In den vergangenen Wochen entstand in der ADR ein Trubel um Wahllisten. Schadet sich die Partei gerade selbst – oder ist sie dabei, ihr Profil zu schärfen?

Freiheit und Normalität

Maks Woroszylo, Alex Penning  und Tom Weidig am Wahlabend  am 11. Juni
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 21.07.2023

Als der Abgeordnete Roy Reding während der Corona-Pandemie mit heiterer Nonchalance und Impfgegner-Stolz die Aufmerksamkeit auf die ADR lotste, standen seine Parteikollegen noch hinter ihm. Fernand Kartheiser beklagte, Roy Reding sei ein Opfer der Tagespresse, die Stimmung gegen Impfgegner wie ihn mache. Das Gewaltpotenzial aber ginge nicht von den Anti-Corona-Protestlern aus, sondern von den Maßnahmen der Regierung. Auf dem Parteikongress Ende März 2023 wurde es jedoch still um Roy Reding. Er kam nicht zu Wort, wurde nicht auf die Bühne gebeten – ein Polit-Ghosting machte sich breit. In ihren Reden lobten der Parteipräsident Fred Keup, Tom Weidig, Fernand Kartheiser und Maks Woroszylo sich gegenseitig – und man stimmte die Anwesenden auf eine neue Zukunft der Partei ein.

„Ich habe dem Chamberpräsidenten mitgeteilt, dass ich die ADR verlasse“, verkündete Roy Reding schließlich Ende Juni auf Facebook. Dass die Parteileitung entschied, den Erstgewählten des Zentrum-Bezirks nicht mehr aufzustellen, sei „du jamais vu” und in seinen Augen „ein flagranter Vertrauensentzug”. Zweidrittel aller Abstimmungen in der Kammer hat der Abgeordnete verpasst und musste sich vertreten lassen. Überhaupt sei Reding in den „Parteistrukturen quasi nie anwesend”, lautete die offizielle Begründung für die Ausgrenzung von der Zentrumliste (man bot ihm im Vorfeld an, Spitzenkandidat im Osten zu werden). Nach dem Rückzug bat die Partei ihn in einem Presseschreiben, sein Mandat niederzulegen, damit Alex Penning in die Chamber nachrücken könne. Das aber tat Reding nicht, er gründete seine eigene Sensibilité Politique, die er unter dem Namen Liberté chérie eintrug.

Gegenüber RTL-Radio verteidigte der ehemalige ADR-Politiker seine Abwesenheiten: Anders als die anderen Abgeordneten im Parlament sei er kein freigestellter Beamter, sondern ein Immobilien-Unternehmer, der finanziell nicht auf den „Jeton” angewiesen sei. Man dürfe nicht meinen, er sei ein Politiker, denn er sei einfach nur „ein Mensch”, der „Missstände festgestellt hat”. Er schiebt noch ein mea culpa nach: Der nationalistischen Initiative Wee2050 von Fred Keup und Tom Weidig sei er zunächst aufgeschlossen entgegengetreten. Doch er hätte erkennen müssen, wie schwachsinnig ihre Analysen sind. Die nostalgischen Vorstellungen von Keup und Weidig seien mit der wirtschaftlichen Realität von Luxemburg nicht vereinbar und schadeten dem Renten- und Gesundheitssystem. Man brauche Arbeitnehmer aus dem Ausland, er selbst mache gerade die Erfahrung, dass er hierzulande kein qualifiziertes Personal finde.

Den postpolitischen Unternehmer Roy Reding störte das neue Programm der ADR-Spitze bisher wenig; wie ein Donald Trump vermengt er Politik und Eigeninteresse, wo er kann. Aber den Partei-Ideologen missfällt wohl die Bau-Lust und die individualistische Beliebigkeit des Merler Anwalts, gegen den zudem im Frühling ein Prozess wegen eines Verdachts auf Immobilienbetrug lief, bei dem er allerdings in zweiter Instanz freigesprochen wurde. Für Fred Keup steht die „Zubetonierung” nämlich Synonym für „Anonymisierung und Individualisierung“, wie er auf dem Parteikongress im März verkündete. Wachstum ist für Keup zuvorderst ein kulturelles und bildungspolitisches Problem. Letzten Sommer legte er überdies mit Tom Weidig das Buch Mir gi Lëtzebuerg net op – Auflösungserscheinungen einer kleinen Nation vor, in dem die These vertreten wird, der Zerfall einer ehemals einheitlichen nationalen Identität sei durch die Erosion der katholischen Kirche, der Monarchie sowie die Verdrängung der luxemburgischen Sprache bedingt. Den Zerfall der nationalen Identität machen sie in ihrem Buch unter anderem am Aufkommen abstrakter Kunst fest. „Noch vor 30 Jahren hingen Landschaftsbilder der schönen luxemburgischen Natur oder Bilder von Burgen und der Festung Luxemburgs an der Wand. Auch religiöse Motive waren populär.“ Jetzt aber nehme abstrakte Kunst immer mehr Raum ein und die Luxemburger „leben zuhause nicht mehr in Luxemburg, sondern irgendwo in der Welt” (S. 125). Überdies wird die Stabilität einer Nation in Mir gi Lëtzebuerg net op nicht an demokratischen Institutionen gemessen, sondern an den Gemeinsamkeiten, die zwischen Bürgern bestehen (S. 127).

Die nationale Identität treibt den Abgeordneten Fred Keup um. Mitte Juli kritisierte er eine von dem Historiker Pit Péporté verfasste Broschüre über die Geschichte Luxemburgs, die im Auftrag des Pressediensts der Regierung verfasst wurde. In der Neuerscheinung von Dezember 2022 fände Graf Siegfried keine Erwähnung, sowie auch der Generalstreik gegen die Wehrpflicht von 1942. Ob die Regierung die Broschüre nochmals überarbeiten lasse?, fragt e Keup. Seine Analyse beruhte dabei in den Hauptlinien auf einer Rezension, die im Land erschienen ist. Keup reduziert diese allerdings einseitig auf Aspekte des nationalen Widerstands und Imagefragen. Auf dem Parteikongress wetterte er gegen die Mitte-Links Regierung, die zentrale Symbole abschaffe: „Mir sinn eng Natioun, déi hire Joerhonnerten ale Roude Léiw duerch een X ersetzt. Dat ass Gambia! A mir sinn déi eenzeg, déi sech wieren.“ Darüber hinaus drehen sich die Redebeiträge und parlamentarischen Anfragen bei dem ADR-Politiker überwiegend um Sprache oder Bildungspolitik – wieviele Schüler wurden von einer Schule verwiesen; wie es um die „Diskriminierung von Hochbegabten“ an Schulen steht; ob an der Universität Luxemburg gegendert wird. Vor zwei Jahren sprach sich der politische Quereinsteiger bereits für ein Verbot von gegenderten Ausdrücken an Schulen aus. Anfang Juni wollte er gemeinsam mit Fernand Kartheiser wissen, ob es angesichts von Demokratiedefiziten im Senegal noch angebracht sei, auf wirtschaftliche Entwicklungsprojekte in der Region zu setzen.

Fernand Kartheiser stänkert regelmäßig gegen eine Politik, die südliche Länder unterstützen soll. Während seiner Rede zum Budget Ende letzten Jahres verlautbarte der ADR-Abgeordnete, man solle die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit von ein auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens kürzen. Vor unserer Tür fände ein Wirtschaftskrieg statt, von dem „d’Käschten nach net oofzeschätze sinn.“ Deshalb solle man darüber nachdenken, welche staatlichen Ausgaben eingespart werden sollen. LSAP-Wirtschaftsminister Franz Fayot zeigte sich von dem Vorschlag enttäuscht, aber nicht überrascht: „Här Kartheiser, alles wat der sot, de ganzen Zäit hei an der Chamber, ass de Beweis, dass är Partei rietsextrem ass.“ Woraufhin der ADR-Politiker empört das Wort ergriff und seine Partei als Schutzwall für Meinungsfreiheit und gegen Antisemitismus, Abtreibung sowie Euthanasie inszenierte.

Ganz so akribisch nimmt der ADR-Politiker es mit dem Antisemitismus dann doch nicht. Am 27. Juni traf sich Fernand Kartheiser mit dem rechtsextremen Politiker und Autor Eric Zemmour, der bedauert, dass die Holocaustleugnung sowie antisemitische und fremdenfeindliche Äußerungen geahndet werden können. Auf Twitter lobte der Franzose den ADR, als „parti qui se bat pour la sauvegarde du Luxembourg“. Zu dem Zeitpunkt war die Jugendorganisation Adrenalin in Porto auf ihrer Sommerakademie. Unter der Leitung des Adrenalin-Präsidenten Maks Woroszylo wurden Rhetorik und Debattentrainings abgehalten sowie das Wahlprogramm der Jugendpartei besprochen. Als Überraschungsgast hatte er Fred Keup eingeladen, der einen Vortrag über die luxemburgische Sprache hielt. Der redegewandte Maschinenbaustudent ist bestens vernetzt und nimmt regelmäßig an internationalen Treffen mit Rechtskonservativen und Rechtsextremisten teil. Auf differenzierte Diskussionen hat er es aber zumeist nicht abgesehen. Gegenüber Forum äußerte er, es reiche gelegentlich zu polarisieren: „Wenn wir auf Instagram oder Twitter kritisiert werden, fragen sich die Leute, wer Adrenalin ist. So kommen die Leute auf unsere Profile.“ RTL schenkte ihm im Mai die Headline „Adrenalin wëll Schosswaffegebrauch am private Beräich zouloossen“. Ähnlich hält es auch die Mutterpartei mit Polemik. Vizepräsident Tom Weidig rief über Facebook auf, gegen eine freiwillig zu besuchende Lesung in der Escher Bibliothek von „Tatta Tom” zu protestieren, einer Drag-Queen, die Märchen vorliest. 900 teils herabwürdigende Kommentare wurden auf der Facebook-Seite der Bibliothek hinterlassen. Für seine Social Media Plattformen produziert der Jungpolitiker Woroszylo Videobeiträge wie D’Géigeklack mam Maks, in denen er sich beispielsweise für fossile Brennstoffe ausspricht.

Denn für die neue Rechte bedroht nicht die Erderwärmung das Leben, sondern die Energiewende und ökologische Transformation werden als Anschlag auf die „Normalität“ interpretiert. Insbesondere Änderungen im Bereich Ernährung, Mobilität und Freizeitgestaltung sind ihnen zuwider. Im Wochentakt kritisieren Fred Keup und Maks Woroszylo das Verbot von Verbrennerautos und Gas-Heizungen. Unerhört sei überdies, dass in manchen Schulkantinen an einigen Tagen kein Fleischgericht angeboten würde. Geopolitische Analysen sind in den Argumentationen der ADR-Politiker nahezu nicht aufzufinden, Preissteigerungen werden zuvorderst als Attacken der hiesigen mitte-links Regierung auf das Volk dargestellt. Mit dieser Rhetorik deuten sie Wirtschafts- und Umweltkrisen zu Identitätskrisen um und spitzen die Polarisierung der Gesellschaft zu; man drängt auf Kulturkämpfe. Die Partei ist nun weit entfernt von jenem 1987 gegründetem „Aktiounskomitee 5/6 Pensioun fir jiddfereen”, die ein Sammelsurium an unterschiedlichen Politikern anzog, wie den Escher Gewerkschafter Aly Jaerling, den Manternacher Landwirt Robert Mehlen und Jean Colombera, den Vichtener Arzt und ehemaligen Anhänger der religiösen Gruppierung Engel Albert. Die ADR ist von einer Koalition der Unwahrscheinlichen zu einem Pool an Rechtspopulisten mutiert.

Rückenwind erhält die Partei dabei von Teilen der CSV. Auf Facebook kommentiert der CSV-Bürgermeister Marc Lies: „Gambia huet eng Linn, an zwar riicht an d’Mauer! Fort mat dem grénge Krom.“ Er freute sich zu dem Zeitpunkt, dass Isabel Wiseler und Christoph Hansen (CSV-Spitzenkandidat im Norden) im EU-Parlament gegen die Wiederherstellung von zerstörten Ökosystemen gestimmt haben. Und der CSV-Abgeordnete Laurent Mosar prahlt auf Twitter mit seinem angepinnten Tweet: „Kann mir bitte jemand erklären[,] wie man 2035 25-30 Millionen E-Autos aufladen wird, ohne Atomkraft und Kohle?“

Vergangene Woche postete der Jugendpartei-Präsident Maks Woroszylo auf Facebook ein Foto von sich aus dem Parlament. Fernand Kartheiser kommentierte, hier bleibe er bald für die nächsten fünf Jahre. „Mee oppassen op Parteifeinden“, riet Roy Reding dem jungen Politiker. Er meinte damit die internen Feinde. Er selbst ist derweil zu einem externen Feind mutiert: Mit seiner neuen Bewegung Liberté - Fräiheet! wird er am 8. Oktober in allen Bezirken antreten. Vergangenes Wochenende veröffentlichte er ein unausgegorenes Manifest auf Facebook; er notierte seine Staatsaversion sowie ein paar Gedanken, die ihm durch den Kopf sausten: „Firwat mécht de Staat der Privatindustrie ëmmer méi Konkurrenz? De Staat soll sech op seng Käraufgaben konzentréieren! Ass et normal dat mir nees all Angscht virun engem drëtten Weltkrich mussen hunn? Wëlle mir eng offen oder eng zou’en Gesellschaft? Eng méi einfach Immigratioun vun Aarbechswëllegen?“

Die Nord-Liste von Liberté – Fräiheet! war rasch gefüllt. Anfang Juli waren Steve Schmitz, Guy Arend, Steve Lamberty und der Vizepräsident des ADR-Nordbezirks Marcel Bernardy aus der Partei ausgetreten, weil Fred Keup und Fernand Kartheiser die Listenaufstellung des Nordens mitbestimmten. Laut den Parteistatuten ist eine Listenzusammensetzung durch bezirksexterne Mitglieder jedoch nicht vorgesehen. Vor allem Steve Schmitz und Guy Arend waren empört, dass sie nicht mit der ADR antreten konnten. Ob sie sich Roy Reding anschließen, wollten sie noch nicht kommentieren – gut möglich aber, dass die Enttäuschten nun die neue Freiheits-Bewegung unterstützen. Zuvor gab es wohl Spannungen, weil der Adrenalin-Präsident den Waffengebrauch zur Selbstverteidigung befürwortete und der CFL-Angestellte Steve Schmitz diese Position mit Blick auf die ADR-Kritik gegenüber Waffenlieferungen an die Ukraine als doppelbödig verurteilte.

Im Norden ist man sich sicher, dass die ADR wegen des rezenten Trubels um die Wahllisten an Stimmen verlieren wird. Gerüchten zufolge seien in den vergangenen Wochen bereits um die 100 Mitglieder ausgetreten. Vielleicht aber hilft die Rausnörgelei dem ADR, weil sie nun mit ideologisch gestrafftem Profil in den Wahlkampf tritt. Auf dem ADR-Sommerfest Anfang Juli freute sich der Parteipräsident über die 350 Anwesenden. Letztes Jahr seien nur 250 gekommen, der Anstieg spiegele den Zulauf zur ADR. Mittlerweile zähle die ADR um die 1 800 Mitglieder. Bei den Gemeindewahlen hat sie verhältnismäßig gut abgeschnitten. „Bei uns knallen die Sektkorken“, sagte Fred Keup dem Wort am Wahlabend im Juni. Fraktionssekretär Michel Lemaire konnte in Klerf ein Mandat erringen und in Kayl, wo die ADR erstmals antrat, wurde ein ADR-Mann in den Gemeinderat gewählt. Unter anderem in Wintger, Käerjeng, Bettemburg und Esch konnte die Partei ihre Mandate verteidigen. In Luxemburg-Stadt zog Tom Weidig mit 2 521 Stimmen in den Stadtrat ein. Allerdings schmeichelt es vielen, die während der Pandemie begannen ihr Ich als absolut zu setzen, wenn Roy Reding „Freiheit“ dazwischen grätscht. Und auf diese Wählerschaft haben es beide Gruppierungen abgesehen.

Stéphanie Majerus
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