde weiter und die wiederum die Schafe. Als sie endlich auf die Weiden dürfen, fressen sie alles ab, was ihnen auf dem Weg liegt. Auch einige Ziegen laufen in der Herde mit; sie stellen sich auf die Hinterbeine, um an die Blätter von Büschen und Bäumen heranzukommen, recken ihren ganzen Körper zu den Zweigen nach oben. Um ihren Naturschutzauftrag zu erfüllen, muss die Schafherde einige Ziegen aufnehmen. Sie sorgen für einen gleichmäßigen Kahlschlag der Rasenflächen, damit die Büsche nicht immer buschiger werden, während das Gras zurückgeht.

Gemächlich treibt André Sobula die Herde von einer Wiese zur anderen. 2 014 Füße von Schafen, Hunden und Schäfer überqueren einen asphaltierten Forstweg, laufen mit einem vielstimmigen Klonk, Klonk über die Baumstämme hinweg, die als Begrenzung dienen. Ein lang gezogenes, tiefes „Kooooomm“ ruft er über den Lallenger Bierg. „Kooooomm.“ Ab und zu schickt er seine drei Hunde aus, um die Schafe heranzutreiben, die etwas abseits geraten sind. Für ihn ist der Lallenger Bierg ein gutes Gebiet: eine weite Fläche, wenig Büsche und Hecken, in denen sich die Schafe verstecken, verfangen und verletzen könnten. „Hier muss man nur rumstehen und ein bisschen gucken.“ Das macht er den ganzen Tag, jeden Arbeitstag. Auf Andrés Pfiff läuft der Hund nach hinten, treibt ein einzelnes Schaf wieder heran, rennt zu André zurück und erwartet hechelnd ein Lob. Das bekommt er auch. Der Hund ist 13 Monate alt und erst seit drei Wochen bei der Herde. Andrés Sohn hat den Welpen in Polen aufgezogen, auf seinem Hof am Fuß des Tatra-Gebirges an der slowakischen Grenze. „Er lernt ganz gut“, sagt André, „ganz schnell.“ André Sobula hat eine ruhige und melodische Stimme, seine Bewegungen sind ruhig und gleichmäßig. Sein ganzes Leben lang hatte André Sobula Schafe um sich, in Polen hat er sie nebenbei gehütet, als Hobby, denn leben konnte er davon nicht. Seit 20 Jahren ist er Schäfer in Luxemburg.

Ab und zu noch ist der Hund etwas übermütig, fällt die Schafe an, anstatt nur neben ihnen laufend den Weg zu weisen. André muss sein Gemüt noch etwas beruhigen. „Das ist wie bei den Menschen, wenn man zu aktiv ist, wird man schnell müde.“ Er hebt die Pfote des Hundes an und zeigt eine kleine Verletzung an der Unterseite. Besonders wenn er die Schafe von einem Gebiet zum anderen treibt, über den Asphalt der Städte, verletzen sie sich leicht. So können sie nicht die ganze Saison durchhalten. „Wenn man ruhig arbeitet, dann hält man länger durch.“ Schon um 9.30 Uhr wird es heiß, die Schafe stecken dort die Köpfe zusammen, wo sie etwas Gras finden. Bis zum Mittag müssen sie die Hitze aushalten. Dann bringt André Sobula die Schafe auf die Nachtfläche, wo sie sich zwei Stunden lang vom Fressen erholen und Wasser trinken. Danach geht es zurück auf die Trockenrasen. Vier Wochen lang ist die Herde hier am Lallenger Bierg, dann zieht sie in das nächste Gebiet. Bis Oktober oder November, sagt André Sobula, bleibe sie in den Tagebaugebieten. Im Winter versorgt er die Schafe auf dem Hof. Andrés Familie lebt noch in Polen, er ist allein in Luxemburg, ohne die Arbeit würde er sich allein fühlen, sagt er. Die Schafe sind seine Gesellschaft, auch im Winter.

Franziska Peschel
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