Jahrzehntelang wurde die Geschichte der Europäischen Union als einen holprigen, aber unumkehrbaren Aufstieg vom Schumanplang bis zu den Vereinigten Staaten von Europa angesehen. Doch heute steckt die Europäischen Union in einer „existenziellen Krise“, so Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV) im September 2016 vor dem Europaparlament.
Erstmals seit dem Austritt Algeriens 1962 und Grönlands 1985 wird die Europäische Union wieder schrumpfen, wenn mit Großbritannien einer der wichtigsten Mitgliedstaaten die Union verlässt. Ungarn, Polen und Kroatien werden von rechtsradikalen, die EU-Politik weitgehend ablehnenden Parteien beherrscht, in Italien, Österreich, Dänemark, der Slowakei und Bulgarien gehören sie zu den Regierungskoalitionen, in den Niederlanden, Slowenien, Tschechien und Frankreich treiben sie aus der Opposition heraus die Regierung vor sich her. Die Austeritätspolitik nach der Finanz- und Wirtschaftskrise und der Umgang mit Einwanderern aus Afrika und Asien zerstörten in den Augen vieler Europäer die Legitimation der Europäische Union als ein Friedensprojekt, das Wohlstand und Menschenrechte gewährleistet.
Doch die zehn Parteien, die hierzulande für die Neuwahl des Europaparlaments in 14 Tagen kandidieren, erklären nicht, wie sie auf die von Jean-Claude Juncker beschriebene existenzielle Krise reagieren wollen. In ihren Wahlprogrammen leugnen sie die Krise oder spielen sie herunter, stellen sich stumm oder dumm.
Im Wahlprogramm der CSV kommt das Wort „Krise“ nicht vor. Die Partei verspricht, weiterzumachen, als ob nichts wäre, und wünscht sich bloß „eine besser funktionierende und wirksamer gestaltende Europäische Union“ (S. 1), denn „Europa muss wieder menschengerechter werden“ (S. 12). Die DP nennt die Union beschönigend „eine unvollendete Baustelle“ (S. 4) und sieht durch den Brexit ihre „weltweiten Einflussmöglichkeiten schwinden“ (S. 21).
Die LSAP beruhigt sportlich: „Mee Europa ass ausser Otem. D’Solidaritéit tëscht den europäesche Länner ass ugeschloen. D’Austeritéitspolitik huet d’Ongläichheete verstäerkt an d’Vertraue vun den Europäer an d’Politik geschwächt“ (S. 2). Ähnlich heißt es von den Grünen: „Mit Großbritannien verliert die Europäische Union zum ersten Mal in der Geschichte ein Mitgliedsland und wird wieder kleiner. Soziale und ökonomische Ungleichgewichte lassen die Lebensverhältnisse innerhalb der Europäischen Union weit auseinanderdriften. [...] In einer ganzen Reihe europäischer Staaten werden Demokratie und Meinungsfreiheit immer stärker von den eigenen Regierungen angegriffen“ (S. 17).
Im stark nach Fernand Kartheiser klingenden Wahlprogramm der ADR heißt es zufrieden, weil man es schon immer gesagt hatte: „D’Entscheedung vum britesche Vollek fir per Referendum aus der Europäescher Unioun auszetrieden, ass en eklatante Beweis fir d’Scheitere vun der Politik vun engem federalen Europa, an deem déi eenzel Länner an Identitéiten an engem groussen ‚melting pot‘ solle matenee verschmolt ginn. Eng ganz Rei Länner, wéi déi aus dem Visegrád-Grupp (Ungarn, Polen, Tschechesch Republik a Slowakei), sinn net méi domat averstanen, fir Entscheedungen ëmzesetzen, déi géint hir Interessie geholl gi sinn, ouni datt Eestëmmegkeet verlaangt war“ (S. 3).
Die Wahlprogramme der meisten Parteien behandeln die Wähler wie Kinder, denen man ängstlich die Wahrheit vorzuenthalten versucht, wie zerrüttet die Ehe der Eltern schon ist. Die Parteien befürchten nicht nur, ihre Wähler zu entmutigen, sondern auch, dass ihnen Zweifel an Europa und damit eine verschärfte Form von Landesverrat vorgeworfen wird. Sie wollen um jeden Preis die Frage vermeiden, ob die Krise der Europäischen Union bloß auf eigennützige Politiker, populistische Rattenfänger, dumme Wähler und russischen Fake news zurückzuführen ist oder ob sie auch etwas mit der Europäischen Union selbst zu tun haben könnte.
Aber die Wahlprogramme beschränken sich auf eine abstrakte institutionelle Sicht und vermeiden politische Einschätzungen des Kräfteverhältnisses in der Europäischen Union. Sie gegen nicht darauf ein, ob Luxemburg Nutzen aus der deutschen Dominanz und der Schwäche Frankreichs zieht oder was der Preis für das Kerneuropa rund um den Euro ist. Die Parteien wissen, dass ein uneingeschränktes Bekenntnis zur Europäischen Union eine Vorbedingung ist, um einer Regierung beitreten zu dürfen. Deshalb heißt es nur im knappen Aufruf der KPL zu den EU-Wahlen entschieden: „Die KPL ist davon überzeugt, dass die EU nicht reformierbar ist.“
Obwohl viele Parteien mehr Transparenz in der EU-Politik versprechen, scheinen sie doch im Stillen darauf zu vertrauen, dass auch die Krise der Europäischen Union von Ministern und Experten bei abgeschirmten Kamingesprächen gelöst wird. Also erzählen die Wahlprogramme bis dahin lieber ermutigende Geschichten über Europas Einsatz für artgerechte Tiertransporte (DP, S. 19; Grüne S. 33, ADR, S. 21, Lénk, S. 6) und gegen das Geoblocking von Fernsehserien (DP, S. 17; ADR, S. 27; LSAP, S. 6). Und auf den spärlich besuchten Wahlversammlungen rufen die Kandidaten in dramatischem Ton gegen die „Populisten“ genannten rechten Ausländergegner und linken Austeritätsgegner auf, die liberale Mitte zu wählen, die im Europaparlament als ewige große Koalition von konservativer Volkspartei und Sozialdemokratie umgeht.
Selbstverständlich wollen die Wähler solche Geschichten hören. Denn trotz aller Krisen ist in keinem anderen Land die Unterstützung für die Europäische Union so groß wie hierzulande. Laut Frühjahrsumfrage 2019 von Eurobarometer hielten 86 Prozent der Befragten in Luxemburg die Mitgliedschaft in der Europäischen Union für „eine gute Sache“ gegenüber einem EU-Durchschnitt von 61 Prozent. Gerade zwei Prozent hielten sie für eine „schlechte Sache“, noch ein Europarekord. Nur fünf Prozent würden bei einem Referendum für einen Austritt Luxemburgs stimmen, wieder ein Europarekord. Bei aller Liebe zu Vaterland und Muttersprache scheinen sich die meisten Leute bewusst, dass ein Zwergstaat einen Markt braucht, der größer ist als er selbst, und selbst die dümmsten Nationalisten wollen sich nicht bloß von heimischen Bananen ernähren.
Dass die Europabegeisterung auch heute noch nirgends so groß ist wie in Luxemburg, ist leicht nachvollziehbar: Oberstes Ziel der Europäischen Union ist es, einen großen „Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ zu schaffen, wie es 2004 in Artikel I-3 des gescheiterten Verfassungsvertrags hieß, damit die ungehinderte Konkurrenz ertragsärmere Kapitale aus dem Markt drängt und das Lohnniveau drückt. Beim Stichwort „Wettbewerb“ forcierte Luxemburg den Steuerwettbewerb zugunsten ausländischer Firmen und Anleger, und als die Europäische Union in den Achtzigerjahren begann, die Stahlquoten abzuschaffen, ging sie gleichzeitig zu einer monetaristischen Politik über, die den Luxemburger Finanzsektor zur ungeahnten Blüte trieb. Er warf so viele Steuereinnahmen ab, dass der Sozialstaat und damit die Akzeptanz der Europäischen Union erhalten werden konnten, als nach der Finanz- und Wirtschaftskrise andernorts aggressiv die Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie zum Preis von Massenarbeitslosigkeit und Verarmung erhöht wurde – so dass Millionen ihren Glauben an die Europäische Union verloren.
Allerdings hat die Krise auch dazu geführt, dass der Steuerwettbewerb nicht mehr gerne gesehen ist, Luxemburg seit Jahren unter Druck steht, seine Niedrigstsätze für ausländische Konzerne und Millionäre zu erhöhen. Ob das Land nach der Abschaffung des Bankgeheimnisses in der Europäischen Union über das Einstimmigkeitsprinzip ein Vetorecht zur Verteidigung seiner Steuerpolitik behalten soll, darüber gehen die Meinungen zwischen linken und rechten Parteien auseinander. Das ist nützlich als Alleinstellungsmerkmal der in den meisten anderen europäischen Fragen bis hin zur Asylpolitik, zum Klimaschutz und zum europäischen Mindestlohn ziemlich einmütigen Parteien, die im Europaparlament sowieso nichts zu sagen haben – und am Ende siegen sowieso die Sachzwänge und die Märkte.
„Die Steuerpolitik liegt jedoch in der Kompetenz des Nationalstaats und muss dies auch bleiben. Wir halten hier an der Einstimmigkeit fest“, schreibt die CSV in ihrem Wahlprogramm (S. 5). Auch die „ADR ass fir d’Eestëmmegkeet bei de Votten, dëst besonnesch och bei Steierfroen“ (S. 26). Das stark die Handschrift von Charles Goerens tragende Wahlprogramm der DP will das Vetorecht in der Außenpolitik abschaffen, die Grünen, die ihr Wahlproramm teilweise wörtlich aus Stellungnahmen der deutschen Bündnis 90/Die Grünen kopiert haben, wollen das Vetorecht sogar im Weltsicherheitsrat abschaffen, aber bei Steuerfragen halten sich beide bedeckt.
Die LSAP meint dagegen, „d’Eestëmmegkeet am Conseil soll a Steierfroen iwwerduecht ginn“ (S. 5). Zu ihrer Linken will déi Lénk „mettre fin à la règle de l’unanimité en matière fiscale au sein du Conseil européen“ (S. 18), denn sie will sowieso „lutter contre les paradis fiscaux“ (S. 16).
Ähnlich sieht es bei der Steuerharmonisierung aus: Während CSV und DP am freien und unverfälschten Steuerwettbewerb festhalten wollen, will die LSAP „eng europawäit effektiv Kierperschaftssteier (impôt sur les sociétés) vu minimum 18%“ (S. 8) – ein Prozentunkt über dem vor einem Monat von LSAP, DP und Grünen beschlossenen Luxemburger Satz! Die Grünen wollen sich „für die Einführung einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftssteuer-Bemessungsgrundlage“ und „einen europaweiten Minimalsteuersatz für Unternehmen“ einsetzen (S. 10). Auch die Linke will „soumettre les entreprises multinationales à un taux et une base d’impôt réels, vérifiables et minimaux dans tous les pays de l’Union européenne“ (S. 18).
Die paneuropäische Bewegung Volt fordert in ihrem europaweiten Wahlprogramm: „Ensure multinationals pay their fair share by collecting a minimum European corporate tax of 15% and harmonising corporate taxation across Member States” (S. 1). Die Piratenpartei, die nur über ein „Gemeinsames Wahlprogramm der europäischen Piraten“ verfügt, will „eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB) und eine verstärkte Aufsicht durch die EU-Kommission über die Steueroasen in der EU“ (S. 11).
Wenige Wochen nachdem er die „existenzielle Krise“ der Europäischen Union erklärt hatte, forderte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im November 2016 „einen neuen Anlauf in Sachen europäische Verteidigungsunion bis hin zu dem Ziel der Einrichtung einer europäischen Armee“. Doch selbst seine eigene Partei schreibt nun in ihrem Wahlprogramm: „Das Ziel der europäischen Verteidigungsinitiative ist nicht eine einheitliche europäische Armee, sondern ein einsetzbarer Verbund europäischer Streitkräfte, die gemeinsam operieren können“ (S.6).
Auch die DP versteht unter einer „Europäische[n] Verteidigungsunion“ eine „effizientere Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften der Mitgliedstaaten“ (S. 14), keine Zusammenlegung ihrer Armeen. Bei den Grünen heißt es: „Einer stärkeren Kooperation im militärischen Bereich oder eine gemeinsame Anschaffung von Rüstungsgütern stehen wir positiv gegenüber“ (S. 27). Dagegen will die Linke „s’opposer aux tentatives de créer une armée européenne, projet à vocation offensive (S. 23), und die ADR „ass der Meenung datt d’Grënne vun enger europäescher Arméi net néideg an net sënnvoll ass“ (S. 19).
Wozu die Verteidigungsunion gut sein soll, hat man vor allem auf derRechten erkannt. Die ADR wirbt für „de Schutz vun den europäesche Wirtschaftsinteressie géintiwwer anere gréisseren Entitéite wéi den USA a China“ (S. 5), wünscht aber, „mat Russland gutt Bezéiungen ze hunn – dëst am géigesäitege Respekt vun de jeeweilegen Interessien“ (S. 19). Die CSV geht weiter: „Europa muss in der Welt erkennbarer und wirksamer werden – besonders, wenn wesentliche europäische Interessen auf dem Spiel stehen. Europa muss aussenpolitisch mehr Verantwortung übernehmen. Im Spiel der Grossmächte muss es energischer für seine Interessen eintreten. Besonders, aber nicht nur gegenüber Grossmächten wie China, Russland und auch den Vereinigten Staaten von Amerika“ (S. 6)