Der Tumult um die umstrittene Rentenreform ist noch nicht abgeebbt, da prescht der französische Präsident schon mit dem nächsten Reformprojekt hervor. Emmanuel Macron wagt sich an sein zweites großes Wiederwahlversprechen: bis 2027 soll im Land Vollbeschäftigung erreicht werden. Seit seinem Amtsantritt hat er es geschafft, die Arbeitslosenquote von zehn auf momentan 7,3 Prozent zu drücken, nun soll sie in den nächsten Jahren unter fünf Prozent fallen. Dazu setzt Macron auf verschiedene Maßnahmen, die in einem Arbeitsgesetz gebündelt werden, dessen Entwurf Premierministerin Elisabeth Borne zufolge Anfang Juni vorgestellt werden soll. Ein zentraler wie umstrittener Punkt ist dabei die Neugestaltung der Arbeitsvermittlung. Aus der bisherigen Agentur Pôle emploi soll ab 2024 die zentrale Anlaufstelle France Travail werden, damit Arbeitssuchende schneller und effizienter beraten und vermittelt werden.
Besonders brisant: Auch die Grundsicherung RSA, die vor allem Langzeitarbeitslose und Alleinerziehende in Anspruch nehmen, soll im Zuge der Umstrukturierung zukünftig an strengere Konditionen geknüpft werden. Ein von der Regierung in Auftrag gegebener Bericht schlägt vor, dass sich alle RSA-Empfänger/innen bei der Arbeitsvermittlung anmelden müssen und sich verpflichten, 15 bis 20 Stunden pro Woche in Ausbildung oder Arbeitssuche zu investieren, um das Solidaritätseinkommen zu behalten. Schon im Wahlkampf hielt Macron fest, es müsse bei der Sozialleistung Pflichten und Rechte geben. Auch soll für alle RSA-Empfänger/innen zukünftig die Anmeldung bei der Arbeitsvermittlung obligatorisch werden. Bisher sind aber nur rund 40 Prozent der 1,8 Millionen Betroffenen auch bei dieser angebunden. Der französische Wirtschaftsberater Denis Maillaird ist skeptisch: „Es ist einfach, per Gesetz die Zuschüsse an Arbeit zu knüpfen, es ist deutlich schwieriger, diese Arbeit auch bereitzustellen oder zu finden.“ Vor allem müsse man hier „Absichten und Realität miteinander vereinen“. In Deutschland klingen die Forderungen der Regierung wohl allzu bekannt. Orientiert sich der französische Präsident etwa am Umstrukturierungsdrang und „Fördern und Fordern“-Prinzip der Hartz-Reformen?
Dominik Grillmayer vom Deutsch-Französischen Institut hat daran Zweifel: „Ich glaube nicht, dass es vergleichbar ist, weil die Hartz-Reformen doch sehr viel weiter gingen und der Arbeitsmarkt sehr viel flexibler gestaltet wurde mit einer extremen Ausweitung von Zeitarbeit.“ In Frankreich, so Grillmayer, liege der Fokus momentan vor allem darauf, die staatliche Arbeitsvermittlung neu zu strukturieren, da es hier erhebliches Verbesserungspotential gibt. Trotzdem: „Von der Philosophie her, geht das in dieselbe Richtung und das hat sich in den letzten Jahren abgezeichnet.“ Seit seinem Amtsantritt 2017 hat Macron das Land wirtschaftlich vorangebracht, doch oft auf Kosten des Sozialstaates: der Kündigungsschutz wurde gelockert und erst im Februar die Bezugsdauer der Erwerbslosenversicherung um bis zu 25 Prozent reduziert. Doch dass Macron jetzt den sozialen Kahlschlag wagt, daran glaubt auch Denis Maillard nicht so recht: „Die Hartz-Reformen gelten hierzulande als neoliberale Schockdoktrine, ich glaube nicht, dass Macron sich diese zum Vorbild nimmt. Wieso auch? Das Wirtschaftssystem funktioniert und braucht keine drastischen Eingriffe.“ Tatsächlich ist es dem Präsidenten gelungen die hohe Erwerbslosigkeit zu reduzieren, durch kluge Investitionen die Jugendarbeitslosigkeit zu senken und die Wirtschaft von vielen bürokratischen Lasten zu befreien.
Für Maillard sind die jetzigen Reformanstöße vielmehr ein politisches Zeichen. „Es gibt in den verschiedenen Gesellschaftsmillieus das Gefühl, dass sich ein Schmarotzertum ausbreitet.“ Macron wolle dem entgegenwirken und sicherstellen, dass alle sich beteiligen. Ende März noch warnte der Präsident in einem Interview: „Viele Arbeiter/innen beklagen, dass wir von ihnen mehr Leistung fordern, während andere gar nicht arbeiten.“ Auch Innenminister Gerald Darmanin fand klare Worte: „Wenn RSA-Bezieher/innen nicht wieder ins Arbeitsleben zurückfinden wollen, ist es normal, dass wir sie sanktionieren.“ Dass die Reform nun quasi ins Ende der Protestflut gegen Macrons Rentenprojekt fällt, dürfte kein Zufall sein. Der Präsident will nach vorne blicken, die Themen Arbeit und Vollbeschäftigung zu den großen Baustellen seiner zweiten Amtszeit machen. Auch deshalb kündigte er kürzlich in einer TV-Ansprache einen „Pakt für das Arbeitsleben“ an, der in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern entstehen und die Arbeitsbedingungen verbessern soll. „Der Protest gegen die Rentenreform hat gezeigt, dass die Menschen unzufrieden mit ihren Arbeitsverhältnissen sind“, sagt Maillard, „bisher fand das Thema nur wenig Beachtung beim Präsidenten, nun versucht er es zusammen mit der Vollbeschäftigung anzugehen“. Bis zum 14. Juli will Macron eine erste Beschlusslage vorstellen. Die Gewerkschaften sind seiner Einladung in den Elysée-Palast bisher nicht gefolgt, zu schwerwiegend ist das Zerwürfnis, das durch das Rentendrama entstanden ist. Die Sozialpartner lassen sich nicht von Macrons Reformeifer unter Druck setzen. Die präsidiale Hauruck-Politik erweckt eher den Eindruck, dass Macron die Bedürfnisse der Arbeitnehmer/innen dem Ziel der Vollbeschäftigung unterordnet und der gesellschaftliche „Pakt“ am Ende mehr Besänftigungstaktik als Zugeständnis ans Volk wird. Schon lange genießt der Präsident nicht mehr das Vertrauen seiner Bevölkerung: Einer jüngsten Umfrage des Journal du Dimanche zufolge, sind 74 Prozent der Befragten unzufrieden mit seiner Politik, 47 Prozent sogar sehr unzufrieden. Ein bisheriger Rekord.
„Man kann sich die Frage stellen, ob diese Initiativen nun zum richtigen Zeitpunkt kommen und von der Bevölkerung als Verbesserung ihrer Lebenssituation wahrgenommen werden“, sagt Dominik Grillmayer. Vieles deute darauf hin, dass Macron sich von der Maxime „sozial ist, was Arbeit schafft“ leiten lässt. Mehr und vor allem bessere Arbeit schaffen – der Präsident bleibt den Beweis noch schuldig, dass er diesen Spagat meistern kann.