Wie dem Petersdom im Busch von Yamoussoukro haftet dem Trifolion in Echternach der Ruf eines Weißen Elefanten im Sauerstädtchen an. Um die hohen Kosten zu decken, lockt das fünfstöckige Kultur- und Kongresszentrum mit einem bunten Unterhaltungsprogramm, zu dem aus dem deutschen Fernsehen bekannte Prominente gehören, die über den Niedergang des christlichen Abendlands klagen kommen.
Diesen Part übernahm am Freitag ein eitler, älterer Herr namens Udo van Kampen. Der ehemalige Fernsehjournalist erklärt zur Aufbesserung seiner Rente der deutschen Provinz die Welt oder wenigstens „Europa“. Es ist das auch hierzulande von Politikern und Presse verbreitete Dokudrama von klugen Experten, kleinlichen Politikern, komplizierten Institutionen und unbedarften Wählern.
Als Beitrag zu den Europawahlen am Sonntag war van Kampen als Moderator verpflichtet worden und durfte noch einmal „Juncker on tour“ aufleben lassen, die publikumswirksame Wahlkampftournee der CSV. Nur hieß sie diesmal „1 672. Bürgerdialog der Kommission“, den das Trifolion für die Europäische Kommission hergerichtet hatte.
Rund 900 Zuschauer, viele aus dem deutschen Grenzgebiet, waren gekommen, um sich im Konzertsaal oder per Videoübertragung in einem Nebensaal zu vergewissern, wie dieses Europa aussieht, das angeblich am Sonntag zur Wahl steht. Seit Homer gilt Europa als phönizische Prinzessin, die auf einem heißblütigen Stier, alias Zeus, von Sidon im Libanon bis nach Matala auf Kreta über Land und Meer rast. Das Europa, das am Freitag in Echternach vorgeführt wurde, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit seinem schwerfälligen Gang und seinem faltigen Gesicht hinter einer großen Brille, glich eher einer gutmütigen Schildkröte.
„Ich bin ja ein Dinosaurier“, meinte er im Laufe des Abends und kramte in der Vergangenheit: „Wenn man mir eine Hose in Trier gekauft hat, musste ich die sofort anziehen“, erinnert er sich an seine Kindheit, als er den Zöllner dann belügen musste, die Hose stamme aus einem Escher Geschäft. Auch auf den Wahlversammlungen muss derzeit das Europa von gestern herhalten, um für das Europa von heute zu werben. Anfang der Fünfzigerjahre sei es von denen gegründet worden, die an Leib und Seele erlebt hätten, was die Abwesenheit eines vereinigten Europas bedeute, erinnerte sich Jean-Claude Juncker. Um dann die Dialektik der Aufklärung von sich zu weisen: „Was die Nazis von ’33 bis ’45 gemacht haben, das war ein Verrat an europäischen Grundwerten.“
Auch vom gnadenosen Machtkampf zwischen der Europäischen Union und Großbritannien lieferte er eine Version in leichter Sprache. Publikum: „Herr Juncker, wie gehen Sie mit England um?“ – Kommissionspräsident: „Wenn ich das wüsste...“ Denn die Europäische Union steckt in „einer existenziellen Krise“, wie Juncker 2016 feststellen musste. Von Großbritannien im Westen bis zu den Visegrád-Staaten im Osten, von den Faschisten in Italien bis zu den Wahren Finnen im Norden gibt es eine breite Ablehnung der EU-Politik. Aber der Kommissionspräsident wollte nicht der Doktor Frankenstein oder Schäuble sein, der an der Schaffung dieser Monster beteiligt war. Vielmehr habe es „damit zu tun, dass man sich in Sachen Grundprinzipien des kontinentalen Zusammenwachsens nicht mehr auf derselben Linie bewegt, und das betrifft nicht nur die jüngeren Mitgliedstaaten, sondern das betrifft alle, manchmal auch Luxemburg“, moralisierte der Christlich-Soziale.
Wenn Juncker im Publikum Bekannte entdeckte, brach er seine Rede ab und grüßte sie unvermittelt, erzählte von seinen ehemaligen Ministerkollegen Fernand (Boden, CSV) und Colette (Flesch, DP). Mit einer aus dem Nebensaal zugeschalteten Zuhörerin aus Ettelbrück unterhielt er sich angeregt über den Umstand, dass ihre Mutter seine Frau kennt. So veranschaulichte der mit gepanzertem Wagen und Leibwächtern reisende Kommissionspräsident, dass die Luxemburger sich vom Schumanplang bis zum Europadag wie europäische Musterschüler aufführen, aber in Wirklichkeit bloß Europa spielen, ganz gleich ob sie als Minister zu Ratssitzungen nach Brüssel fahren oder am Sonntag in den Wahlkabinen Kreuzchen malen. Am Ende soll in einer sehr kleinen, lange agrarisch geprägten Gesellschaft zählen, dass der einen Mutter des anderen Frau kennt und beide aus Ettelbrück stammen.
Das Europa, das am Freitag vorgeführt wurde, war ein Konveniat konservativer älterer Herren, des grauhaarigen Kommissionspräsidenten und des weißhaarigen Moderators, wie schon auf den vergilbten Fotos von Robert Schuman, Jean Monnet und Joseph Bech. Fragte jüngeres Publikum wohlwollend besorgt, was „die nächste Kommission tun soll, um die Leute für Europa zu begeistern oder zu interessieren“, so klagte der scheidende Präsident über ein „schiefes Europabild“ und forderte, dass in den Schulen mehr übereinander informiert werde. Die Europäische Union nicht zu lieben, kann nur auf Unwissenheit beruhen.
Die gutmütige Schildkröte verkörperte ein behagliches Europa von früher, das es so nie gab, aber das wieder im Wahlkampf versprochen wurde: Die gute alte Zeit, als die Europäer unter den Klängen der Hymne an die Freude immer näher zusammenrückten; als Europapolitiker, wie die lächelnden Unbekannten auf den Wahlplakaten, keine Interessen, sondern Ideale hatten, selbst wenn sie über Stahlquoten verhandelten; als Luxemburger Politiker heldenhaft zwischen Franzosen und Deutschen dolmetschten; als die großen Nachbarn dem kleinen Luxemburg seine Briefkastenfirmen gönnten.
Doch auch am modernen und dynamischen Europa von heute können nur Populisten herummäkeln. Schließlich ist es keine Entscheidung, sondern ein Sachzwang, wenn es die Konkurrenz enthemmt, damit sich seine Exportindustrie auf dem Weltmarkt durchsetzt, und dafür in seiner Gewinn- und Verlustrechnung Millionen Europäer als Globalisierungsverlierer abschreiben muss. Mächtig, wie es als zweitgrößte Wirtschaft und größter Markt der Welt ist, und ohnmächtig deren Marktgesetzen ausgeliefert. Und das mit den Maastricht-Kriterien, den Wettbewerbsregeln, dem unabhängigen Gerichtshof und der unabhängigen Zentralbank verhindert, dass irgendeine demokratische Instanz, auch nicht das am Sonntag gewählte Europaparlament, etwas an dieser Ohnmacht ändern darf.
Mit diesen Populisten „kann man nicht paktieren, mit denen kann man fast nicht dialogieren, mit extrem Rechts muss man hart ins Geschäft gehen“, ereiferte sich der Kommissionspräsident, der mit ihnen in all den Regierungen paktiert, denen sie inzwischen angehören. Lieber machen die Kommission und die Parteien wieder Stimmung für eine angebliche Schicksalswahl, bei der zwischen Europa und Populismus entschieden werden müsste wie einst zwischen Sozialismus und Barbarei. Auch wenn das Schicksal am wenigsten von einem weitgehend ohnmächtigen Europaparlament und seinen sechs Luxmeburger Abgeordneten abhängt, das weitere fünf Jahre von einer großen Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten geführt werden dürfte.
Der Kommissionspräsident und sein Journalistenfreund duzten und neckten sich auf der Bühne des Trifolion, bis auch den Zuschauern in den hinteren Reihen einleuchtete, dass Europa noch immer eine abgemachte Sache ist, zu wichtig, um sich gegenseitig bloßzustellen, zu wichtig, um bei den Wahlen am Sonntag darüber entscheiden zu lassen.
Ohne weitere Erklärung führte die Europäische Kommission ihren 1 672. Bürgerdialog in Echternach auf Deutsch. So als richtete sie sich weniger an die Zuschauer, die am Sonntag in Luxemburg wählen sollen, als an die aus der Eifel und dem Hunsrück angereisten. Aber so durfte jeder erleben, dass die Leitkultur im Euro-Land nun einmal deutsch ist, dass die deutsche Automobilindustrie und der deutsche Sparer deutsch reden. Deutscher Sparer: „Sind die Suen noch sicher?“ – Kommissionspräsident: „Ja.“ Ein griechischer Sparer war nicht im Saal. Aber der Kommissionspräsident war „stolz“, „dafür gesorgt zu haben, dass Griechenland nicht aus der Eurozone aussteigt“. Anscheinend „haben alle Griechenland gerettet, ich war es aber. Darauf lege ich großen Wert!“
Als ein Zuschauer die etwas brisante Frage nach der Besteuerung von Unternehmensgewinnen stellte, wies der als „erster Mann in Europa“ Vorgestellte gleich jede Verantwortung von sich: Die Kommission habe „eine stärkere Besteuerung der Internetgiganten“ und „eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für Betriebssteuern“ vorgeschlagen, aber „der Ministerrat konnte sich dem bislang nicht anschließen. Schimpfen Sie mit Ihren Ministern, nicht mit mir“.
Eingesackt in sein sperriges Sofa, ließ der Kommissionspräsident immer wieder den Zeigefinger müde in der Luft kreisen, um zu veranschaulichen, wie die so komplizierten Dinge in Brüssel drehen. Er spulte noch einmal seine Jahre alten Bonmots herunter und wich immer wieder vom Thema ab, damit kein Zweifel aufkam, wie diese Auftritte ihn inzwischen anöden, die keineswegs „vergnügungssteuerpflichtig“ seien, wie er offen eingestand. Aber er hatte ein Ziel vor Augen: „Ich weiß jedenfalls, ich mache Schluss am 31. Oktober um Mitternacht.“