Der vergangene Sonntag sollte ein deutliches Ergebnis und Ruhe bringen. Doch es kam anders. Zwar bleiben die Christdemokraten von Bundeskanzlerin Angela Merkel die stärkste Partei im neuen Bundestag, doch musste auch sie – so sicher ihre Wiederwahl war – herbe Verluste einstecken. Mit der Alternative für Deutschland (AfD) zog erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik eine rechtsradikale Partei ins Parlament ein. Vom plötzlichen Hype um den Kanzlerkandidaten Martin Schulz blieb der SPD kaum etwas übrig, Linke und Grüne konnten sich behaupten, die FDP schaffte mit einem Ein-Parolen-Wahlkampf die Rückkehr.
In diesem werden künftig 709 Parlamentarierinnen und Parlamentarier sitzen und so das zweitgrößte Parlament der Welt bilden. Doch wer darauf hoffte, dass es schnell zu politisch-klaren Verhältnissen mit einer zügigen Regierungsbildung zwischen den üblichen Parteien kommt, sieht sich getäuscht. Die Parteien verlängern die Hängepartie, denn in zwei Wochen ist Landtagswahl in Niedersachsen. Bis dahin braucht es das Behaaren auf Positionen und Posten, ganz gleich wie sehr es in Land, Politik und Gesellschaft rumort.
Nachdem sich die SPD schnell die Oppositionsrolle verordnete, bleibt als einziges Koalitionsfarbenspiel Schwarz-gelb-grün-hellblau, kurz: Jamaika, ein Bündnis von CDU/CSU, FDP und Grünen. Politisch ist dies schwierig, wie es sich bereits am ersten Tag nach der Wahl zeigte, als vor allen Dingen die bayerische CSU ihre Pflöcke festklopfte. In den Landesparlamenten von Saarbrücken und Kiel gab und gibt es Vorbilder für Jamaika-Koalitionen: Während es an der Saar scheiterte, ist sie an der Kieler Förde geräuschlos ins Amt gestartet. Auch für den Bund stehen die Zeichen günstig; Merkel scheint mit jeder Partei eine Koalition schmieden zu können. Gleich vier Parteien auf Spur zu bringen, ist jedoch auch für sie eine Herkulesaufgabe, bei der sie leicht zwischen den Testosteronboliden und Ego-Shootern Horst Seehofer (CSU) und Christian Lindner (FDP) zerrieben werden könnte. Auch an der Basis gibt es Widerstände: Die Grüne Canan Bayram, die im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg das einzige Direktmandat für die Partei holte, stellt sich gegen die Jamaika-Koalition.
Prüfsteine für die Regierungsbildung nach Jamaika könnten die Obergrenze und die Begrenzung des Familiennachzugs für Migranten sein, die die CSU unbedingt im Koalitionsvertrag festschreiben will, während die drei anderen Parteien dagegen sind. Die Unterschiede in der Steuerpolitik: Während die FDP eine Entlastung um rund 30 Milliarden Euro verspricht und den Solidaritätszuschlag alsbald abschaffen möchte, mag die Union lediglich 15 Milliarden Euro Steuererleichterungen versprechen. In der Umweltpolitik wollen die Grünen raus aus der Kohle und das Ende des Verbrennungsmotors bis zum Jahr 2030. Die Liberalen geben sich ökoskeptisch. Schließlich die Europapolitik: Hier stemmt sich Lindner gegen ein eigenes Eurozonen-Budget, einen neuen Finanzausgleich und die Erweiterung der Euro-Zone. Diametral dagegen die Position der Grünen, selbst Angela Merkel zeigt sich europafreundlicher. Es wird ein Herbst der politischen Weichenstellungen, die das Land unbedingt braucht, das sich aber eine Verzögerung im politischen Findungsprozess kaum leisten kann. Vielleicht läuft es am Ende doch auf eine Neuauflage der schwarz-roten Koalition hinaus und Martin Schulz hat mit seiner Festschreibung auf die Opposition lediglich den Brautpreis der SPD erhöht.
Wenig verständlich war am vergangenen Sonntag jedoch, dass sich fast alle Politiker über das Abschneiden der AfD überrascht zeigte. Es war ein wohl inszenierter, kalkulierter Wahlkampf, den die Rechtsaußenpartei bot. Sie hatte auch – ob der Themenlosigkeit der etablierten Parteien – ein großes Spielfeld, auf dem sich Tabubrüche und konstruierte Skandale medienwirksam platzieren ließen. Die Politiker der übrigen Parteien setzten keine Themen und Debatten dagegen, sondern ließen sich von der AfD quer durch die politische Arena treiben. Bestärkt durch die Medien, die den Rechtspopulisten hohe Aufmerksamkeit schenkten und viel dazu beitrugen, dass die Partei ihr Image als Protestpartei inszenieren konnte. Denn Protestparteien, die viel Aufmerksamkeit bekommen, haftet der Nimbus an, etwas ändern zu können. Was genau dabei sie zu ändern versprechen, ist absolut nebensächlich.
Doch ist die Alternative für Deutschland wirklich eine Protestpartei? Analysiert man ihr Wahlergebnis in den einzelnen Bundesländern und Wahlkreisen zeigt sich sehr deutlich, dass die Partei vor allen Dingen im Osten Deutschlands erfolgreich ist – in Sachsen dabei zur stärksten politischen Kraft wurde. Sicherlich wurde die AfD gewählt, um mit Berlin abzurechnen, aber auch um mit Berlin zu brechen. Während die Bundesregierung von Globalisierung und Digitalisierung spricht, die wirtschaftliche Stärke des Landes beschwört und mit Vollbeschäftigung prahlt, prallt dies auf eine ostdeutsche Realität, die anderen Determinanten folgt. Abgesehen von einzelnen Boom-Regionen hinkt der Osten noch immer der wirtschaftlichen Entwicklung des Westens hinterher und ist eine wachstums- und unternehmensarme Region. In einem solchen Lebensalltag verfing etwa der Slogan der SPD: „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ überhaupt nicht. Darüber hinaus gibt es eine Veränderung in der politischen Landschaft: Bediente bislang die Linke den ostdeutschen Minderwertigkeitskomplex, übernimmt dies nun die AfD, denn die Linke ist längst im politischen Establishment angekommen.
Die Biografien der meisten Menschen in dieser Region wurden in der DDR geprägt, in einem Staat, der sich um alles kümmert und alles wusste. Zur Wiedervereinigung knüpfte die damalige Bundesregierung an genau diesen biografischen Werdegang an und versprach, dass der Staat für blühende Landschaften sorgen werde. Diese Erfahrungen werden als Teil der ostdeutschen Identität tradiert. Diese Wahrnehmung des Staates als Allversorger trifft nun auf einen Staat, der neoliberalen Marktgesetzen folgt und so Schulen schließt, Nahverkehrsverbindungen streicht, Gesundheit in ländlichen Regionen nach Profit organisiert und die Abwanderung der aufgeschlossenen, gebildeten Jugend zulässt. Genau dieser Staat gibt vor, sich um hunderttausende Flüchtlinge und Migranten kümmern zu können.
Das Gefühl der Vernachlässigung äußert sich dann – aufgrund einer kaum vorhandenen Verortung in der politischen Geschichte der Bonner und dann Berliner Republik – in extremistischen Positionen. Es sind im Osten Deutschlands geschlossene, oft männlich-dominierte Milieus entstanden, in denen nationalistische, xenophobe und rassistische Argumente kaum noch auf Widerstand stoßen. Eine Entwicklung, die die etablierten Parteien in den östlichen Bundesländern, von den Landesregierungen zwischen Schwerin und Dresden jedweder politischer Couleur ignoriert wurde. Genau in diesen Milieus haben sich die NPD in früheren Jahren und nun die AfD breitgemacht. Doch die AfD ist nicht nur Protestpartei, sondern längst eine Milieupartei, die immer schriller und rechtsextremer werden wird, um nicht von der politischen Bühne zu verschwinden.