Ein Riss geht durch Europa. Die Flüchtlingskrise 2015 brachte eine Bruchstelle in der Europäischen Union zu Tage, ob nun tatsächlich oder nur in der gefühlten Annahme des Moments. Ein Bruch zwischen Staaten und durch Gesellschaften. Ein scheinbarer, ein tatsächlicher Riss zwischen dem liberalen Westen des europäischen Staatenbündnisses und dem konservativen Osten, versuchten viele Menschen als Erklärung und verweisen dabei auf die Sollbruchstelle der Europäischen Union: der ehemaligen Grenze zwischen Ost und West in Zeiten des Kalten Kriegs.
Doch dies ist zu kurz gegriffen. Denn Erfolge ultranationalistischer, rechtsradikaler bis rechtsextremistischer Parteien und Gruppierungen gibt es auch in Frankreich oder in den Niederlanden, in Großbritannien oder in Italien, am kommenden Sonntag wohl auch in Deutschland. In Polen, Ungarn und in Finnland stellen sie die Regierung.
Es mag ein Erklärungsversuch – keine Entschuldigung – für diese „osteuropäische“ Gefühlslage sein, dass die Staaten in Mittel- und Osteuropa nach Jahren unter sowjetischer Vorherrschaft in die nächste multinationale Organisation wechselten, was viele mit supranationaler Bevormundung verwechseln. Für diese Länder jenseits des Eisernen Vorhangs gab es keine Zeit der Nationalstaatlichkeit, in der sie Eigenstaatlichkeit entwickeln. Es gelang ihnen nicht in ihrer Geschichte ein Verständnis von Nation und nationaler Identität zu entwickeln, Eigenständigkeit und Souveränität zu erleben. Mit allen Vor- und Nachteilen. Man suchte die eigene Zukunft und die Basis der eigenen Nation in den Heilsversprechen der Europäischen Union und war sich dessen nicht bewusst, dass Europa auch Pflichten und Kompromisse mit sich bringt. Doch Populisten in Ost wie West mögen sich an dem Begriff der Nation kaum aufhalten, das Wort „Volk“ ist ihm immanent. Und lässt sich leicht instrumentalisieren.
Jedem Populismus wohnt eine überholte, mystisch überhöhte und romantisch verklärte Definition des Volkes inne: „Das Volk ist homogen und handelt moralisch, arbeitet hart, verhält sich stets ehrlich, rational und anständig, und wird deshalb immer die richtigen Entscheidungen
treffen“, erklärt der Autor Johannes Hillje in seinem Buch Propaganda 4.0 – Wie rechte Populisten Politik machen als die populistische Vorstellung eines Volkes. Und: Nur das eine einzige, auserwählte Volk ist gut. Alle anderen sind schlecht. Die Gemütslage des Volkes im Populismus sei keine fröhliche, so der Autor weiter. Das Volk des Populismus ist ein „Fake-Volk“, wie der Politwissenschaftler Jan-Werner Müller schreibt. Ein Fake deshalb, weil es auf der falschen Annahme des Volks als einer homogenen, rationalen Gemeinschaft beruhe, dass durch einen, einzigen Willen geeint sei.
Hillje weiter: „Das Volk ist wütend, denn es muss sich mit einem Problem herumschlagen, ohne das die populistische Ideologie nicht lebensfähig wäre: Das moralische Volk wird von einer unmoralischen Elite unterdrückt.“ Zu dieser beherrschenden Elite gehören etwa Mitarbeiter von Medien, Lobbyisten, Konzernbosse, Bürokraten, Vertreter von Gewerkschaften und Religionsgemeinschaften und Politiker – außer jenen, die den Populismus predigen. Das einende Element für die von Populisten verhassten Eliten ist, dass sie angeblich das Volk abschaffen wollen, indem sie das gemeine Volk beispielsweise durch Steuern „betrügen“, die Meinungsfreiheit beschneiden oder andere Rechte abschafften. Oder sie „unterwandern“ das Volk durch Migranten. Die Prediger des Populismus bestimmen dabei selbst, wer zum von ihnen auserwählten Volk gehört – und vor allen Dingen: wer nicht. Besorgte Bürgerinnen und Bürger gehören per se dazu. Nicht dazu gehören alle Andersdenkenden, auch wenn sie eigentlich die populistische Voraussetzung für das „Volk“ erfüllen, nur andere Lösungsstrategien angehen. Wer aber genau das Volk ist, darüber schweigt der Populist sich aus.
Ganz sicher aber sind sich Populisten, dass auch die EU-Vertreter ein Teil eben jener Elite sind, die durch Vorschriften, Einmischungen, Gebote und Verbote sich der ökonomischen Entwicklung des jeweiligen, nationalen Volks vehement entgegenstellen. Eine Erklärung, die vor allen Dingen von den Regierungen Polen und Ungarn kolportiert wird: Dem rechtschaffenden Volk in Polen oder Ungarn stehen ausbeutende Technokraten im fernen Brüssel gegenüber. Dieses Credo des Populismus ist eine dünne, einfache Ideologie, die schnell verfängt und das Grundmuster des „Schuld sind immer Andere“ bedient. Sie schafft eine Konkurrenzsituation zwischen unten und oben, Volk und Elite, Europäern und Europäern, zwischen Staaten und Staaten. Der Populismus stellt sich damit gegen eine der wichtigsten Gründungsideen der Europäischen Union: Frieden zwischen den Völkern und Nationen.