Stanislaw Tillich hat seinen Rücktritt angekündigt. Er zieht damit die Konsequenz aus dem schlechten Abschneiden seiner Partei bei der Bundestagswahl Ende September. Die Christdemokraten verloren in Sachsen 16 Prozentpunkte in der Wählergunst, fielen hinter die rechtsgerichtete AfD zurück und sind damit nur noch zweitstärkste politische Kraft in diesem Bundesland. Im Dezember möchte Tillich sein Amt des sächsischen Ministerpräsidenten an seinen Nachfolger Michael Kretschmer übergeben. Kretschmer hat Zeit, denn er hat sein Direktmandat im Bundestag verloren – an einen Vertreter der AfD.
Kretschmer, der bisherige Generalsekretär der sächsischen CDU, soll für Kontinuität in Politik und Partei sorgen. Für das „Weiter so!“ in der sächsischen Landespolitik. Die hat einige Erfolge aufzuweisen, etwa in der Wirtschafts- oder Bildungspolitik. Hier gelingt, was in den anderen ostdeutschen Bundesländern aussichtslos erscheint. Doch im Umgang mit dem Extremismus hat sich Tillich in seinen knapp zehn Jahren als Ministerpräsident schwergetan. Das Erstarken von Pegida und NPD wurde immer klein geredet. Beinahe reflexhaft nun auch die Erklärungsversuche für den Rücktritt von Stanislaw Tillich. Die Schuld sei in Berlin zu suchen. Und um noch genauer zu sein: bei Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Der Hauptteil“, so Frank Kupfer, Vorsitzender der CDU-Fraktion im sächsischen Landtag, zu den Ursachen des Wahldebakels seiner Partei, „da bin ich fest von überzeugt – liegt an der Politik der Bundesregierung und insbesondere an der Flüchtlingspolitik.“ Das sei im Wahlkampf immer wieder gesagt worden, so Kupfer.
Die Kurzsichtigkeit des Landespolitikers überrascht. Bis Ende Juli dieses Jahres wurden in Sachsen, so die offizielle Statistik des Landes, „4471 schutzsuchende Personen“ aufgenommen. Im gesamten Jahr 2016 waren es 14 860 Asylbegehrende. Zum Vergleich: Zur gleichen Zeit nahm Nordrhein-Westfalen, mit etwa der dreifachen Bevölkerungszahl von Sachsen, über 200 000 Flüchtlinge auf. Nach dem Königssteiner Schlüssel, der fast alle Rang- und Verteilerfragen zwischen den Bundesländern regelt, soll NRW in der Theorie 21,2 Prozent der Geflüchteten aufnehmen, Sachsen immerhin knapp 5,1 Prozent. Die tatsächlichen Zahlen zeigen jedoch das gerne kolportierte Bild, dass es im Osten Deutschlands deutlich weniger Geflüchtete gibt. Die Konsequenzen der Flüchtlingskrise sind hier weitaus weniger deutlich spürbar oder sichtbar, denn beispielsweise in Baden-Württemberg oder Berlin. Folgt man nun der Ursachsenforschung Kupfers, so haben die sächsischen Wähler bei der Bundestagswahl das vermeintliche Versagen der Bundespolitik in Nordrhein-Westfalen abgestraft.
Es ist zutreffend, dass Merkel mit ihrer Politik der Mitte am konservativen, rechten Rand des politischen Spektrums eine Lücke aufriss. Über Jahre hinweg war es in Politik und Gesellschaft Tabu, diese Lücke zu besetzen. Versuche von Republikanern, NPD oder DVU blieben auf kurzfristige Erfolge bei einzelnen Landtagswahlen beschränkt – in den Sechzigerjahren im Westen Deutschlands, in den Neunzigern im Osten. Doch im Osten konnten rechtsradikale und rechtsextremistische Gruppierungen Fuß fassen. Begleitet vom massiven Rückzug des Staates etablierte beispielsweise die NPD in den ländlichen Regionen Strukturen, die den Bedürfnissen der Bevölkerung nach Versorgung entsprachen. Diese reichten von Nachhilfeangeboten für Schüler bis hin zu Interessenvertretungen im politischen Willensbildungsprozess. Das Tabu, das als ein Grundkonsens der westdeutschen Gesellschaft funktionierte, wurde gebrochen und im Bruch mit demokratischen Konventionen erfolgreich. Die politische Formierung der Pegida-Bewegung als AfD wurde als kurzzeitiges Phänomen einer Protestpartei abgetan. Die seit jeher christdemokratische Landesregierung in Sachsen nahm dieses Problem nicht wahr, solange ihre Machtansprüche unangetastet blieben. Jetzt sieht sie sich einer Milieupartei gegenüber und reagiert mit gewohntem Aktionismus.
Der Rücktritt Tillichs in Dresden, die Nicht-Wahl Albrecht Glasers zum Vizepräsidenten des Bundestages zeigen, dass die deutsche Politik noch immer keine Antwort darauf gefunden hat, wie mit Rechtsradikalismus umzugehen ist. In Sachsen versucht man, nun den bayerischen Weg von CSU-Chef Horst Seehofer einzuschlagen und den Rechtsextremen die Themen wegzunehmen. Man bestätigt damit die Politik der Angst, die von der AfD betrieben wird. Deren Lebensgefühl wird als eine diffuse Angst vor Überfremdung und Islamisierung beschrieben, rassistische Äußerungen als Meinungsfreiheit verkauft werden und mit Quellen gearbeitet wird, die nie greifbar und damit nicht widerlegbar sind. Zu einer neuen Ehrlichkeit kann sich die Politik nicht durchringen: Es gibt Erfolge in Sachsen, Deutschland braucht Zuwanderung, um seinen Lebensstandard halten zu können, und der Reichtum des Landes beruht auch auf schlechten Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen in anderen Regionen der Welt.