Die deutsche Sozialdemokratie hat eine neue Heilsfigur: Stephan Weil, geschäftsführender Ministerpräsident in Niedersachsen. Am vergangenen Sonntag erweckte er für einen kurzen Moment die SPD – und ließ sich dann im weiteren Verlauf des Wahlabends die Flügel stutzen. Er gewann die Wahl. Doch für eine Fortsetzung der rotgrünen Koalition in Hannover reichte es am Ende nicht und es ist heute unklar, ob überhaupt ein Regierungsbündnis unter SPD-Führung zustande kommt. Die Liberalen erteilten einer rot-gelb-grünen Koalition noch am Wahlabend eine Absage. Ein Zusammengehen der Grünen mit den Christdemokraten auf der Regierungsbank scheint unmöglich, ob des Skandals um den Wechsel der früheren Grünen-Politikerin Elke Twesten zu den Christdemokraten, was Niedersachsen vorgezogene Wahlen einbrachte.
Das Einreden der Liberalen und Christdemokraten auf die Grünen macht deutlich: Die kommenden Koalitionsverhandlungen in Niedersachsen sollen die Blaupause für die Verhandlungen zur Regierungsbildung im Bund geben. Was in Hannover im Kleinen ausgehandelt wird, soll in Berlin im Großen übernommen werden. Die FDP wagt dabei ein gefährliches Spiel, in dem sie sich bedingungslos und willfährig der CDU an den Hals wirft und den Grünen eine bedingungslose Jamaika-Koalition abfordert. Denn kaum zeigt sie in der Bundespolitik wieder Präsenz, dient sie sich der konservativen Macht an. Zu jedem Preis. Mit jedwedem Personal. Ohne klares Programm.
Mut zu einer Ampelkoalition unter Führung der SPD bringt sie indes nicht auf. Obwohl genau das eine der Lehren aus der letzten schwarz-gelben Koalition am Berliner Kabinettstisch unter Kanzlerin Angela Merkel in den Jahren 2009 bis 2013 ist. Dabei gibt es eine Alternative, und eine weitere rot-gelb-grüne Regierung – wie es sie in Rheinland-Pfalz bereits gibt – wäre ein deutliches Zeichen an die Christdemokraten, dass Regierungsmachterhalt kein Selbstläufer ist. FDP-Chef Christian Lindner begründete die Absage an die Ampel damit, dass es in dem Bundesland keine „sozialliberale Tradition“ gebe. Zudem wäre die FDP in einer rot-gelb-grünen Koalition in Hannover der kleinere Partner. In dieser Position könne man nicht glaubwürdig einen Politikwechsel erreichen.
In Berlin begannen am Mittwoch die Sondierungsgespräche zur schwarz-gelb-grünen Koalition. Am Wochenende wollen Kanzlerin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer ein erstes Fazit ziehen und verkünden, wie die Regierungsbildung fortschreiten soll. Eine Alternative zum Jamaika-Bündnis scheint es derzeit nicht zu geben. Auf der anderen Seite ist die strikte Selbstbeschränkung der SPD auf die Opposition an die Personalie Martin Schulz geknüpft. Sollte Schulz dieses Amt abgeben wollen oder müssen, wird auch die Oppositionsrolle zur Disposition gestellt.
Dies ist kein abwegiges Gedankenspiel, denn die Sozialdemokraten sehnen sich inniglich nach dem nächsten Heilsbringer. Was Martin Schulz in Berlin nicht liefern konnte, wird nun auf Stephan Weil aus Hannover übertragen. Dies hat sehr viel mit dem inneren Zustand der SPD zu tun, die kein charismatisches, visionäres Personal mehr hat und es über Jahre zu verhindern wusste, dass junge Menschen in der Partei Karriere machen konnten. Deshalb wird Weil zum nächsten Superhelden, doch wer dem Niedersachsen zuhört, spürt keinen überbordenden politischen Enthusiasmus. Auf Bundesebene bringt er die Partei in eine Zwickmühle: ein weiterer Niedersachse, der eine wichtigere Rolle in der SPD einfordern könnte und nicht gerade für den geforderten personellen Neuanfang steht. Da sind eben die noch anderen Niedersachsen Frank-Walter Steinmeier, Bundespräsident, Hubertus Heil, wiederbelebter Generalsekretär, Sigmar Gabriel, amtierender Außenminister, und schließlich Thomas Oppermann, ehemaliger Fraktionschef im Bundestag und Strippenzieher. Autor Lutz Hachmeister beschrieb in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung die Niedersachsen-Connection in der SPD als „einen trinkfesten Männerbund – und eine pragmatische SPD-Mitte mit einem beinharten Zentrismus, in dem dezidierte Linke keine Chance haben.“ Zum Schaden von Martin Schulz hätten die Hannoveraner noch bis in die zweite Reihe hineinregiert und bestimmt.
Bei der Wahl in Niedersachsen war ein Thema besonders wichtig: Volkswagen. Der Autobauer, an dem das Land mit 20 Prozent beteiligt ist und in dessen Aufsichtsrat der Ministerpräsident einen Sitz hat, beeinflusste den Wahlausgang zu Gunsten der SPD. In der Region Wolfsburg konnte die SPD der CDU vier Direktmandate abjagen. Gründe dafür waren einerseits die Forderungen von Michael Fuchs, bis vor kurzem CDU-Fraktionsvize im Bundestag, dass das Land seine Beteiligung an VW aufgibt. Andererseits kritisierte CDU-Spitzenkandidat Bernd Althusmann das Verhalten von Ministerpräsident Weil in der VW-Affäre, was viele Wähler als Kritik an Volkswagen auffassten, so der Norddeutsche Rundfunk in seiner Wahlanalyse. Weil hatte seinerzeit eine Regierungserklärung im Landtag zuvor mit dem Autokonzern abgestimmt.