Die Europawahlen am kommenden 9. Juni seien ein weiteres wichtiges Momentum für die Partei. Man befinde sich im „Aufschwung “, nachdem man letztes Jahr sowohl in den Kommunal- als auch in den Nationalwahlen zugelegt hat, führte Parteipräsidvent Fred Keup sichtlich gut gelaunt vor einer Woche auf einer Pressekonferenz aus. „Kritt d’ADR ee Sëtz ?“, diese Frage zirkuliere derzeit im luxemburgischen Politikbetrieb. „Fir mech ass kloer: Mir kréien deen“, beantwortet sich der 43-jährige ADR-Abgeordnete die Frage. Der Kontrast zu den Wahlen von vor zehn Jahren könnte nicht größer ausfallen. Damals sagte Gast Gibéryen, „die Begeisterung für die Europawahlen“ sei nicht „so groß“. Die ADR verbarg kaum, dass sie sich keine Hoffnung auf einen Sitz an jenem Wahlsonntag im Jahr 2014 machte, man wollte die lustlosen Rundfunkdebatten und Wahlveranstaltungen zu Europapolitik möglichst rasch hinter sich bringen.
Spitzenkandidat für die Europawahlen ist Fernand Kartheiser. Der 64-Jährige, der seit 2013 für die ADR im Parlament sitzt, postet seit zwei Monaten vermehrt über Europapolitik. Am 4. März nahm er an der interparlamentarischen Konferenz über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Brügge teil und veröffentlichte im Nachhinein seinen Redebeitrag auf Facebook. „Jede Initiative, die die Lage weiter verschärfen könnte“ und die die Mitgliedstaaten der Union „noch weiter in diesen Konflikt hineinziehe“, müsse „eindeutig verurteilt werden“, kommentierte er das Kriegsgeschehen in der Ukraine. Genauso wie Europa seine Partnerschaft mit den USA pflegen müsse, müsse Europa seine „gute Nachbarschaft zu Russland wiederherstellen“. Kartheiser war bis 1989 Offizier und wirkte anschließend in Griechenland, Zypern und Rumänien als Botschafter. Ihn sprechen geopolitische Angelegenheiten und EU-Politik an – er ist kein Stëmmefänkert, der später sein Mandat ablehnen wird. Dafür spricht auch, dass Kartheiser dem Vorstand der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) angehört, obwohl die ADR keinen Sitz im Europaparlament hat.
Und er lästert nun munter gegen andere EU-Abgeordnete. Anfang März fragte er auf Facebook, ob Isabel Wiseler-Lima (CSV) eine Ausstellung über vermeintliche Impfschäden verhindert habe. Jedenfalls behauptet das die Rassemblement-National-Abegordnete des Europäischen Parlaments, Virginie Joron, in einem von Kartheiser geteilten Video. Fred Keup bezeichnete Kartheiser bereits Mitte Januar im ADR-Tëlee Neijoersinterview als „besonders geeigneter“ Spitzenkandidat. Wie ein Lehrer über seinen Schüler urteilte Keup, er sei „intelligent, fleißig und ein Brückenbauer“. In seiner Neujahrsrede vor der Parteibasis wetterte Keup gegen „déi traditionell, grouss Parteien“, die wollten, dass „Europa immer mehr Macht“ zukomme – einzig die ADR kämpfe gegen diese Entwicklung an. Das Motto „fir ee staarkt Lëtzebuerg an Europa“ soll diesen Spirit unterstreichen. Damit einher geht für Fernand Kartheiser die Forderung nach Einstimmigkeit der EU in Sicherheits- und Steuerfragen, wie er am Freitag während der Pressekonferenz ausführte. Überhaupt seien diese Europawahlen mit Blick auf die anderen Parteien ein Déja-Vu: Marc Angel (LSAP), Tilly Metz (déi Gréng), Christophe Hansen (CSV) und sogar Monica Semedo (diesmal für Fokus) seien erneut aufgestellt. Doch auch Kartheiser ist ein Déja-Vu – 2019 war er bereits Spitzenkandidat. Damals verbuchte die ADR zehn Prozent der Stimmen und landete hinter der LSAP auf dem fünften Platz. In Luxemburg hatten es europaskeptische Stimmen bisher schwer Gehör zu finden; verhältnismäßig gut schnitten bei Europawahlen hingegen die Hauptgegner der ADR, die Grünen, ab, die mit grenzüberschreitenden Anliegen punkteten.
Im Juni könnte es zu einem Bruch dieses Wahlverhaltens kommen. Europaweit hat sich rechtspopulistische Hetze verselbstständigt und Ressentiments gegen große Volksparteien und Grüne macht sich breit. Letztere versprachen über Jahrzehnte mit europhorischem Pathos ein zunehmend demokratischeres, transparenteres und sozialeres Europa. Stattdessen stach die EU häufig als technokratisch-distanzierter Verwaltungsapparat heraus, der Prosperitätserwartungen enttäuschte. Seit „dem Europa der Schuldenkrise“ und der Einführung starrer Haushaltsregeln, die als Fremdbestimmung wahrgenommen werden und finanzielle Ungleichheiten verfestigten, fehlt es der EU an einer großen Erzählung. Die Schwächen der Mitte-Parteien könnten nun den rechten Populisten weiter Aufschwung geben, die eine nationalistische Gegenoffensive starten, ohne tatsächlich Lösungen anzubieten.
720 Sitze werden am 9. Juni von 350 Millionen Wahlberechtigten vergeben – erstmals können dabei 16-Jährige mitbestimmen. Mit in diesen Wahlkampf zieht für die ADR Kartheisers Lebensgefährtin, die Direktionsberaterin in der Zentralbank und Präsidentin der ADR-Fraen, Sylvie Mischel, der Nord-Abgeordnete Jeff Engelen, die Anwältin Véronique Stoffel, die Ost-Abgeordnete Alexandra Schoos sowie der Jurist und Parteisekretär Alex Penning, der im Oktober fast den Sprung ins Parlament geschafft hatte. Letzterer wurde vor einer Woche in einem Presseschreiben der ADR-Jugendorganisation gelobt, er habe an deren Nationalkongress eine „déifgrënneg a pikant Ried iwwert de Genderwan“ geliefert. Penning nickte, während Kartheiser am Freitag in seiner Rede nationalistische Themen ansprach, Schoos hingegen, als der Spitzenkandidat angab, sich zu den Menschenrechten zu bekennen. Beide stehen für das Spannungsfeld, in dem die Partei sich zur Europapolitik äußert: man will sich mit rechtspopulistischen Positionen von der CSV abgrenzen und dennoch nicht als euroskeptische Krawallmacher auftreten. 2014 war die damalige Parteisekretärin Liliana Miranda die einzige Frau auf der ADR-Liste, 2024 ist die Liste paritätisch aufgestellt – man ist gegen Genderideologie, doch man will nicht auf den Zuschuss für die Aufstellung von Frauen verzichten.
Die ECR, der der ADR angehört, wird aktuell von Giorgia Melonie präsidiert. 2001 trat die ADR bereits der Union für das Europa der Nationen bei, die sich 2009 auflöste und teilweise als ECR neu gründete. Den Vizegeneralsekretär dieser Vorgängerorganisation, Eugenio Preta, lud die ADR 2009 zu ihrem Europakongress ein, wo der Italiener ihnen im Kulturzentrum in Junglinster auf Luxemburgisch Mut machte: „Zusumme wäerte mir am Juni gewannen.“ Eugenio Preta gehörte damals der sich als postfaschistisch bezeichnenden Alleanza nazionale an; einige ihrer Mitglieder etablierten 2012 die Fratelli d’Italia. Als sich 2009 die ECR gründete, waren zunächst die britischen Tories eine treibende Kraft und die ECR setzte sich vor allem für Wirtschaftsliberalismus und gegen Zentralisierungsbestrebungen ein, erläuterte die Politikwissenschaftlerin Nathalie Brack vor zwei Monaten im Wort. Nach dem Brexit jedoch habe sich der Ton der Partei unter der polnischen PiS, Melonis Fratelli d‘Italia und der rechtsradikalen Vox aus Spanien verschärft. Weiterhin bestimmend bleibt aber als britisches Erbe der libertäre Eingschlag, den die Stiftung New Direction bearbeitet – niedrige Steuren, Deregulierung des Marktes. Aktuell haben sie 68 von 705 Sitze in Straßburg inne. Die ECR zählt jedoch keine Rassemblement National und AfD-Mitglieder, was die Fraktion zusätzlich schwächt, die deutschen und französischen Rechtsextremen haben sich der Fraktion für Identität und Demokratie angeschlossen. Intern mäandert die ECR zwischen unterschiedlichen Spannungen rund um gesellschaftspolitische Vorstellungen und Migrationsfragen. Die Solidarität mit der Ukraine unter dem Ko-Präsidenten der ECR und Fratelli-Politiker Nicola Procaccini sorgt zudem für Irritationen bei ECR-Mitgliedern, die Russland wohl gesinnt sind. Unter Procaccini heißt es offiziell, man pflege eine „unerschütterliche Solidarität mit dem ukrainischen Volk“ und unterstütze es bei seinem Kampf „für Souveränität und territoriale Integrität“, dies, solange es „notwendig ist und darüber hinaus“.
Fernand Kartheiser selbst verurteilt zwar den Angriffskrieg auf die Ukraine, fährt jedoch keine resolut russlandkritische Linie. Einige Monate nach der Krimannexion im Frühjahr 2014 nahm er an einer Konferenz mit dem Titel Russia and the EU – the question of trust teil, in der er monierte, die EU habe sich von einer in Mitteleuropa und den baltischen Staaten vorherrschenden Angst leiten lassen, die den langfristigen Beziehungen zu Russland schaden würden. Zwei Wochen vor Kriegsbeginn verlautbarte er am 8. Februar im Parlament: „Der Westen hat Russland oft gedemütigt. Wir aber wollen Russland den Platz zuerkennen, der dem Land zusteht“. Zwei Monate nach Kriegsbeginn sagte er dem Essentiel, er sei „gegen Waffenlieferungen, da dies Luxemburg zu einem Mitspieler macht, der indirekt an einem Krieg teilnimmt“. Seit Kriegsbeginn erfindet sich die ADR nun einerseits als Friedenspartei neu, um sich von anderen parteipolitischen Positionen abzugrenzen, stellt sich andererseits unter Tom Weidig jedoch an die Seite der Ukraine. Dieser postete im Februar auf Facebook: „Mir mussen alles maache fir der Ukrain ze hëllefen.“ Es hagelte fast 800 Kommentare. Was nun die Parteilinie sei, wollten die ADR-Sympathisanten wissen und zeigten sich von Weidig enttäuscht. Nachdem die ADR Fernand Kartheisers Rede, die er als EU-Spitzenkandidat am 8. März hielt, online veröffentlichte, erkundigte sich prompt jemand über den Ukrainekrieg: „Dir sidd jo och fir Waffen ze liwweren, huet den Tom Weidig gesot.“ Obwohl es in der ADR zu einem Meinungs-Ping-Pong rund um den Krieg kommt, sind mehrere Faktoren entscheidend für die EU-Wahl, unter anderem auch wie die CSV-Kandidaten bei potenziellen ADR-Wählern ankommen. Zudem will die ADR weitere Kernthemen bespielen, die sie bestimmt hat, wie die Überarbeitung des Green-Deal, der Zugang zu billiger Energie, der angeblich bedrohte Meinungspluralismus und das „Lösen der Migrationskrise“. Ein Bekenntnis zum Verbrennermotor darf auch nicht fehlen.
Auf nationaler Ebene will Parteipräsident Fred Keup derweil die In- und Out-Group-Gefühle der ADR-Anhänger bestärken. „Eng gutt familiär Ambiance“ herrsche in der Partei. Mehr als in allen anderen Parteien würde das Freundschaftsprinzip großgeschrieben werden. Man ist kein Sammelsurium an schrillen Vögeln mehr, man ist nicht mehr der 1987 gegründete „Aktiounskomitee 5/6 Pensioun fir jiddfereen”, in dem jeder seine individuellen Ziele verfolgt, sondern eine rechtspopulistische Truppe mit Korpsgeist – und mit Ambitionen auf einen EU-Sitz.