Im Wahlkampf pflegt die LSAP, das „A“ in ihrem Namen aufzupolieren. Im Alltagsgeschäft will sie es beim Polieren belassen. Deshalb versteckte sich Arbeitsminister Georges Engel vergangene Woche hinter einem État des lieux des enjeux et des risques de la Réduction du Temps de Travail.
Die Bestandsaufnahme des Liser zitiert keine Männer und Frauen, die stundenlang zur Arbeit fahren, die anstrengende, gefährliche Arbeiten verrichten, die Überstunden, Schicht- und Nachtarbeit leisten, die wenig verdienen. Sie zieht keine Lehren aus der Geschichte der Arbeitszeitverkürzungen seit 1876. Sie erwähnt nicht die Gewerkschaften, Streiks, Kundgebungen, die dafür nötig waren.
Die Studie „repose principalement sur une revue de la littérature existante [...] plutôt que sur des données empiriques“ (S. 69). Die Studie ist eine Zusammenfassung anderer Studien. Früher hieß das Metastudie, heute ChatGPT.
Die Autorinnen zitieren Vor- und Nachteile von Arbeitszeitverkürzungen. Sie wägen sie ab und nennen das Ergebnis jedes Mal „ambigu“. Am Ende heißt es: „En conclusion, ce document a souligné les effets ambigus d’une réforme visant une réduction de la durée légale hebdomadaire du temps de travail“ (S. 72).
Das Tageblatt hält die Ambiguität für „in vielen Punkten wenig klare Ergebnisse“ (26.4.23). Das Luxemburger Wort findet, dass es der Studie „arg an Aussagekraft fehlt“ (29.4.23). Das ist ein Missverständnis.
„Ambiguus“ kommt von „ambi“ (nach zwei Seiten) und „ago“ (drücken). Es bedeutet: hin- und hergerissen zwischen zwei Seiten, zweideutig. Die Zweideutigkeit von Arbeitszeitverkürzungen ist keine Unklarheit oder fehlende Aussagekraft. Sie beschreibt einen Widerspruch. Die Metapher ist wieder klüger als die Dichter.
87 Prozent der Erwerbstätigen sind lohnabhängig (S. 34). Sie verkaufen ihre Arbeitskraft den Unternehmern: den Besitzern von Maschinen, Fabriken, Büros, Läden. Diese Produktionsmittel treten den Besitzern der Arbeitskraft als fremdes Eigentum gegenüber. Den Produzierenden gehören nicht die Produkte ihrer Arbeit. Sozialdialog, Wettbewerbsfähigkeit und christliche Soziallehre täuschen über diesen Widerspruch hinweg.
Technische Verbesserungen ermöglichen, in kürzerer Zeit gleich viele Waren und Dienstleistungen zu produzieren – oder in der gleichen Zeit eine größere Menge davon. Der dabei entstandene Wert wird hin- und hergerissen: Die steigende Produktivität erlaubt den Arbeitskraftverkäufern, weniger zu arbeiten – oder den Arbeitskraftkäufern, mehr zu verdienen.
Die Liser-Studie betont die hohe Produktivität: „En 2019, l’écart en faveur du Luxembourg était entre 30% et 40% par rapport aux pays frontaliers et même de près de 60% par rapport à l’ensemble des pays de la zone euro“ (S. 55). Doch zur Aneignung der Produktivitätsgewinne heißt es, Luxemburg sei „le seul pays à ne pas avoir réalisé de réduction du temps de travail“ (S. 26). In den vergangenen Wochen meldete die BIL einen Profit von 153 Millionen Euro, die Sparkasse von 235 Millionen, die BGL von 408 Millionen, RTL von 766 Millionen, Cargolux von 1,6 Milliarden Dollar, Arcelor-Mittal von 9,3 Milliarden Dollar.
Müssen die Besitzer der Produktionsmittel die Arbeitszeit senken, ohne die Löhne zu senken, bleibt ihnen weniger Profit. Der Streit um Arbeitszeitverkürzung ist stets ein Streit um Profit. Daher nun der Boykott durch den Unternehmerverband. Daher die Ablehnung durch CSV, DP, ADR. Daher das Versteckspiel des Arbeitsministers.
Die Autorinnen des Arbeitszeitberichts wollen die „coûts/bénéfices [...] pour la société dans son ensemble“ berechnen (S. 72). Der Saldo solcher Geschäftskonten ist nicht zweideutig. Er ist falsch. Die Gesellschaft ist kein Krämerladen. Bei Arbeitszeitverkürzungen sind die Vorteile der einen die Nachteile der anderen. Die Ambiguität ist ein Antagonismus. Die Zweideutigkeit ist eindeutig.