Etwas unspektakulär verortet ist sie dann doch, die Virtual-Reality-Ecke der Ausstellung „Rencontres Internationales Paris/Berlin“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW). Vor der Garderobe, auf einer Zwischenetage zwischen Eingangshalle und Auditorium, in dem Filme gezeigt werden, stehen Mitarbeiter/innen des Ausstellungsortes neben Laptops, dicken Virtual-Reality-Brillen, Kabeln, Controllern und Kopfhörern. Hier, so unspektakulär es von außen auch wirken mag, spielt die Musik.
Das HKW, ein imposanter Ausstellungsort im Tiergarten zwischen Hauptbahnhof und Regierungsviertel, wird aufgrund seiner Architektur auch „die schwangere Auster“ genannt. Es ist ein Forum für aktuelle internationale Entwicklungen und politische Diskurse, Tagungsort für Konferenzen, Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst und Bühne für Musik und Performances.
Der perfekte Ort in der deutschen Hauptstadt also, um die Ausstellung „Rencontres Internationales Paris/Berlin“ zu beherbergen, die sich auf neue filmische Praktiken und Formate fokussiert. Nachdem sie Ende November in Paris zu sehen war, zog sie vom 9. bis zum 14. April nach Berlin. In den sechs Tagen wurde in Filmen, Künstlergesprächen, VR-Experiences und Videoloops untersucht, wie unterschiedlich die Bildwelten, die uns täglich umgeben – seien sie realistisch, mit Filtern bearbeitet oder durchweg digital – auf uns wirken oder inszeniert werden können.
Die Ausstellung präsentierte 152 Werke aus 52 Ländern – und mittendrin die VR-Installation Metamorphosis der luxemburgischen Künstler Pascal Piron und Karolina Markiewicz, die bereits mehrere Videoprojekte zusammen realisiert haben. In Metamorphosis schwebt eine Art Atomkern im Nichts: rot, gelb, pulsierend. Es strömen Lichteffekte wie Energie durch den Ball in tiefer Dunkelheit. Rings herum regnet es Funken, Schnee oder Sterne. Radiosnippets wehen wie Gesprächsfetzen oder Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit herbei. Es geht um Wirtschaft, ihre Krisen und deren Auswirkungen auf die Menschheit und Menschlichkeit, die Bankenkrise, die Corona-Pandemie, Sicherheit und Veränderungen … daneben gibt es dramatische Chor-Elemente, bedrohliches elektronisches Wummern oder auch tiefe Stille.
„We are very forgetful to our own condition.“
Die Atmosphäre der VR-Experience von Karolina Markiewicz und Pascal Piron ist bedrohlich und lässt die Vergänglichkeit alles Gesehenen spürbar werden. Die Eintauchenden sitzen dabei ruhig auf einem Stuhl und können sich dank VR-Brille um 360° umsehen, doch nicht mit dem Kunstwerk oder den Geschehnissen interagieren. Wir sind Zusehende eines poetischen Videoessays über Vergänglichkeit und die Kraft der Veränderungen, in dem wir uns mithilfe von VR für eine kurze Zeit auflösen und unsere Körperlichkeit vergessen.
Auf einmal formt sich eine virtuelle Welt unter unseren Füßen. Sie setzt sich aus den herumfliegenden Partikeln zusammen, wird mal Schlafzimmer, Baustelle, Scheune, mal Ruine oder Sumpfgebiet mit toten Baumstümpfen. Inaktive Kulissen mit leblosen Objekten; „shapeshifting“. Die Plattform wirkt wie eine Insel, eine dünne Membran aus grellen Farben und zahllosen Punkten im Stil des Pointillismus, auf der wir zeitweise zu stehen kommen, doch an ihrem Rand lauert stets die tiefe Dunkelheit, ihr (nahendes) Ende. Sanft erzählt die Stimme aus dem Off auf Englisch von Veränderungen, der Figur Gregor Samsa von Franz Kafka oder der römischen Mythologie, von Politik, Wirtschaft, Krisen und dem Selbstverständnis von Menschen, das immer wieder auf die Probe gestellt wird und sich verändert. Es ist ein poetischer, vager Text, und wenn er abebbt, zerreißt es die temporäre Landschaft. Die Kulisse beginnt zu wogen, zu vibrieren, zu strahlen, erbebt, einzelne Partikel lösen sich und fliegen davon. Die Formen schmelzen, verdrehen sich in Spiralen, die an Van Gogh erinnern, oder explodieren als Feuerregen. Dynamisch, energetisch, belebt, doch ohne feste Gestalt, verwandelt sich diese virtuelle Welt ständig. Doch der pulsierende Atomkern, die Energie, bleibt.
„Now, we are older. Apocalyptic times will come, speed and politics. Hopefully, we will still see the landscapes, the clouds.“
Es geht um radikale Brüche, aber auch die Dynamik der immerwährenden Veränderung. Um die Möglichkeit, ganze Welten zu erschaffen, so kurzweilig, so vergänglich sie auch sein mögen. Aus jedem Zusammenbruch entsteht etwas Neues, nichts vergeht, alles verändert sich. Die Grenzen sind fließend. Am liebsten würde man sich die Experience ein zweites Mal ansehen, um die technischen Startschwierigkeiten zu vergessen und noch einmal tiefer in den Text auf dem Off einzutauchen. Doch die Warteliste ist lang und die Ausstellung in Berlin bald vorbei … das, immerhin, hat ein tatsächliches Ende.